Eine Dolchstoßlegende für den Genozid

Jürgen Gottschlichs Buch „Beihilfe zum Völkermord“ handelt von der Rolle der deutschen Spitzenmilitärs beim Massenmord an den Armeniern

Von Wolfgang GustRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Gust

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Endlich einmal wieder ein Buch zu Deutschlands Rolle beim Völkermord an den Armeniern, das neue Erkenntnisse bringt. Jürgen Gottschlich, Türkei-Korrespondent der Berliner Tageszeitung „taz“, hat in türkischen und deutschen Archiven nach Spuren der deutschen Militärs bei der Durchführung des Völkermords gesucht und ist fündig geworden – allerdings nur in den deutschen Archiven. Interessant aber ist trotzdem, was er über die türkischen Archive schreibt, denn er räumt gründlich auf mit der offiziellen Version, die türkischen Archive seien für alle Welt offen. Sind sie eben nicht und für dort lagernde deutsche Dokumente erst recht nicht. Als der Autor nach aufwendigen Bestellungen und mehreren Wochen Warten schließlich eine CD mit ausgewählten Dokumenten in Osmanisch erhielt, musste er feststellten: „Jeder noch so indirekte Hinweis auf die Situation der Armenier war aussortiert worden. Kein Dokument zur Einschätzung ‚armenischer Umtriebe‘, keine deutsche nachrichtendienstliche Erkenntnis.“ Aber einige Dokumente hatten den Stempel „Geheim“ – auf Deutsch.

Jürgen Gottschlich machte sich daraufhin in Deutschland – vor allem im Freiburger Militärarchiv und im Bayrischen Hauptstaatsarchiv – auf die Suche nach neuem Material und wurde fündig. Er konzentrierte sich besonders auf die deutschen Offiziere, die in der Deutschen Militärmission im Osmanischen Reich, der deutschen Botschaft in Konstantinopel und im türkischen Generalstab die Fäden zogen, nicht nur bei der Kriegsführung der Jungtürken, sondern auch bis der Deportation und Vernichtung der Armenier und Griechen. Dabei arbeitete er besonders den Konflikt heraus, den die deutschen Offiziere besonders mit dem Chef der Militärmission, Otto Liman von Sanders, hatten. Liman, so sagte es einer der ranghöchsten deutschen Offiziere der Mission, Friedrich Kress von Kressenstein, sei „unfähig gewesen, sich in die Gedankenwelt des Orientalen einzufühlen“. Er sei „selbstbewußt und eitel, temperamentvoll und jähzornig, mißtrauisch und empfindlich gewesen, kurz für den Posten denkbar ungeeignet“.

Diese Einschätzung wurde von nahezu allen Deutschen in der damaligen Türkei geteilt, allen voran vom Botschafter Freiherr Hans von Wangenheim, der es möglichst vermied, Liman überhaupt die Hand zu geben. Andererseits war Liman der einzige deutsche Offizier, der sich wirkungsvoll für die Rettung von Armeniern in Smyrna einsetze, auch, vermutlich nur, weil die von der Vernichtung bedrohten Armenier im heutigen Izmir in seinem operativen Einflussbereich lagen. Zwiespältig war da die Haltung des wohl bekanntesten deutschen Spitzenoffiziers, Colmar von der Goltz, der zwar im Südosten des Osmanischen Reichs einige Armenier vor der Vernichtung rettete, zuvor der angeblich der Deportation (nicht der Vernichtung) der Armenier nach Mesopotamien zugestimmt haben soll. Diese Einschätzung ist in der Literatur über den Genozid verbreitet, weil der Altvater der Forschung des Völkermords an den Armeniern, Vahakn Dadrian, sie nach Hörensagen aufgestellt hat. Doch bleibt die Rolle auch dieser besonders für die Türken wichtigen Figur im deutsch-türkischen militärischen Bereich noch sehr im Dunkeln.

Ganz konkret und von Gottschlich bestens belegt ist hingegen die generalstabsmäßige Kärrnerarbeit deutscher Offiziere auch zur Durchführung des Völkermords an den Armeniern, allen voran vom Marineattaché an der deutschen Botschaft, Hans Humann und dem Generalstabchef des türkischen Heeres, Friedrich Bronsart von Schellendorf. Die Berufung Bronsart von Schellendorfs sollte für die Armenier im Land weitreichende Folgen haben“, schreibt Gottschlich und beruft sich auf den amerikanischen Botschafter in Konstantinopel, Henry Morgenthau, der ihn als „bösen Geist Envers“ bezeichnete.   

