„Ihr kriegt mich nicht!“

51 Geländegänge: Jochen Schimmangs autobiografischer Essayband „Grenzen Ränder Niemandsländer“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schöne neue Welt, in der sich niemand mehr verirren kann und niemand mehr verloren geht: Denn wo immer man heute hinwill, ob im Auto oder zu Fuß, digitale Prothesen wie das Navi oder das Handy lotsen einen nicht nur an den Ort seiner Wünsche, sie wissen auch stets, wo man sich gerade befindet. Das kann man als Fortschritt ansehen – oder als eine Verarmung der Wirklichkeit. Letzteres tut Jochen Schimmang.

Der 66-jährige Autor hat zuletzt mit seinem Roman „Neue Mitte“ an das utopische Potenzial erinnert, das in einem noch unerforschten, herrschaftsfreien Gelände schlummert. Als „Geländegänge“ bezeichnet Schimmang denn auch die autobiografischen Essays, die er nun unter dem Titel „Grenzen Ränder Niemandsländer“ vorgelegt hat. Anspielungsreich, theoriegesättigt und elegant geschrieben sind die darin enthaltenen 51 Texte. Sie widmen sich Kindheitserinnerungen ebenso wie Schimmangs Zeit im West-Berlin der Vorwende-Ära oder seinen Erfahrungen auf der Couch eines Analytikers. Alle aber künden sie von der lebenslangen Lust dieses Autors, der Welt abhanden zu kommen. Und von seiner Trauer darüber, das im GPS-Zeitalter reale Erfahrungsräume immer kleiner werden:

[…] ich weiß nicht, ob ich das für gefährlich halten soll, aber das macht mich schon melancholisch, weil ich möchte schon auch die physische Welt noch erfahren, manchmal im Wortsinn, wenn ich im Auto sitze, und auch darüber hinaus, und das wird natürlich immer schwieriger, weil kein Mensch mehr fährt mit dem Auto los, ohne den Navi einzuschalten, d.h. er verlässt sich nicht auf die eigene Erfahrung, bei den Orientierungen, sondern er verlässt sich auf den Navi. Und d.h., der eigene Erfahrungsgehalt und der eigene Erfahrungsraum geht auch mehr und mehr zurück, und das finde ich durchaus bedauerlich.

Der Welt abhanden kam Schimmang beispielsweise, als er sich als Kind in einem Loch unter dem Bahndamm versteckte. Oder auf dem Dachboden des elterlichen Bungalows, wo er die einsamen Freuden des Lesens und Schreibens entdeckte. Buchstäblich legendär wurde in der Familie seine Flucht auf dem Dreirad, die Klein-Jochen einfach nur raus aus seiner Geburtsstadt Northeim führen sollte, irgendwohin „in Richtung Harz“. Im Rückblick erscheint dieser frühe Ausflug dem Autor als erster Versuch, „ins nicht mehr Erreichbare zu entkommen“ – auch wenn ihn der vom Nachbar alarmierte Großvater bald schon einholte und unbeschadet zurückbrachte. Bis heute sei für solche Fluchtbewegungen charakteristisch, wie sehr sie „von Lustgefühlen“ bestimmt seien, betont Jochen Schimmang im Gespräch:

Ja, also, man könnte das auf den prägnanten Satz bringen: ‚Ihr kriegt mich nicht‘. Also wenn man aufbricht und abhaut und auch nicht Bescheid sagt, wohin man aufbricht und vielleicht auch noch sein Handy ausstellt und, und so weiter und so fort, dann ist es dieses Rumpelstilzchengefühl, nicht nach dem Motto ‚Ach, wie gut das niemand weiß, wie ich heiß‘, sondern: Ach, wie gut, dass niemand weiß, wo ich bin. Ihr kriegt mich nicht; wenn ich nicht will, bin ich jetzt für euch verschwunden, da müsst ihr euch schon verdammt anstrengen, um mich zu kriegen, und das ist für mich ein lustbetontes Gefühl.

