Meister des scharfen Schnitts

Julian Schütts vollendet unvollendete Max Frisch-Biographie

Von Irina HronRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irina Hron

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der letzte Satz, mit dem Julian Schütt seine nahezu sechshundert Seiten starke Biographie über Max Frisch beschließt, formuliert ein wiederkehrendes und sowohl die Vita als auch das Werk strukturierendes Motiv: „Das war ein Anfang, den ließ er gelten.“ Rechtzeitig zum einhundertsten Geburtstag des Schweizer Schriftstellers im Mai 2011 erschien Schütts Rekonstruktion eines künstlerischen Werdegangs, mit der sich der Verfasser auf die Suche nach dem verwischten Anfang von Max Frischs Autorschaft macht. Doch worauf er – und mit ihm der Leser – stößt, ist eine wiederkehrende Aufeinanderfolge von Anfängen, die durch Schütts Darlegung eine zwingende Kohärenz gewinnt, und die aus dem Bild vom erst nach und nach zum Schreiben findenden Autor die Geschichte eines stillen, aber steten ‚Aufstiegs‘ macht, wie es bereits der Untertitel der Biographie andeutet. Auch dieser Umstand rechtfertigt eine extensive Beschäftigung mit dem Leben und Schreiben eines Autors, dem die Biographie als Gattung zeitlebens als „Inbegriff des Unlebendigen“ galt.

Doch erhebt Schütt keineswegs Anspruch darauf, eine komplette Biographie vorzulegen. Vielmehr konzentriert er sich auf die prägenden Jahre zwischen 1911 und 1954 – und bricht seine Ausführungen jäh mit dem Jahr 54 ab. Es ist das Jahr, in dem Frisch seinen Stiller abschließt – jenen Roman, der ihm (auch international) zum Durchbruch verhelfen sollte. Bis zuletzt bleibt der Anfang eine unklare Denk- und Argumentationsfigur, beispielsweise wenn der Verfasser das „eigentliche Geburtsdatum“ des Autors Max Frisch mit dem Tod des Vaters im März 1932 zusammenfallen lässt. Konsequent jedoch bleibt er der von Frisch fortwährend auf neue Formeln gebrachten Sehnsucht, „immer wieder neu anzufangen, altes Leben abzustreifen, sich zu häuten, ein unbekanntes Ich zu sein“, auf der Spur – obgleich diese die Aufgabe des Biographen nicht unbedingt einfacher macht.

In insgesamt sechs umfangreichen, chronologisch angelegten Kapiteln durchmisst Schütt die Jahre bis zum Stiller-Durchbruch, bevor er seine Monographie mit einem fast einhundert Seiten umfassenden Anhang – bestehend aus Abbildungen, Anmerkungen samt Literatur-, Namens- und Werkverzeichnis – abschließt. Auch der versierte Frisch-Leser wird mit einer Fülle von Details belohnt, die allesamt akribisch recherchiert und mit Belegen versehen sind: Am Anfang stehen die schwierige Beziehung zum Vater, der (dem Sohn) das Erzählen verweigert, und das ungewöhnlich enge Verhältnis zur Mutter. Kindheitserlebnisse ebenso wie die Begegnung mit Theater und Literatur während der Schulzeit werden geschildert. Auch die Bedeutung des Germanistikstudiums, angetreten mit dem Wunsch, „über die Literaturwissenschaft in die Literatur hineinzufinden“ sowie der Einfluss der ersten wichtigen Förderer – vor allem der Literaturprofessor Robert Faesi und der NZZ-Feuilletonleiter Eduard Korrodi – werden episodenreich geschildert. Schütt macht deutlich, wie der Journalismus Frisch zum Tagesgeschäft und Brotberuf wird; er beschreibt die ersten Reisen und die daraus entstehenden Reiseberichte, bevor er sich dem nach wie vor kontroversen Jungautor widmet, der sein Ich von Politischem ‚rein‘ zu halten sucht.

Gleichermaßen kritisch wie gerecht diskutiert er den Reinheitsbegriff des angehenden Dichters, macht diesen zum Synonym für die anti- beziehungsweise apolitische Haltung eines Schriftstellers, den er nicht nur in einem zeitgeschichtlichen Kontext situiert, sondern den er auch als einen mit der Realität des Feuilletonwesens konfrontierten Anfänger skizziert. Auch das private Umfeld wird ausgeleuchtet, indem Frischs Liebesbeziehungen (vor allem zu Käthe Rubensohn und Trudy von Meyenburg) sowie eine Reihe von Freundschaften offengelegt werden. Hierzu zählen vor allen Dingen die langjährige Bekanntschaft mit Werner Coninx, der ihm das Architekturstudium finanziert, „um den Vater nach[]holen [zu können]“, aber auch die spannungsreiche Verbindung zu Peter Suhrkamp. Von der Manuskriptverbrennung im Herbst 1937 ist die Rede, ebenso wie von den ‚Brotsack-Jahren‘; die kameradschaftlichen Ehejahre und der Alltag als Architekt werden gestreift – bevor Frisch sich endlich frei machen kann von der „Verdienstsklaverei“ und den Schritt in die freie Schriftstellerei wagt. Auch die Hinwendung zum besetzten Deutschland nach 1945, das vielzitierte Bildnisverbot und das arbeitsreiche Amerikajahr finden ihren Platz in Schütts Erzählen. Was dem Leser jedoch am eindringlichsten im Gedächtnis bleibt, sind die zahlreichen Belege, wie sehr sich zentrale Motive aus den späteren großen Romanen in nuce bereits in den frühesten Texten wie Jürg Reinhart, Antwort aus der Stille, J’adore ce qui me brûle oder Graf Öderland finden lassen. Bereits der ganz junge Max Frisch schreibt, so die Quintessenz, allzeit mit den „geistigen Messer[n] in Griffnähe“.

Indem Schütt sogar aus scheinbar Nebensächlichem, aus Ansichtskarten oder frühen Feuilletons, Sinnzusammenhänge für das literarische Werk des Schweizers herausliest, präsentiert er den Werdegang eines der namhaftesten deutschsprachigen Autoren in einer in ihrer Dichte bislang einmaligen Form, und gibt zudem den Blick auf eine Flut an unbekannten Briefen, Notizen und Dokumenten frei. Damit zählt diese ‚vollendet unvollendete‘ Biographie – auch vier Jahre nach ihrem Erscheinen zum Jubiläumsjahr – zu den lesenswertesten und fundiertesten Autorenbiographien, die sowohl dem Kenner als auch dem neugierig Gewordenen zum idealen „Eröffnungsspiel“ für eine vertiefte Beschäftigung mit dem Autor Max Frisch wird.

Titelbild

Julian Schütt: Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
592 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421727

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