Tatsächlich waren deutsche Generalstabsoffiziere enge Vertraute des türkischen Kriegsministers Enver Pascha, dem „großen Trumpf des Deutschen Reiches, um die Türkei im Krieg auf seine Seite zu ziehen“, wie Gottschlich schreibt. Der zum Marinechef avancierte deutsche Admiral Souchon hatte vor allem mit Hilfe der beiden deutschen Schiffe „Goeben“ und „Breslau“, die sich vor der überlegenen Entente-Flotte in türkische Gewässer retten konnten, die Russen im Schwarzen Meer – gedeckt durch Enver – so lange provoziert, bis es im Spätherbst 1914 zum Krieg zwischen Russland und der Türkei kam.

Mit einem großen Angriff der im Nordosten, dem Hauptsiedlungsgebiet der Armenier, stationierten III. Armee – der als deutsche Offiziere neben Bronsart auch der spätere Operationschef Otto von Feldmann und als Armee-Stabschef Felix Guse angehörten – gegen die Russen wollte sich Enver profilieren, nachdem Liman von Sanders vor dem Feldzug gewarnt hatte, weil er ungenügend vorbereitet sei. „Es kam wie es kommen mußte“, schreibt Gottschlich, „ohne ausreichende Transportmittel, ohne Winterkleidung und nur schlecht mit Nahrungsmitteln versorgt, blieben die Soldaten im tiefen Schnee stecken. Einige fielen im Kampf, aber der größte Teil erfror elendig, verhungerte oder fiel Krankheiten zum Opfer. Bis Mitte Februar 1915 waren 90000 der 100000 Mann starken III. Armee tot.“ Diese Niederlag bei dem Städtchen Sarikamisch (Sarikamis) sollte für die Armenier tödlich sein.

Denn die selbst verschuldete Niederlage münzten Enver, Bronsart & Co in einen Großverrat der Armenier um. „Eisern hielt in den folgenden Jahren das verhängnisvolle deutsche Trio von Sarikamis an dieser Legende fest“, schreibt Gottschlich, „und rechtfertigte hartnäckig die Vertreibung und Vernichtung der armenischen Bevölkerung mit dieser Dolchstoßlegende, die armenische Bevölkerung sei der Truppe bei Sarikamis in den Rücken gefallen“.  

Im Nachlass von Bronsart fand Gottschlich ein Dokument, in dem der deutsche Generalstabschef bereits im Februar 1914 – also lange vor Kriegsbeginn – alle Vorbereitungen für die türkische Mobilmachung getroffen hatte. Für Gottschlich ein wichtiger Hinweis dafür, dass Bronsart auch den Völkermord an den Armeniern generalstabsmäßig vorbereitet und – zumindest teilweise – auch durchgeführt hat, auch wenn es dafür bislang kein Dokument gibt. „Natürlich hat Bronsart die Pläne dazu gemacht“, habe ihm der Doyen der türkischen Historiker, Ilber Ortayli, gesagt, „Enver und die anderen Dilettanten im Komitee für Einheit und Fortschritt wären dazu gar nicht in der Lage gewesen“. Bei aller Vorsicht mit Schuldzuweisungen türkischer Historiker an Deutschland, wie sie schon während des Weltkriegs mehrmals vorkamen und derzeit wieder auftreten, spricht einiges für Gottschlichs Vermutung einer deutschen generalstabsmäßigen Hilfe bei der Durchführung des Völkermords an den Armeniern.

Als Auslöser für die Deportationen und Vernichtungsaktionen gegen die Armenier werden gemeinhin die Ereignisse im April 1915 in Van angesehen, der einzigen Stadt in der Türkei, in der die Armenier die Mehrheit stellten. „Es gibt wohl keinen anderen Ort in der Türkei, bei dem sich die Erinnerungen an die Geschehnisse so diametral widersprechen wie die der ehemaligen armenischen und türkischen Bewohner von Van“, schreibt Gottschlich. Für die Armenier nahm der Völkermord dort seinen Anfang, für die türkischen Bewohner seien die Armenier mordend durch die türkischen Dörfer gezogen. Für die meisten ausländischen Augenzeugen war Van ein Abwehrkampf der Armenier inklusive späterer Racheakte. Denn „im Unterschied zu anderen Orten gab es in Van genügend Armenier“, so Gottschlich, „um sich erfolgreich zur Wehr zu setzen und sogar zum Gegenangriff überzugehen“. 

