Kann es Sünde sein, wenn gute Gründe existieren?

Arnold Esch berichtet von Regel- und Gesetzesbrüchen in spätmittelalterlichen Schreiben an den Papst

Von Marc-André KarpienskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc-André Karpienski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Venezianerin, die heiraten wollte, sah sich aufgrund ihrer geringen Körpergröße im Nachteil bei der Suche nach einem geeigneten Partner und bat entgegen kirchlicher Bekleidungsvorschriften nun den Papst, Schuhe mit hohen Absätzen und allerlei mit Gold, Edelsteinen und Perlen verzierte Kleidung tragen zu dürfen. So herausgeputzt sollte die natürliche Schönheit überhöht und der passende Bräutigam angelockt und eingefangen werden.

Dies ist nur ein Beispiel für spätmittelalterliche Appellationen an den Papst als höchste geistliche Autorität. Menschen, die das schlechte Gewissen plagte oder wie hier das Korsett der Bekleidungsvorschriften stark einengte und nun Linderung und Freiheit suchten, griffen zum Mittel der Petition. Diese schriftlich vorgelegten Bitten sind keine vereinzelt vorkommenden Phänomene. Einigen Tausend dieser Schreiben aus dem Zeitraum von 1439-1484 hat sich Arnold Esch nun im Buch Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst gewidmet.

Arnold Esch saß als emeritierter Professor für Mittelalterliche Geschichte und ehemaliger Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom direkt an der Quelle, um sich diesem Thema zu widmen. Die Schreiben an den Papst landeten nämlich in der apostolischen Pönitentiarie, dem höchsten Buß- und Gnadenamt, das über die Gewährung oder Ablehnung der Bitten entschied, und so überdauerten sie im bürokratischen Apparat der Kirche bis heute. Schon 2010 erschien ein Band mit den Bitten aus dem deutschsprachigen Raum (Wahre Geschichten aus dem Mittelalter: Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst) und nun hat Arnold Esch die Betrachtung dem weiteren europäischen Raum geöffnet, so dass kroatische Bischöfe neben italienischen Bankiers und Rittern von den Hebriden stehen.

Die im Titel genannte Lebenswelt des spätmittelalterlichen Menschen findet sich sortiert nach unterschiedlichen Bereichen in insgesamt 14 Kapiteln, wobei sich viele der ausgewerteten Bittschreiben mehreren Kategorien zuordnen lassen. So erfährt man zum Beispiel etwas über Unglücke auf dem Bau (im Kapitel Zusammenleben), unwillige Mönche (Klosterleben) oder die Angst vor der Pest, die manchen zu später bereuten Taten führt (Krieg und Pest).

Die Schreiben an den Papst sind ein besonderes Juwel, wenn man in die Alltagsgeschichte der mittelalterlichen Menschen schauen will. Chroniken, Urkunden, Münzen, ja selbst Burgen sind oftmals Zeugnisse der Großen ihrer Zeit und ihrer Politik. Nicht so häufig hingegen können wir heutzutage Selbstzeugnisse gewöhnlicher Menschen, wie Arnold Esch sie tituliert, wahrnehmen. Man sollte sich allerdings nicht dazu hinreißen lassen, diese Texte als unmittelbare Zeugnisse der Menschen zu verstehen, und das tut der Autor auch nicht. Er weiß sehr wohl, dass diese Bitten persönlich wichtige Schreiben waren, mit denen eine Absolution oder bestimmte Privilegien erreicht werden sollten. Es wird für die eigene Position geworben, die eigene Schuld heruntergespielt und die Hintergründe manchmal überlang dargestellt, nur um ja keinen negativen Bescheid zu bekommen. Auch ist es fraglich, in welcher Hinsicht dies gewöhnliche Menschen sind, denn wer keine Hilfe vom Papst erlangen wollte oder konnte, wird durch diese Quellengattung nicht erfasst.

Für die Fleißarbeit Abertausende von Schreiben zu sichten und thematisch sortierte Auszüge zu präsentieren gebührt Esch Anerkennung. Ansonsten stumm gebliebene Menschen des Mittelalters sind so in unser Gesichtsfeld gelangt. Allerdings ist der Blick, den wir werfen können, manchmal sehr kurz. Esch präsentiert eine Vielzahl von Schreiben, mal wird ausführlich zitiert, mal nur in einem Halbsatz paraphrasiert. Gerade diese kurzen Paraphrasen lassen den Rezensenten oft ratlos zurück. Einerseits ist es interessant, so viele unterschiedliche Facetten eines Sachverhalts, wie zum Beispiel dem Handel mit Pfründen, zu erfahren, andererseits fällt es schwer, diese Fälle als mehr als eine Anekdote zu begreifen. Für ein Verstehen reichen diese regestenartigen Wiedergaben nicht.

Auch sonst wären an vielen Stellen mehr Informationen wünschenswert. Die Einordnung in einen historischen Kontext oder die Erklärung von Zusammenhängen fehlen häufig, was weitergehende Erkenntnisse erschwert. Kurz gesagt, für manche der behandelten Themen hätte der Darstellung mehr historische Tiefe als Breite gut angestanden.

Angemerkt werden muss, dass dieses Werk ein Sachbuch für das interessierte Publikum ist und sich gut verkaufen soll. So wurde dann auch ein Titel gewählt, der vielleicht mehr verspricht als tatsächlich gehalten werden kann. Der Autor grenzt diese größere Erwartung in der Einleitung gekonnt ein, aber dennoch hätte der Rezensent sich schon im Titel einen Verweis auf die Quellengrundlage gewünscht. Ebenfalls als Historiker sei geklagt, dass die vielen Verweise an das Ende verbannt wurden, was das Schriftbild der Textseiten glättet, aber die Nachforschung der Stellen mühevoller macht.

Entschädigt wird man dafür durch einen nicht zu akademisch-komplizierten Schreibstil, so dass man das Buch auch genüsslich als Bettlektüre verwenden kann. Allerdings darf man keinen aufsteigenden Spannungsbogen erwarten, denn die einzelnen Kapitel oder Teilbereiche der Lebenswelten sind eher für sich stehend. So endend das Buch dann auch recht abrupt ohne ein zusammenfassendes Schlusskapitel.

Summa summarum machte es dem Rezensenten große Freude diese Geschichten und Geschichtchen zu lesen. Manches Mal riefen die Sorgen, Nöte, Missgeschicke und Verbrechen ein Schmunzeln hervor, denn zum Teil sind uns die Menschen des Mittelalters sehr nah und zum Teil sehr fern in ihrem Denken.

Der Bitte der venezianischen Dame um schmückendes Beiwerk wurde im Übrigen im Jahr 1441 stattgegeben, aber ob sie bei ihrer Suche nach dem richtigen Mann erfolgreich war, bleibt unbekannt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Arnold Esch: Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
544 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406667701

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