Heilmittel der Wahl

Von der ungewöhnlichen „Freundschaft fürs Leben“ zwischen Charles Chaplin und Winston Churchill erzählt Michael Köhlmeier in „Zwei Herren am Strand“

Von Gunter IrmlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunter Irmler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Charles Chaplin und Winston Churchill sind die großen mythologischen Figuren des 20. Jahrhunderts. Erstmals treffen sie in den 1920er-Jahren als Gäste einer Prominentenparty in Santa Monica, Kalifornien, aufeinander, zu der sie ein Filmstarlet eingeladen hat. Am Strand spazieren sie dort zusammen „mit hochgezogenen Hosenbeinen über den Sand“ und offenbaren einander ihre schweren Depressionen. Als Heilmittel der Wahl gegen die Melancholie erkennen die beiden großen Briten fortan ihre Begegnungen. Ihre Treffen bleiben geheim.

Ihre „Spazierganggespräche“ möchten sie nicht mehr missen: „talkwalks“ nennt sie Chaplin, „duck-walk-talks“ selbstironisch „der korpulente Churchill“. Unterschiedlicher könnten Freunde kaum sein: Chaplin, in den 1920er-Jahren weltweit einer der beliebtesten Filmstars, hatte seine Kindheit in Kellerlöchern und Armenhäusern gefristet und liebäugelt mit dem Kommunismus. Churchill, der konservative Schatzkanzler, stammt aus dem Adel und wurde in einem Schloss geboren.

Die ungleichen Freunde schließen einen Pakt gegen den Feind, der in ihnen selbst sitzt – die Depression. Chaplin sagt: „Wir wollen einander versprechen, dass, wann immer einer Hilfe benötigt, der andere, wo immer auf der Welt er ist, alles liegen und stehen lässt und kommt.“ Vereint gegen den „schwarzen Hund“ – so nennt Churchill die dunklen Seelenzustände.

Churchill flüchtet sich in diesen düstersten Stunden in künstlerische Arbeit, die den „schwarzen Hund“ bändigen soll: an seiner Staffelei malt er Landschaftsbilder. Chaplin leidet unter Angstzuständen, wenn er einen Film abgedreht hat. Diese lähmen ihn „bis zur Sprachlosigkeit“ und lassen ihn „mit dem Gefühl völligen Vernichtetseins allein“. „Keinen Menschen auf der Welt“ gebe es, „der ernster wäre als ein Clown“, lautet Chaplins paradox anmutende Erkenntnis. Natürlich hilft auch ihm die Kunst, wenn er am Abgrund steht – die Komik. Sie ist für den legendären Clown ein „Spaß“, den er schon früh als Kind betrieben hat, um in seiner Familie „von Hunger und Kälte abzulenken“.

Das fiktive Bündnis der beiden gegen die jähe Seelenfinsternis ist historisch nicht überliefert: Belegt ist ihre freundschaftliche Bindung und ihr Seelenschmerz. Über der Verzweiflung zweier Jahrhundertgrößen scheint in Köhlmeiers Roman die Sehnsucht nach Glück auf und das Buch erzählt leidenschaftlich, einfühlsam und voller Ironie zugleich über die dunklen Stunden der Melancholie. Das verblüfft und berührt, weil der Autor nicht nur aus einem Füllhorn der Phantasie schöpft, sondern die Fiktion auch schlüssig und mit Raffinesse mit den Fakten verwebt. Gerade auch als Essay zur Kultur- und Filmgeschichte liefert das Buch ungewöhnlich anregende Erkenntnisse.

Titelbild

Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
256 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446246034

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