Dem Einfluss von Geschwistern auf der Spur

Susann Sitzler untersucht in ihrem Buch „Geschwister“ die „längste Beziehung des Lebens“

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das liest sich so einfach und leuchtet unmittelbar ein: Die Beziehung zu unseren Geschwistern ist die längste unseres Lebens. Sie beginnt mit der Geburt – der eigenen, wenn die Schwester, der Bruder älter sind, oder derjenigen des Geschwisters, wenn dieses jünger ist. Vielfach ist die Ankunft des neuen Menschen mit starken Gefühlen verbunden: Zwar erinnere ich mich nicht mehr, wie mir zumute war, als meine drei Jahre jüngere Schwester zur Welt kam. Sehr wohl sehe ich mich aber noch, als wir – das waren meine Eltern und meine beiden älteren Schwestern – jeweils am Sonntag rund zwei Stunden mit dem Auto zu ihr ins Krankenhaus fahren mussten, nachdem eine schwere Operation notwendig geworden war. Warum nur hatten alle solche Freude an diesem in der Regel schreienden Bündel hinter Glas? Ich jedenfalls wäre viel lieber zu Hause geblieben. Als sie älter war und längst wieder mit uns zusammen, wollte mir überhaupt nicht in den Kopf, warum bei ihr so eine Geschichte gemacht wurde, wenn sie endlich einen Löffel Brei schluckte, während es bei mir jeweils hieß, warum nur hast du immer Hunger.

Ich gebe es gerne zu, dieses Buch hat mir die Augen geöffnet. Nicht nur, dass es Erinnerungen wieder an die Oberfläche holte, die ich längst vergessen glaubte. Vielmehr wurde mir so einiges klar. In fünf Teilen geht die Journalistin Susann Sitzler, die 1970 in Basel zur Welt kam und seit 1993 in Berlin lebt, dem Phänomen „Geschwister“ nach: Sie zeigt auf, wie vielfältig Geschwisterbeziehungen sein können. Da sind die Schwestern, die nichts erleben, ohne dass sie sich gleich ausführlich gegenseitig informieren. Ihnen steht der Mann gegenüber, der seit Jahrzehnten nicht mehr mit seiner Schwester spricht. Erzählt wird von komplizierter werdenden Geschwisterbeziehungen, wenn Stiefschwester, Halbbrüder, Adoptivkinder dazukommen. Was Susann Sitzlers Schreibweise so überzeugend macht, ist das Fehlen von Be- oder gar Verurteilung. Sie zeigt auf, was sie in vielen Gesprächen mit Freundinnen, Bekannten, Fachleuten in Erfahrung gebracht oder in aufwendiger Recherchenarbeit zusammengetragen hat. Besonders lesenswert wird dieses außergewöhnliche Sachbuch jedoch, weil die Autorin Geschichten erzählt und immer wieder auf ihre eigenen Erfahrungen zurückgreift. Wie sie zu ihren beiden Stiefbrüdern gekommen ist und dabei die Schwester verloren hat. Wie lange sie brauchte, um eine Annäherung an diese Schwester zu wagen, noch viel länger würde sie brauchen, um die drei kleinen Halbgeschwister, die Kinder ihres Vaters kennenzulernen. Gekonnt verbindet sie das Fachwissen mit den persönlichen Erfahrungen – in beiden Bereichen überzeugen ihr Erzählen, ihre Sprache. Das Interesse für die Ausführungen ist geweckt, sie schärfen den ganz persönlichen Blick in die eigene Geschichte.

Erwachsenwerden kann vieles bedeuten, und für manche ist es harte Arbeit. Susann Sitzler macht plausibel, dass Erwachsenwerden nur möglich ist, „wenn man sich von den Kinderlasten befreit“. Denn: „Fast nichts, was einen in der Kindheit negativ geprägt hat, wächst sich einfach aus. Man muss es aktiv bewältigen. […] Unter Umständen muss man im Laufe seines Lebens die Geschwister loswerden, mindestens im übertragenen Sinn. Nicht immer braucht man dazu therapeutische Hilfe. Und auf keinen Fall soll man dabei Gewalt anwenden.“ Erwachsenwerden heißt demzufolge, dass jede und jeder die Beziehung zu den Geschwistern selbst verantwortet. Susann Sitzler macht deutlich, dass dies möglich ist und dass es unterschiedlichste Wege zu diesem Ziel hin gibt, die zu suchen und zu finden wiederum eine individuelle persönliche Sache ist, und sie erzählt davon, wie lohnenswert der Prozess ist. Denn ist die Kindheit vorbei, so Sitzler, „sind Geschwister keine Pflicht mehr. Dann sind sie nur noch eine Chance. Nicht immer kann oder will man sie nutzen. Oft geht es beim Ringen um eine mögliche Versöhnung mit dem Bruder oder der Schwester auch gar nicht um die Rettung einer lebendigen, andauernden Beziehung. Sondern darum, Frieden mit dem Teil der Vergangenheit zu schließen, für den der andere steht.“ Versöhnung versteht Sitzler nicht als moralische Kategorie, und so lesen wir denn auch mit Erleichterung: „Versöhnung heißt nicht, dass danach alles gut wird. Unter Umständen kann man miteinander noch ein paar gute Stunden, Tage, Jahre oder Jahrzehnte erleben. Vielleicht aber auch nicht. Versöhnung bedeutet nur eines sicher: Danach ist einem leichter ums Herz.“

Ich glaube nicht, dass ich nach der Lektüre dieses aufregenden Buches nun mit meinen drei Schwestern über den Besuch im Krankenhaus sprechen werde, doch habe ich viel über meine Verhaltensweisen und Reaktionen meinen Schwestern, aber auch anderen Menschen gegenüber gelernt. Wenn dadurch etwas in der längsten Beziehung meines Lebens in Bewegung gerät, freue ich mich.

Titelbild

Susann Sitzler: Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2014.
352 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783608948011

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