Gut informiert über die wirklichen Ereignisse war das armenische Patriarchat und auch der amerikanische Botschafter, der sich auf Berichte seiner Landsleute auch im Osten stützen konnte. Ein deutsches Konsulat gab es nicht in Van und dort waren auch keine deutschen Offiziere stationiert, die ihre Kollegen hätten informieren können. So kam es, dass Bronsart & Co „ungeprüft in vollem Umfang die Version übernahmen, die ihnen ihre türkischen Bündnispartner offerierten“, schreibt Gottschlich. Diese Übernahme der jeweiligen türkischen Version wurde fortan die Regel für die deutschen militärischen Entscheidungsträger in der Türkei.

Ein besonders aussagefähiges Dokument führt Gottschlich ein, das bislang in der wissenschaftlichen Diskussion übersehen worden ist (auch von mir) und in voller Länge in einem Buch von Yetvart Ficiciyan zu finden sein wird, das Ende April im Bremer Donat-Verlag publiziert werden wird. Es ist ein Brief von Bronsart von Schellendorf an die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ vom 24. Juli 1921, in dem der ehemalige Generalstabschef im Zusammenhang mit dem Teilirian-Prozess in Berlin von einem „gefährlichen Aufstand in den östlichen Grenzprovinzen der Türkei“ schreibt. Dieser sei „von langer Hand vorbereitet, wie die zahlreichen Funde an gedruckten Aufrufen, aufhetzenden Broschüren, Waffen, Munition, Sprengstoffen usw. in allen von Armeniern bewohnten Gegenden beweisen; er war sicher von Rußland angestiftet, unterstützt und bezahlt“.

„Da sich alle waffenfähigen Mohammedaner beim türkischen Heere befanden, war es den Armeniern leicht, unter der wehrlosen [türkischen] Bevölkerung eine entsetzliche Metzelei anzurichten“, behauptet Bronsart, „denn sie [die Armenier] beschränkten sich nicht etwa darauf, rein militärisch gegen die Flanke und gegen den Rücken der in der Front durch die Russen gebundenen türkischen Ostarmee zu wirken, sondern sie rotteten die muselmanische Bevölkerung in jenen Gegenden einfach aus. Sie begingen dabei Grausamkeiten, von denen ich als Augenzeuge wahrheitsgemäß bezeuge, daß sie schlimmer waren, als die den Türken später vorgeworfenen Armeniergreuel.“ Dass er ums reine Überleben kämpfen musste und von den wirklichen Ereignissen um sich herum nur wenig mitbekam, verschweigt Bronsart.

Weil der angebliche „Aufstand immer weiter, sogar in entfernteren Gegenden des türkischen Reiches, um sich griff, wurde die Gendarmerie zur Dämpfung des Aufstandes herangezogen. Sie unterstand dem Ministerium des Inneren. Der Minister des Inneren war Talaat, und er mußte als solcher die nötigen Anweisungen geben. Eile tat not, denn die muselmanische Bevölkerung flüchtete zu Tausenden in Verzweiflung vor den Greueltaten der Armenier. In dieser kritischen Lage faßte das Gesamtministerium den schweren Entschluß, die Armenier für staatsgefährlich zu erklären und sie zunächst aus den Grenzgebieten zu entfernen. Sie sollten in eine vom Krieg unberührte, dünn besiedelte aber fruchtbare Gegend überführt werden, nach Nord-Mesopotamien.“

„Zahlreiche Schreiben des Ministeriums des Innern an das Kriegsministerium, die mir durch meine Dienststellung bekannt wurden, verlangten dringend Hilfe von der Armee; sie wurde gewährt, soweit die Kriegslage es zuließ“, so das Ammenmärchen von Bronsart. „Nahrungs- und Beförderungsmittel, Unterkunftsräume, Ärzte und Arzneimittel wurden zur Verfügung gestellt, obwohl die Armee selbst empfindlichen Mangel litt. Leider sind trotz aller Mühe, ihr Los zu erleichtern, Tausende von muselmanischen Flüchtlingen und armenischen Ausgesiedelten den Anstrengungen der Märsche erlegen.“

Das Trio der deutschen Offiziere im türkischen Generalstab war die eine Keule in der generalstabsmäßigen Durchführung des Völkermords an den Armeniern, Korvettenkapitän und Marineattaché Hans Humann war die andere. Humann war ein enger Freund von Enver, mit dem er zusammen in Smyrna (Izmir) aufgewachsen war, – seine Schwerster Maria war mit Enver liiert – und, wie Gottschlich schreibt, „von Beginn seiner Tätigkeit an ein bekennender Armenierfeind“. US-Botschafter Morgenthau nannte ihn „mehr Türke als die Türken selbst“.  