Zu diesen Fluchtbewegungen gibt es für Schimmang zwei räumliche Pendants, um die viele seiner essayistischen Geländegänge kreisen: Zunächst die „Niemandsländer“: herrschaftsfreie Territorien, die niemandem gehören – und damit zugleich jedem, der sie betritt; jeder könne dort seine ganz eigenen Erfahrungen machen. Ganz unscheinbare Fleckchen können das sein: ein Schrottplatz bei Bochum zum Beispiel, auf dem sich der Autor einmal beinahe verirrte. Oder eine künstliche Landzunge wie jene am ostfriesischen Dollart, wo einst ein Unternehmen vergeblich nach Erdgas bohrte – und wo heute jeder nach eigenem Gusto das Meer genießen kann: Sonnenhungrige genauso wie Surfer, Liebende oder eben melancholisch gestimmte Schriftsteller.

Schimmangs zweites Pendant zur Flucht ist die Peripherie, das Randgebiet – für Schimmang so etwas wie das Heimatgebiet des Autors. Viele der von ihm geschätzten Kollegen zogen oder ziehen bewusst eine Leben in der Provinz der Großstadt vor – wie Peter Handke, der eben nicht mitten in Paris lebt, sondern in dem Vorortstädtchen Chaville. Gleich drei Besuche in Handkes „Niemandsbucht“ beschreibt Schimmang in seinen Essays, in einem fast schon andächtigen Ton. Dass Handke bei ihrer letzten Begegnung nach einem Wutanfall auf einen Taxifahrer mitten im Nirgendwo ausstieg und über die Leitplanke springend einfach im Dunkel verschwand, lässt Schimmangs Bewunderung für ihn nur noch größer werden. Ein Grauen ist ihm dagegen, wie sich heute die jüngere Autorengeneration im Zentrum, nämlich in Berlin, drängelt und drängt:

Es gibt ‘nen sehr paradoxen Satz von Derrida, der heißt, das Zentrum ist nicht das Zentrum, also soll heißen, im Zentrum ist keineswegs das Wesentliche konzentriert, sondern da sammeln sich die Ablagerungen alles dessen, was grade im Schwange ist, das ist sozusagen der Mainstream, der Rand dagegen, die Grenze, ist sozusagen etwas Radikaleres, etwas Schärferes, und man denkt und sieht dort vielleicht auch schärfer, außerdem hat der Rand zuweilen auch den Vorteil, dass man dort glücklich verborgen ist.

Eine Position, die natürlich auch zum Widerspruch reizt: Denn wer vom Rand aus beobachtet, mag zwar anderes sehen als jene im Zentrum des Geschehens, aber entgeht ihm aus seiner sicheren Distanz nicht auch so einiges? Und lässt sich der Möglichkeitsraum eines „Niemandslandes“ nicht umso unbeschwerter erleben, erstreckt sich dieses auf dem Boden eines Rechtsstaates? Von wirklichen Niemandsländern, wo in der Regel Chaos und Anarchie herrschen, sind deutsche Schrottplätze oder Ostsee-Landzungen schließlich weit entfernt.

Die deutsche Gegenwart ist für Jochen Schimmang vor allem mit dem Schlagwort der „Neuen Mitte“ assoziiert. Heimisch fühlt er sich in dieser neuen, wiedervereinigten Bundesrepublik nicht gerade. So sympathisch ihm an der alten BRD der Bescheidenheitsgestus war, so wenig mag Schimmang das Oberlehrerhafte der Berliner Republik Angela Merkels. Ohnehin sei die Mitte immer auch der Ort, von dem aus alles überwacht werden könne wie in Jeremy Benthams Panoptikum. Denn seine private Utopie vom spurlosen Verschwinden hin oder her: In einem Gefängnis, wo ja schon so mancher verschwand, würde er nicht lange überleben – dieses Bekenntnis findet sich just im 26. Kapitel, also nicht zufällig genau in der Mitte des Bandes. Mit „Grenzen Ränder Niemandsländer“ hat Jochen Schimmang eine ganz eigene Meditation über die Lust am Sich-Verstecken und die Utopie vom Unsichtbarwerden vorgelegt – und zugleich seine vorläufige Lebensbilanz.

Kein Bild

Jochen Schimmang: Grenzen Ränder Niemandsländer. 51 Geländegänge.
Edition Nautilus, Hamburg 2014.
160 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783864381645

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch