Neue Impulse für die mediävistische und frühneuzeitliche Fachprosaforschung

Der Sammelband „Fachtexte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit“

Von Dorothée LeidigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothée Leidig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den ersten Dezembertagen des Jahres 2011 fand im zweiten Stock der Universitätsbibliothek von Ostrava im Nordosten Tschechiens eine hochrangig besetzte Konferenz statt. Der Raum, in dem die internationale Konferenz stattfand, lässt bereits ahnen, dass es sich um ein recht spezielles Thema handeln muss, das der Kreis der Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus Tschechien, Deutschland, Österreich, Großbritannien, der Slowakei und der Schweiz während dreier Tage intensiv verhandelte. Der Konferenztitel lautete „Fachtexte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit als Objekt der Fachsprachen- und Fachprosaforschung“. Diese Konferenz fand nicht von ungefähr in der Industriestadt Ostrava statt. An der Universität von Ostrava nämlich ist das Ostrauer Fachsprachenzentrum beheimatet, an dem GermanistInnen und AnglistInnen eng zusammenarbeiten und das sich zu einem wichtigen Zentrum germanistischer und sprachwissenschaftlicher Forschung entwickelt hat.

Wer sich noch nie mit mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Fachliteratur beschäftigt hat, mag sich wundern, dass zu diesem Thema überhaupt Konferenzen stattfinden und dass der Verlag De Gruyter es sich nicht nehmen lässt, einen Band mit Vorträgen dieser exotisch anmutenden Konferenz herauszugeben. Wer sich dagegen schon einmal mit der Literatur bis etwa 1600 beschäftigt hat, weiß um die ungeheure Menge überlieferten Schriftguts aus dieser Zeit, das ganze Bibliotheken füllt. Beim allergrößten Teil der Textzeugnisse handelt es sich um Fachliteratur, das heißt Schriften zur Medizin, zum Rechtswesen, zum Berg- und Gartenbau, über Alchemie, Geometrie und dergleichen mehr, und alles in einer ungeheuren Variationsbreite, vom Kurztraktat bis zum mehrbändigen Kompendium.

Die Konferenz vom Dezember 2011 befasste sich intensiv mit den Möglichkeiten, Fachprosaforschung und Fachsprachenforschung miteinander zu verbinden. Die traditionelle Fachprosaforschung, die sich vor allem seit den 1930er Jahren enorm entwickelt hat, beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Erschließung und Erforschung der Handschriftenbestände, mit der Überlieferungsgeschichte der Texte und mit ihren Inhalten. Im Unterschied dazu legt die sich seit den 1980er Jahren entwickelnde Fachsprachenforschung ihren Schwerpunkt auf die sprachwissenschaftliche Untersuchung der Fachsprachen, also beispielsweise auf die lexikalische und grammatische Ebene oder die Regeln der Terminologiebildung. Im Laufe der Zeit wurden auch verstärkt pragmatische Fragestellungen miteinbezogen: Welchen Stellenwert hatte eine Fachsprache zu einer bestimmten Zeit, welchen Einfluss hatte sie auf die Entwicklung der deutschen Sprache und Ähnliches mehr. Mittlerweile haben sich die Fachprosaforschung und die Fachsprachenforschung so weit aneinander angenähert, dass beide Ansätze oft kaum noch klar voneinander zu trennen sind. Eine Integration beider Richtungen erscheint damit nicht nur sinnvoll, sondern geradezu geboten. Diesen Prozess voranzubringen, war ein wesentliches Ziel der Ostrauer Konferenz.

Der Sammelband zur Konferenz präsentiert Ausätze über mittelhochdeutsche und frühneuhochdeutsche Fachtexte, die sowohl aus der wissenschaftshistorischen und philologischen als auch aus historisch-pragmatischer Sicht erschlossen werden. Die Analysen dokumentieren damit neben den traditionellen Zugängen auch die Möglichkeiten, die sich durch den Einsatz neuer technologischer Werkzeuge und Methoden auftun. Zwei thematisch übergreifende Aufsätze sollen hier kurz angesprochen werden:

Eingeleitet wird der Band von zwei Beiträgen, die sich mit den Chancen der Integration beider Ansätze befassen. Mechthild Habermann beleuchtet die mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa unter historisch-pragmatischen Aspekten. Ihre überzeugend belegte zentrale These lautet: „Historische Fachprosatexte [sind] geradezu einzigartig für Erforschungen des kommunikativen Umfelds ‚Wer schreibt für wen zu welchem Zweck’ geeignet.“ Im zweiten Aufsatz geht Wolf Peter Klein der Frage nach, welche Perspektiven die moderne digitale Technologie eröffnet. Die rasant voranschreitende Digitalisierung der Textbestände sorgt dafür, dass „spätestens in zehn, zwanzig Jahren Verfügbarkeitsprobleme […] keine Rolle mehr spielen werden“. Das ist fantastisch, erfordert aber unbedingt die Entwicklung von Strategien, die sinnvolle und fruchtbare Zugriffe auf die unübersehbare Datenmenge ermöglichen. Das bisherige Schlagwort-System der Bibliotheken wird dafür nicht ausreichen, das heißt, die Problematik verlagert sich von der prinzipiellen Verfügbarkeit auf den systematischen Zugang. Mit der Würzburger Datenbank zu deutschen Fachtexten vor 1700 stellt W. P. Klein ein Projekt vor, das sich intensiv mit Lösungsmöglichkeiten beschäftigt.

Die im Konferenzband versammelten Beiträge beziehen sich in ihrer überwiegenden Zahl auf die medizinische Fachprosa, daneben gibt es einzelne Aufsätze zum Bergbau, zu Rechtstexten, zur Geschichtsschreibung und zu einem Kochbuch. Das Übergewicht medizinischer Texte ist einerseits verständlich, denn medizinische Texte machen den Löwenanteil der Überlieferungen aus. Andererseits ist die medizinische Fachprosa in der Forschungsliteratur bereits in einer Breite und Tiefe erschlossen und präsent, die andere Gebiete der Fachprosaforschung vor Neid erblassen lassen. Aus diesem Grund erscheint es mir nicht nachvollziehbar, warum der mit 49 Seiten längste Beitrag über ein schlesisches Aderlassbüchlein Aufnahme in den Sammelband gefunden hat. Im offiziellen Konferenzprogramm ist dieser Beitrag, der ausschließlich dem traditionellen Ansatz verpflichtet ist, nicht zu finden. Ist ein eigentlich geplanter Aufsatz ausgefallen und musste ersetzt werden? Im Sinne neuer Perspektiven wäre es sicher konstruktiver gewesen, eine solche Situation als Gelegenheit zu sehen, das Spektrum der Fachprosa etwas vielfältiger zu präsentieren. Garten- und Weinbau, Alchemie, Veterinärmedizin, Jagd und Naturkunde, um nur einige zu nennen, hätten das Bild bereichern und die große Bedeutung des integrierten Ansatzes ausgewogener darstellen können. Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass der Sammelband viele wichtige und anregende Aufsätze mit zukunftsweisenden Ansätzen enthält, mit denen man sich unbedingt auseinandersetzen sollte, wenn man sich heutzutage mit Fachprosaforschung beschäftigt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

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Lenka Vankova (Hg.): Fachtexte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Tradition und Perspektiven der Fachprosa- und Fachsprachenforschung.
Lingua Historica Germanica 7.
De Gruyter, Berlin 2014.
244 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-13: 9783110353280

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