Ein Weiser ohne Wissen und die Gierigen ohne Gewissen

Donal Ryans „Die Sache mit dem Dezember“ zeigt die Essenz der Dinge durch die Augen eines vermeintlich Unwissenden

Von Duygu MausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Duygu Maus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Donal Ryans zweiter Roman spielt in einer irischen Kleinstadt zu Zeiten des sogenannten „Celtic Tiger“. Während sich die wirtschaftliche Situation des Landes stetig verbessert, ist John „Johnsey“ Cunliffes Leben eine Aneinanderreihung von tragischen Ereignissen.

Der Leser erfährt aus der Innensicht Johnseys wie innerhalb eines Jahres seine Eltern sterben und er alleine mit der Verantwortung für die elterliche Farm ringt, die zum Zwecke des wirtschaftlichen Aufschwungs der Region verkauft werden soll. Das Spannende hierbei: Johnseys Blick auf die Welt ist ein naiver. Er ist ein Außenseiter, der bereits bei simplen zwischenmenschlichen Interaktionen an seine Grenzen stößt.

Doch anstatt auf Verständnis und Einfühlungsvermögen trifft Johnsey zumeist auf Abweisung in der Kleinstadt. Sein Vorgesetzter im Supermarkt tyrannisiert ihn verbal und die arbeitslosen Jugendlichen, die ihm auf seinem Heimweg auflauern, schlagen so lange auf ihn ein, bis er ins Krankenhaus eingeliefert wird.  

Allein die Familie Unthank unterstützt ihn nach dem Tod der Eltern. Das Ehepaar schenkt ihm die Zuwendung, die er nach seinem Verlust so dringend braucht. Doch Johnsey ist erfüllt von Selbstzweifeln und Selbsthass. Er ist überzeugt davon, dass er die Freundlichkeit dieser Menschen nicht verdiene. Als er schließlich auch noch erfährt, dass sie Befürworter des Bauprojektes sind, welches den Verkauf seiner Farm bedeuten würde, zieht sich Johnsey völlig in sich selbst zurück. „Und er zwinkerte Johnsey verschwörerisch zu, und Johnsey lachte, und Sie fragte, worüber die beiden denn so lachten, während sie Tupperdosen mit Abendessen aus dem Bluebird holte und in den Kühlschrank stellte, und alles war gut und normal und trotzdem für immer kaputt.“ Donal Ryan erschafft einen naiven Protagonisten, der jedoch gleichzeitig auf authentische Weise feinfühlig seiner Umwelt gegenüber ist.

Immer wieder kreisen Johnseys Gedanken um die Möglichkeit des Suizids. Der Ton der Erzählung bleibt hierbei jedoch immer eine Mischung aus Komik und Dramatik, wodurch sie die Empathie des Lesers weckt, ohne rührselig zu wirken:

„Und dann würden Eugene Penrose und der Rest der Schmarotzerjungs auftauchen, weil sie gesehen hatten, wie die Feuerwehr ausrückte. Am Ende würde das ganze Dorf auf dem Hof Schlange stehen, um einen Blick durch die Tür auf den fetten Idioten zu werfen, der mit gebrochenem Arm und komisch verdrehtem Bein im Kuhstall auf dem Boden lag und mit hochrotem Kopf und verquollenem Gesicht heulte wie ein Kleinkind, die Schlinge noch immer um den Hals, und dann würden sie mit dem Finger auf ihn zeigen und den Kopf schütteln und die Augen verdrehen, bis endlich jemand Nettes kam und der Sache ein Ende bereitete […] und diese Nettigkeit würde ihn noch tiefer treffen als das Gelächter der anderen, weil er sie nicht verdient hatte, und das wusste derjenige auch und war trotzdem nett.“

Während seines Krankenhausaufenthaltes nimmt Johnseys Leben eine Wendung. Hier begegnet er „Nuschel-Dave“, einem älteren Mann mit sprudelndem Wesen und zahllosen Anekdoten. Äußerlich scheint er zunächst das Gegenteil zu dem ruhigen Johnsey darzustellen, doch erkennt der Leser schnell, dass auch Daves Leben von Einsamkeit bestimmt ist. Als ungleiches Paar durchstreifen sie nun die Stadt und Johnsey empfindet nach langer Zeit so etwas wie Glück. Doch die Idylle zerbricht als Siobhán, die wohl am ehesten als die Femme fatale des Romans bezeichnet werden dürfte, in Johnseys Leben tritt. Die Handlung gewinnt nun deutlich an Geschwindigkeit. Während die Konflikte zwischen Dave und Siobhán zunehmen, wächst auch der Druck der Gemeinde auf Johnsey. Das Bauprojekt soll verwirklicht werden, weswegen nun Journalisten beginnen Lügen über den Landbesitzer zu verbreiten. Der junge Mann handle aus Habgier, so die Anschuldigungen. Niemand möchte erkennen, dass Johnsey nicht aus finanziellen Gründen, sondern aus Treue gegenüber seiner verstorbenen Familie den Verkauf des Landes verweigert.

Johnseys Beobachtungen sind in hohem Maße feinfühlig und seine Handlungsmotive sind moralischer Natur, doch ist er nicht fähig seine Gedanken- und Gefühlswelt anderen gegenüber zu artikulieren. Seine Mitmenschen wiederum, angetrieben von einer anfeindenden Berichterstattung der Medien, versuchen nicht ihn zu verstehen. Geblendet von der Verheißung auf Profit durch die Umbaumaßnahmen erklären sie ihn zum Prügelknaben der Stadt. Die fehlende Kommunikation zwischen Johnsey und den Menschen in seinem Umfeld endet letztlich in einer unerwarteten Tragödie.

Der Roman ermöglicht einen naiven Blick auf eine Gesellschaft, deren einziger Wert der wirtschaftliche Aufschwung ist und stellt moralische Fragen, die den Leser noch weit nach der Lektüre beschäftigen. Ryans Roman überzeugt aufgrund authentischer Charakterbeschreibungen und eines wundervollen Schreibstils.

Titelbild

Donal Ryan: Die Sache mit dem Dezember. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll.
Diogenes Verlag, Zürich 2015.
262 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783257069273

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