Tragödie der Modernisierung

Zu Franz Werfels Interpretation des Genozids in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“

Von Oliver KohnsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Kohns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt eine – bis heute tradierte – Sichtweise, Völkermorde als gewissermaßen atavistische Rückfälle in urzeitliche, naturzuständliche Verhaltensweisen zu interpretieren. Hier wirkt die Beschreibung des Naturzustands in Hobbes’ Leviathan nach, in dem die Idee eines umfassenden blutigen Gemetzels eines jeden gegen jeden bekanntlich als Ausgangspunkt der Entwicklung von Politik beschrieben wird. Der Historiker Michael Mann führt aus, dass dieses Deutungsmuster nach dem Ersten Weltkrieg vielfach half, den Genozid an den Armeniern 1915/16 zu verharmlosen: „Die Europäer wussten zwar um die Tragödie der Armenier, sahen diese aber unter dem Blickwinkel des ‚Orientalismus‘ als Konsequenz asiatisch-barbarischer Rückständigkeit, nicht als Folge der politischen Moderne.“[1] Mann sieht in dieser Sichtweise einen wesentlichen Grund dafür, dass der Genozid an den Armeniern eine vergleichbar geringe Rolle im „kulturellen Gedächtnis“ Westeuropas erlangte. Dass der Genozid seit Beginn der 1920er-Jahre zunehmend in Vergessenheit geraten sei, ist jedenfalls eine weit verbreitete These: „The world became indifferent to the Armenian Genocide“, schreibt Edward Minasian: „As time passed, it became the ‚forgotten Genocide‘.“[2]

Die historiographische Forschung hat die Vorfälle der Jahre 1915 und 1916 inzwischen umfangreich analysiert und der Indifferenz des Vergessens enthoben. Ob der Genozid an den Armeniern immer noch ein „vergessener“ Genozid ist, darf bezweifelt werden. Der einhundertste Jahrestag des Genozids wird allein auf dem deutschen Buchmarkt von mehreren Neuerscheinungen begleitet, darunter Rolf Hosfelds historische Gesamtdarstellung.[3] Auch innerhalb der Türkei gibt es inzwischen eine umfangreiche Infragestellung der „offizielle[n] Mythologie des türkischen Staates“,[4] der zufolge es niemals einen organisierten Völkermord gegeben habe. Aus historischer Perspektive kann von der naiven Perspektive des Atavismus keine Rede mehr sein: Dass der Genozid an den Armeniern gewissermaßen die hässliche Seite der politischen Modernisierung offenbart habe, ist etwa Michael Manns These. Der Mord an mehr als einer Millionen Armeniern zwischen 1915 und 1916 ist einerseits einer generellen Paranoia in der Regierung des Osmanischen Reichs geschuldet, dass die Armenier mit der russischen Armee kooperieren könnten, sondern auch mit dem ausdrücklichen „Wunsch nach einem ‚reinen‘ türkischen Herzland in Anatolien“.[5] Den Hintergrund des Genozids bildet, mit anderen Worten, die „Verwirklichung des nationalstaatlichen Prinzips in ganz Europa“,[6] das Hannah Arendt als phantasmatisches Ideal der Politik des 19. Jahrhunderts und Ausgangspunkt der Katastrophen des 20. Jahrhunderts analysiert hat.

Es ist nicht objektiv messbar, welche Rolle die Literatur und andere Medien gespielt haben, um die Erinnerung an den Genozid wachzuhalten. Im kurzen Vorwort zum Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933) beschreibt Franz Werfel ausdrücklich seine Zielsetzung, „das unfaßbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen“:[7] Der Roman entwirft sich, in Einschreibung in eine bis in die Antike zurückreichende Tradition, als Mahnmal des historischen Gedenkens. Für manche Armenier wurde Werfels Buch zu einer „second Bible“, wie Edward Minasian schreibt: „His heroic novel recounting the indomitable spirit and resilience of the strong and self-reliant Armenian people restored my ethnic soul.“[8] Die Lektüre des Romans als säkulare, nationale Bibel – gewissermaßen als armenisches „Nationalepos“[9] – hat ebenso seine Berechtigung wie diejenige, die den Roman als Monument für den Genozid der Jahre 1915 und 1916 beschreibt. Werfels Text entwickelt eine Perspektive auf die Armenier als Opfer eines organisierten Genozids – und gleichzeitig eine andere Perspektive auf ein armenisches Volk, das gerade in der Katastrophe zu sich selbst findet und zum politischen Akteur werden kann. Diese doppelte Perspektive ist dem spezifischen Ausschnitt der Geschichte geschuldet, die Werfels Roman dramatisiert. Die vierzig Tage des Musa Dagh behandelt zentral nicht die Todesmärsche der Armenier in die Wüste, sondern den Rückzug der Bewohner einiger armenischer Dörfer im heutigen Südosten der Türkei auf den Musa Dagh („Mosesberg“), wo sie die Angriffe osmanischer Soldaten lange genug abwehren konnten, um von französischen Kriegsschiffen gerettet zu werden. Werfel entscheidet sich somit für eine historische Episode, die seiner Handlung ein happy end erlaubt.

Der Text liefert alle Zutaten eines populären Romans: Eine westlich geprägte Hauptfigur als Identifikationsmagnet[10] – Gabriel Bagradian hat zwanzig Jahre in „völliger Assimilation“[11] in Frankreich gelebt und gerät nur zufällig in den Völkermord an seinem Volk –, eine Liebeshandlung, die Entwicklungsgeschichte der Rückkehr Gabriels zu seinen familiären und ethnischen Wurzeln sowie der im Stil eines Abenteuerromans erzählte bewaffnete Konflikt zwischen den nur unzureichend bewaffneten Armeniern und den immer wieder angreifenden Soldaten. Der Text lässt sich wie ein doppelter Bildungsroman lesen, als Geschichte der parallelen Subjektwerdung Gabriel Bagradians einerseits und des armenischen Volkes (durch dessen Führung) andererseits.[12] Werfel fügt demnach eine westlich geprägte Hauptfigur in die Geschichte auf dem Musa Dagh ein und lässt so den Schluss zu, die Armenier hätten ihre Rettung nicht ohne Hilfe von außen geschafft. Die fiktionale Narrativierung entfremdet die Geschichte notwendigerweise – was die Lektüre des Romans als armenisches ‚Nationalepos‘ zunächst unwahrscheinlich klingen lässt.

Werfel unterbricht die Romanhandlung um die Bewohner der Dörfer um den Musa Dagh (und um die Familie Bagradian) jedoch immer wieder, um dokumentarische Passagen einzuflechten. Er entnimmt diese Passagen mehr oder weniger wörtlich aus den Arbeiten des protestantischen Theologen Johannes Lepisus, der seit den 1890er-Jahren und verstärkt ab 1915 publizistisch auf die Katastrophe der Armenier aufmerksam gemacht hatte. Lepsius erhält zwei Auftritte als Akteur im Roman: Die beiden „Zwischenspiele der Götter“ spielen in Konstantinopel und handeln von Lepsius’ scheiternden Versuchen, sich für die Armenier einzusetzen. Dokumentarischen Charakter haben auch die Passagen des Romans, in denen über das Geschehen jenseits des Musa Dagh berichtet wird: Die Gräueltaten des Genozids werden im Roman wesentlich aus zweiter Hand, in der Perspektive der ‚Mauerschau‘ im antiken Drama durch Berichte von Augenzeugen präsentiert. „Es sind keine Menschen mehr“, erzählt etwa ein Hauptmann im zweiten „Zwischenspiel der Götter“:

Gespenster… Doch nicht von Menschen… Gespenster von Affen… Sie sterben nur langsam, weil sie Gras fressen und hie und da einen Bissen Brot bekommen… Das Allerschlimmste aber, sie haben keine Kraft mehr, die Zehntausende von Leichen zu begraben… Deïr es Zor, das ist ein ungeheurer Abort des Todes…[13]

„Gespenster von Affen“: Diejenigen, die ihre Bürgerrechte verlieren und nur noch an die Rechte des „abstrakten Menschen“ angewiesen sind, müssen erkennen, wie wenig „die abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins“[14] wert ist, wird Hannah Arendt schreiben.

