Ohne Filter

Über Thomas Wolfes Roman „Von Zeit und Fluss. Legende vom Hunger des Menschen in seiner Jugend“

Von Roman HalfmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Halfmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1935 erschienene Nachfolger des immens erfolgreichen Roman Schau heimwärts, Engel! umspannt einen weiteren Lebensabschnitt des biographisch angelegten Helden Eugene Gant. Selbstverständlich ist das 1.200-Seiten-Werk in der grandiosen Neuübersetzung ein moderner Klassiker und gleichfalls a Gargantuen creature with great gusto of life, wie Sinclair Lewis rühmte – obgleich Autor sowie Übersetzerin den Bogen beiderseits ein wenig überspannen.

So ist der Roman 200 Seiten zu lang. Natürlich, Wolfes Darstellung des Treibens, Leidens und Reflektierens in den 1920er-Jahren zehrt geradezu vom Ausufernden, Maßlosen, dem Kleinteiligen und Peniblen. Das Wuchern ist Programm. Da finden wir zu Beginn etwa den Helden umringt von seiner Familie auf dem Bahnsteig, bereit zur Abfahrt nach Harvard, bereit also für ein neues Leben fern der niederschmetternden Enge des im Vorgänger so grandios geschilderten Kleinstadtdaseins: Das Leben, es wartet. Nein, es wartet nicht, es wirft sich dem sehnsüchtigen Helden mit aller Macht entgegen. Selbst dort, auf dem kleinen, nichtssagenden, staubigen Bahnsteig, drängt Eugene sich die Welt ungefiltert und als gnadenlos zerrissen auf: Menschen quasseln ungestüm Unzusammenhängendes daher, die Schwester witzelt und weint zugleich, diverse Gerätschaften lärmen, heißes Öl und Rauch ausstoßend, Zeit vergeht und von ganz hinten strömen Bekannte heran, stoßen den Helden beiläufig um, verschwindend, sich dann wieder aus dem Wust herausschälend, dumme Scherze machend – da aber beginnt erst die Reise für den jetzt schon fassungslosen Gant, die über New York, diverse Landhäuser und unzählige Bekanntschaften schließlich gar nach Europa führen wird. Und stets schaut Eugene, alles vorbehaltlos aufsaugend und sich als winzigen Partikel inmitten des wüsten Treibens erkennend, kaum fähig, den Verstand zu bewahren angesichts des überwältigenden Verrinnens von Zeit, Ereignis und Kraft. Mühsam dann die nächtlichen Versuche, den eigenen Standort in all seiner Fragilität zu beschwören und, vor allem, zu erhalten.

Wolfe hat die Welt wohl tatsächlich so gesehen: ohne jeden Filter, ohne Begrenzungen. Und hat es wahrhaftig geschafft, eine derart enervierende, im Grunde unerträgliche Sichtweise genau so zu Papier zu bringen – es muss ein manisches Schreiben gewesen sein, das hektisch-verzweifelte-triumphierende Stenographieren eines Bewusstseinsstroms, der aus jedem Detail einen Mythos zu entflechten vermochte, zugleich jeden modernen Mythos in winzigste Details zerhämmerte; und derweil niemals Ruhe fand, nicht einmal zum Atemschöpfen. Selbst im Zugabteil lockt ja der Blick in die express wechselnde Welt, ist jedes einsame Licht in dunkler Nacht ein Anlass zum Kopfzerbrechen: Wer lebt dort, wo genau, wie nun und warum überhaupt, und auch: Was denkt dieser Einsame wohl über den Zug, über ihn, den Reisenden, der über den anderen grübelt. Tausend Fragen also und dahinter tausend mehr.

Als Wahnsinniger ist Wolfe zur Legende geworden: Als einer, der unablässig schrieb, las, schrieb und las und las, hierbei seine eigene Literatur mit Intertextualität so anreicherte, dass die einzelnen Sätze gar zu Romanen, mindestens Novellen zu werden drohten, steckt doch letztlich in jeder Aussage eine unerhörte Begebenheit; als derjenige zudem, der den gigantischen Wust von Zetteln, Notizen, Papieren im Stile eines Kraftmeiers dem Verleger auf den Schreibtisch drosch, „Hier ist mein Roman!“ dröhnend – und der im Alter von 38 Jahren viel zu früh starb, ein gigantisches, rätselhaftes, wundersames Werk hinterlassend. 

