Fünf Familien in Berlin

Der aufschlussreiche Roman „Manja“ von Anna Gmeyner endlich wieder greifbar

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich ist sie längst beantwortet, die Frage, wie viel man bereits hätte wissen können, damals in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren. Und trotzdem ist man immer wieder verblüfft, wie viel tatsächlich bereits gesehen wurde, nun erneut bei der Lektüre des eindrücklichen Romans „Manja“ von Anna Gmeyner, der 1938 bei Querido in Amsterdam erschienen ist. Die Geschichten von fünf Familien werden erzählt, alle leben sie in Berlin, jede der Mütter empfängt im Frühjahr 1920 ein Kind – die Freude darüber jedoch ist sehr verschieden.

Am größten wohl erlebt sie Hanna Heidemann, ihren Mann, den Arzt und Humanisten Ernst Heidemann, hat sie bereits verloren geglaubt, doch er kommt zurück, zu ihr, um mit ihr gemeinsam den weiteren Lebensweg zu gehen. Auch die Ostjüdin Lea freut sich über die eine Nacht mit David Goldstaub, den sie nie mehr wiedersehen sollte, was sie dazu zwingt, Leo Meirowitz zu heiraten, der sie früh schon mit drei Kindern zurücklassen wird. Anna Müller, verheiratet mit dem klassenbewussten Arbeiter Eduard, ist erfüllt von den Sorgen, wie sie nun noch ein viertes Kind durchbringen soll, ein starkes Band jedoch verbindet die Eheleute und versucht auch, die Kinder mit einzubeziehen. Wenig Freude erlebt Frieda Meißner mit ihrem Anton, der früh schon seine Chance wittert, endlich aus dem Kleinbürgermief aufzusteigen, dabei wird er keinen Verrat scheuen, unterstützt auch er von seiner Frau. Hilde Hartung hingegen wird sich weigern, ihrem Gatten, dem Kommerzienrat Max Hartung, zu folgen, der lange noch daran glaubt, dass einem, der aus dem assimilierten jüdischen Großbürgertum kommt, nichts passieren wird. So entwickeln sich die fünf Familien in unterschiedliche Richtungen, sie stehen für Antifaschismus und Nationalsozialismus, Armut und Reichtum, Tradition und Moderne, Gewalt, Hass und Liebe. Doch etwas verbindet sie trotzdem: ihre Kinder, alle geboren 1920, sind Freunde. Vier Knaben – Heini Heidemann, Franz Meißner, Karl Müller, Harry Hartung – und das Mädchen Manja finden zusammen, die Buben sind eingenommen von Manja, Tochter aus einer ostjüdischen Familie und also ausgesetzt der in diesen Jahren wachsenden Judenfeindlichkeit.

Und ja, jeder ist auch verliebt in sie. In der Gruppe, die sich jeweils an der Mauer trifft, erleben sie eine Gegenwelt zum eigenen Zuhause, hier gelten andere Gesetze, es gibt so etwas wie Gleichheit und Gerechtigkeit, Werte, die draußen zunehmend an Wert verlieren. Doch auch die Kinder sind betroffen von den Geschehnissen dieser Jahre: Der schwächliche Harry Hartung, dessen Geburt seine Mutter an deren Grenzen brachte, sieht sich den Anforderungen seines Vaters, ein tüchtiger Junge zu werden, nicht gewachsen, er hasst es, an den Nachtübungen der Hitlerjugend teilzunehmen – und er hofft auf Verständnis bei seinem Vater, für den es jedoch eine besondere Ehre bedeutet, dass sein Sohn, obwohl Vierteljude, mitmachen darf. Entsetzt darüber, dass Harry alles aufs Spiel setzt, behandelt er ihn umso härter. Die Strafen erträgt Harry nur, weil er weiß, dass da Manja ist, und mit ihr alles ganz anders sein könnte.

Prügel anderer Art, aber ebenso schmerzhaft und demütigend, erlebt Karl Müller, dessen Vater bereits früh verhaftet wird, ein Arbeiter, der den Mund nicht hält. So wird auch der Sohn zum Freiwild, in der Schule gibt es genügend junge Burschen, die mit so einem nicht zimperlich umgehen. Auch nicht mit einer, die auf der Judenbank sitzen muss, Manja. Franz Meißner wird Martin zu ihr führen, wird sie also verraten, obwohl er sie doch eigentlich liebt, doch sein Vater würde das nicht gerne sehen – und die Strafen sind drakonisch.