Der Roman skizziert in seinen dokumentarischen Teilen eine Perspektive zur geisteshistorischen Einordnung und Erklärung der Morde an den anatolischen Armeniern. Im Gespräch zwischen Johannes Lepsius und einigen islamischen Geistlichen wird der Genozid ausdrücklich – jenseits aller orientalistischen Klischees – als Modernisierungseffekt verurteilt. Die Geistlichen klagen die jungtürkische Regierung an, die Religion, die das Osmanische Reich zusammengehalten habe, durch den Nationalismus ersetzt zu haben, der es nun auseinander fallen ließe. „Die Regierung ist an diesem blutigen Unrecht schuld, sagst du. Doch es ist in Wahrheit nicht unsre Regierung, sondern die eure. […] Eure Lehre und eure Gesinnung vollstreckt sie jetzt. […] Ihr bekennt euch zwar heuchlerisch zu der Religion des Propheten Jesus Christus, doch im Grunde eurer Seele glaubt ihr nur an die stumpfen Mächte des Stoffes und an den ewigen Tod“, erklärt ein „Türbedar“ in Werfels Text, und ein „alter Scheich“ resümiert bitter: „Der Nationalismus füllt die brennend-leere Stelle, die Allah im menschlichen Herzen zurückläßt, wenn er daraus vertrieben wird.“[15]

Die Ursache für den Massenmord sucht der Roman nicht im Exotismus seines Schauplatzes, sondern in der von jungtürkischen Nihilisten aus Westeuropa importierten Entgöttlichung der Welt. Die umfangreiche religiöse Symbolik des Romans – die in der Forschungsliteratur einige Aufmerksamkeit gefunden hat – muss vor diesem Hintergrund interpretiert werden. Wie Moses kommt Gabriel Bagradian aus der Fremde, um sein Volk zu befreien, wie im Bericht des Alten Testaments dauert der Aufenthalt auf dem Berg vierzig Tage (anstatt, wie in der tatsächlichen Geschichte des Musa Dagh, sechsundvierzig):[16] Gabriel Bagradian wird in Werfels Roman durch ein Netz von Andeutungen und Parallelen als ein Wiedergänger Moses’ lesbar. Er ist allerdings ein Moses, der in einer Zeit erscheint, die jeden Kontakt zu Gott verloren hat. Gabriels mühsamer Kampf um Autorität, die die Armenier ihm immer nur für Momente zuerkennen, ist die sichtbare Folge dieser Entgöttlichung auch im Lager der Armenier. Werfels Roman erzählt den Genozid an den Armeniern so – die These Michael Manns antizipierend – als eine Tragödie der Modernisierung.

Anmerkungen

[1] Michael Mann: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung. Übers. von Werner Roller. Hamburg 2007, S. 257.

[2] Edward Minasian: Musa Dagh: A Chronicle of the Armenian Genocide Factor in the subsequent Suppression, by the Intervention of the United States Government, of the Movie based on Franz Werfel’s The Forty Days of Musa Dagh. o.o. 2007, S. xix und S. xxx.

[3] Vgl. Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern. München: C. H. Beck 2015.

[4] Perry Anderson: Nach Atatürk. Die Türken, ihr Staat und Europa. Übers. von Joachim Kalka. Berlin 2009, S. 100.

[5] Michael Mann: Die dunkle Seite der Demokratie (wie Anm. 1), S. 209.

[6] Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München, S. 570.

[7] Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh. Roman. Frankfurt am Main 1990, S. 9.

[8] Minasian: Musa Dagh, S. xxi und S. xvii.

[9] Peter Stephan Jungk: Vortrag zu Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh, gehalten im Lepsius-Haus, Potsdam, am 9. September 2011, http://www.lepsiushaus-potsdam.de/uploads/images/Publikationen/vortrag-zu-franz-werfels-40-tage-des-musa-dagh-von-peter-stephan-jungk.pdf. (letzter Zugriff am 3. 4. 2015), S. 18.

[10] Vgl. Ritchie Robertson: Leadership and Community in Werfel’s „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, in: Joseph P. Strelka (Hg.): Unser Fahrplan geht von Stern zu Stern. Zu Franz Werfels Stellung und Werk. Bern u.a. 1992, S. 249-269, hier: S. 253.

[11] Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 15.

[12] Diese These habe ich andernorts ausführlicher entfaltet, vgl. Oliver Kohns: The Aesthetics of Human Rights in Franz Werfel’s The Forty Days of Musa Dagh. In: Susanne Kaul und David Kim (Hg.): Imagining Human Rights. Berlin u.a. 2015, S. 157-171 (im Druck).

[13] Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 669.

[14] Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 620.

[15] Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 664f.

[16] Vgl. Minasian: Musa Dagh, S. 21f.

Titelbild

Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh. Roman.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, M. 2011.
1029 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783596903627

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