Wobei das größte Wunder wohl ist, dass dieses Werk überhaupt existiert, dass sich, keine geringe Leistung auch dies, immerhin ein Mensch fand, der die Brillanz erkannte und veröffentlichte. Ganz zu schweigen von einem Publikum, das bis heutzutage dem Autor geradezu sklavisch ergeben scheint. Kein Zweifel, es ist ein Wolfe-Kult im Schwange, allerspätestens seit den kongenialen, über so gut wie allen Zweifeln erhabenen Neuübersetzungen Irma Wehrlis auch in Deutschland. Da mag es frevelhaft anmuten, stimmt man nicht ganz so bereitwillig in den allgemeinen Tenor ein, doch es muss gesagt sein dürfen, was für den Vorgänger und auch den Nachfolger Die Party bei den Jacks nicht gilt: Dieses Buch jedenfalls ist zu lang. Es fehlt schmerzlich an einem gescheiten Lektor, der dem maßlosen Autor beisteht und Redundanzen tilgt, arg selbstverliebte Abschweifungen erdet und manch belanglose Reflexion hinterfragt – ja, da lasse ich mich auch mit Hinweisen auf ein „ausgeklügeltes ‚leitsemantisches‘ und ‚leitsyntaktisches‘ Kompositionsprinzip“ im Nachwort nicht beirren: 200 Seiten, mehr müssten nicht fort, dann aber wäre der Roman perfekt.

Virtuos wiederum ist die Neuübersetzung, der es zum ersten Mal gelingt, den Schorf des Geburtsvorgangs und die immens bedeutsame Zerrissenheit in der Darlegung eines sich ständig vor den Augen des Betrachters zerfasernden Daseins adäquat zu übertragen. Man lege etwa zwecks Prüfung die Übersetzung des Dichters Hans Schiebelhuths aus dem Jahr 1936 daneben und überfliege die wundersame Geschichte von Bascom Pentland, die in der Neuübersetzung ab Seite 144 anhebt und einen der vielen Höhepunkte markiert (weshalb man sie auch nicht überfliegen kann, sondern sogleich in ihr versinkend den gesamten Roman nochmals lesen möchte); man wird feststellen, dass die fein gestaltete Episode endlich so bittersüß strahlt, wie der Autor sich das auch gedacht hat. – An anderer Stelle jedoch haben Übersetzerin und Verlag, wohl im Sog ihres Autors, den Bogen eindeutig überspannt und sorgen für Verärgerung: Ich meine die Anmerkungen, die einige Bezüge und historische Ereignisse erklären sollen, jedoch recht willkürlich verfahren, hin oder wieder gar bass erstaunen ob der Einschätzung der Leserschaft von Seiten der Verantwortlichen.

So ist noch hinnehmbar, dass ein Gespräch über aktuelle politische Ereignisse von Fußnoten gespickt ist (obgleich ich durchaus der Meinung bin, dass ein Leser, der sich ernsthaft mit einem literarischen Werk beschäftigt, etwaige Wissenslücken eigenständig füllt), abstrus wird es aber, wenn Wolfe ein Gebäude im Vorüberschreiten als georgianisch im Stil beschreibt und eine Anmerkung mir erklärt: „Klassizistischer Architekturstil des 18./19. Jh., nach dem engl. Hannoveraner-Königen namens George benannt.“ Solche Hinweise gibt es zuhauf und das ist weder hilfreich noch erhellend, sondern einfach nur neunmalklug und stört den Lesefluss enorm, sollte also bei einer Neuauflage dringend bearbeitet, nämlich entschlackt werden.

Titelbild

Thomas Wolfe: Von Zeit und Fluss. Legende vom Hunger des Menschen in seiner Jugend. Roman.
Aus dem Amerikanischen übersetzt und umfassend kommentiert von Irma Wehrli.
Manesse Verlag, Zürich 2014.
1200 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783717523260

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