Deutschlands Botschafter Wangenheim schickte Humann oft in heiklen Missionen zu Enver, um das Vertrauensverhältnis der beiden auszunutzen. „In der armenischen Frage war es nicht der deutsche Botschafter Wangenheim, der Kriegsminister Enver durch seinen Marineattaché beeinflußt, sondern es war genau andersherum“, schreibt Gottschlich, „im Verein mit dem Generalstabschef Bronsart von Schellendorf war es Humann, der dem Botschafter klarmachte, dass die Deportationen der Armenier notwendig und eine gute Idee seien“.

Tatsächlich berichtete Wangenheim in der Folgezeit zumeist im Sinne der türkischen Scharfmacher und entschied, so Gottschlich, „die Armenier zu opfern und ihrem Schicksal zu überlassen“. Selbst als Wangenheim im Herbst 1915 den Ton seiner verbalen Proteste verschärfte, weil ihm seine Konsuln vor Ort grauenhafte Details der Armeniervernichtung zukommen ließen, blieben sie doch immer noch im diplomatischen Rahmen. Das änderte sich, als Mitte November nach Wangenheims Tod mit Paul Graf Wolff Metternich zur Gracht ein ausgesprochen anglophiler Diplomat zum Botschafter Deutschlands in Konstantinopel ernannt wurde. Gleich in seinem ersten Gespräch mit dem türkischen Regierungschef und dem Außenminister redete Metternich in Sachen Armeniervernichtung Tacheles – und blitzte voll ab. Denn nicht nur die türkischen Gesprächspartner und ihre deutschen militärischen Berater lehnten den neuen Kurs ab, auch Kanzler Bethmann Hollweg hatte Metternichs Versuch, sich für die Armenier einzusetzen, voll missbilligt. Humann verhöhnte ihn als „armenischen Botschafter“ und im September 1916 wurde Metternich abberufen. Er war der erste und letzte deutsche Botschafter in der Türkei, der sich für die Armenier eingesetzt hatte.

Es sollte 90 Jahre dauern, bis deutsche Politiker einen ersten Anlauf nahmen, die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich zu thematisieren, ohne die Ereignisse „Völkermord“ zu nennen. Bis dahin war das Schicksal der Armenier fast vergessen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gab es zwar noch einige Berichte über die Morde und Vertreibungen der Armenier, nach dem Freispruch des Talaat-Mörders aber verstummte die Presse. Im April 2005, zum 90. Jahrestag des Genozidbeginns, bedauerte erstmals der deutsche Bundestag „die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versuchte, die Gräuel zu stoppen“. Deutschland sei als militärischer Hauptverbündeter „in diese Vorgänge tief involviert“, so die fraktionsübergreifende Denkschrift, habe aber dieses Kapitel der deutschen Geschichte „nicht befriedigend aufgearbeitet“. „Dabei ist es bis heute geblieben“, so der Schlusssatz von Jürgen Gottschlich in seinem Buch.

Jürgen Gottschlich hat ein sehr gut lesbares und höchst informatives Buch geschrieben, in dem er die deutschen militärischen Hintergründe des Völkermords an den Armenier wieder in den Vordergrund gerückt hat. Das ist um so verdienstvoller, als fast gleichzeitig ein Buch von Rolf Hosfeld erschien, in dem die deutschen Militärs in der Türkei und ihre verheerende Rolle überhaupt nicht vorkommen – erstaunlich für den Leiter des Lepsiushauses, das vom Bundestag in der Resolution zum 90. Gedenktag des Ausbruchs des Völkermords an den Armeniern ausdrücklich erwähnt wurde und hohe Subventionen erhielt.

Es ist ein großer Verdienste des Autors Gottschlich, auch den Bogen zur heutigen Türkei gespannt zu haben, das er als Korrespondent der „taz“ bestens kennt. Die türkische Zivilgesellschaft, so schwach sie auch noch ist, könnte der Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern einen neuen Impuls geben, zu dem die inzwischen relativ gefestigte deutsche Zivilgesellschaft, von der Auseinandersetzung mit dem Holocaust offenbar ein wenig erschöpft, die Kraft nicht gefunden hat.

Titelbild

Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier.
Ch. Links Verlag, Berlin 2015.
307 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783861538172

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