Die Banden, die die Gruppe zusammenhalten, werden immer lockerer, die Unterschiede zwischen den vier Buben treiben sie auseinander. Und während der Mittelpunkt der Gruppe – also Manja – zunehmender Bedrohung ausgesetzt ist, wächst nicht ihre Solidarität mit ihr und untereinander, vielmehr verraten sie sich in ihrem Ausgeliefertsein selber und gegenseitig. Und vor allem verraten sie Manja und liefern sie damit aus, den Hassern und Hetzern, und also in den Tod.

Anna Gmeyner, die Autorin dieses äußerst beeindruckenden Romans, wurde 1902 in Wien geboren und zählte zu der literarischen Avantgarde der zwanziger Jahre. In einem ausführlichen Nachwort zeichnet Heike Klapdor das Leben der Autorin nach. Anna Gmeyner wuchs in einer jüdischen assimilierten Anwaltsfamilie auf, ab 1929 lebte sie mit ihrer Tochter in Berlin, 1933 zog sie nach Paris, von dort bereits ein Jahr später weiter nach London, wo sie 1935 den russisch-jüdischen Religionsphilosophen Jascha Morduch heiratete, der englischer Staatsbürger war, was ihr das Aufenthaltsrecht in Großbritannien verschaffte. In diese Zeit in London fiel die Arbeit an „Manja. Ein Roman um fünf Kinder“. Das Buch ist dramaturgisch geschickt aufgebaut, es beginnt mit dem Kapitel „Ende als Vorspiel“ und nimmt also das Ende vorweg: das Treffen der vier Jungen an der Mauer, am Mittwochabend, wie früher immer, doch dieses Mal fehlt Manja – von ihr bleibt nur noch das kleine Tuch an der Birke zurück. Es wird das letzte Treffen gewesen sein: „Sie verstanden, jeder auf seine besondere Weise, dass sie einander nur halten konnten, wenn sie sich losließen, nur beisammenbleiben, wenn sie sich trennten.“ In den nachfolgenden gut 500 Buchseiten tauchen die Leserinnen und Leser in diese Welt der fünf Kinder ein und lernen verstehen, was sie verbindet und am Ende wieder trennt, um sie ganz am Schluss in eine Utopie münden zu lassen, wenn Kassiopeia „ihnen zu Häupten“ steht. „Es war eine ungeheure, eine alles erfüllende Freude.“ Die Tatsache, dass Manja, die als Einzige im Roman ohne Schuld bleibt, nach all den Demütigungen und der Vergewaltigung durch einen jungen Nationalsozialisten gebrochen Selbstmord begangen hat, lässt bei den vier Knaben im Jahr 1934 jede Illusion von einem menschenwürdigen Leben zerbrechen. Und nur an der Mauer, wo sie sich in den vergangenen vier Jahren regelmäßig getroffen haben, gibt es diesen Raum noch, der glauben macht, dass anderes trotzdem möglich ist. Dies jedoch ist und bleibt ein Traum, wie ihr weiterer Weg in der Realität aussehen wird, lässt sich nur erahnen.

Anna Gmeyners Roman „Manja“, der Deutschlandroman, Frauenbuch und Jugendbuch in einem ist – wie im Nachwort glaubwürdig ausgeführt –, erschien in Deutschland erstmals 1984 im persona Verlag in Mannheim. „Fritz H. Landshoff hatte die Verlegerin Lisette Buchholz auf Anna Gmeyners Roman aufmerksam gemacht, über das Schicksal seiner Autorin wusste der ehemalige Querido-Lektor jedoch nichts zu sagen. Erst die Recherchen der engagierten Verlegerin für Exilliteratur führten auf die Spur zu Anna Gmeyner-Morduch, die in York an der schottischen Grenze lebte. So hat die Schriftstellerin unerwartet und spät die Veröffentlichung ihres Romans in Deutschland noch erlebt. Sie ist 1991 in York gestorben.“ (Nachwort) Im persona Verlag erschienen bis 2008 vier Auflagen von „Manja“, zum Glück ist nun der Roman wieder zu lesen, dank der neuen Ausgabe im Aufbau Verlag Berlin.

Titelbild

Anna Gmeyner: Manja. Ein Roman um fünf Kinder.
Aufbau Verlag, Berlin 2014.
544 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783351034153

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