Die Normalität des Ausnahmezustandes

Erneut hinterfragt Joseph Vogl scheinbare Selbstverständlichkeiten des globalen Finanzkapitalismus

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Joseph Vogl vor vier Jahren mit seinem Essay „Das Gespenst des Kapitals“ für Furore sorgte, stellte er konzise scheinbar selbstverständliche Gesetze des Marktes infrage. Vogl avancierte damit zu einem der prominentesten zeitgenössischen Theoretiker wirtschaftlicher Zusammenhänge. Seine fachwissenschaftliche Herkunft – er ist kein gelernter Ökonom, sondern Literaturwissenschaftler – ist ein nicht zu unterschätzender Faktor der Erfolgsgeschichte des Buches. Dass ein kulturwissenschaftlich arbeitender, vom Poststrukturalismus geprägter, zeichentheoretisch versierter, immer wieder literarische Beispiele heranziehender Autor die Genese ökonomischer Denkmodelle seit der Frühen Neuzeit rekonstruierte, ermöglichte originelle Ansichten des immer mehr ins Virtuelle abschweifenden kapitalistischen Wirtschaftssystems.

Die globale Finanzkrise ist noch immer nicht ausgestanden. Der Gegenstand von Vogls Anliegen ist mithin unvermindert aktuell. Spötter und Paranoiker könnten gar mutmaßen, das schon längere Zeit angekündigte Buch sei von Autor und Verlag bewusst so lange zurückgehalten worden, bis die Schlagzeilen von verzweifelten Versuchen der „Griechenland-Rettung“ mitsamt aller polit-boulevardesken Begleiterscheinungen (der Mittelfinger von Yanis Varoufakis, der fehlende Schlipps des Ministerpräsidenten, Ratlosigkeit in Brüssel, verärgerte CSU-Abgeordnete et cetera) einerseits und den Protesten gegen die Europäische Zentralbank andererseits bestimmt wurden. Vogls „historisch-spekulativer Versuch“, wie er seinen eigenen Text nennt, muss im Frühjahr 2015 als das ökonomische Buch der Stunde gelten. Und doch täte man ihm Unrecht, wollte man es auf einen Kommentar zu den gegenwärtigen Ereignissen und Krisenszenarien reduzieren.

Vogl geht der Aktualität buchstäblich auf den Grund. An Michel Foucault geschult, betreibt er eine Genealogie der finanzökonomischen Gegenwart. Genauer: der liberalistischen Wirtschaftsformen vermeintlich fremden Verschlingung von Macht und Kapital, von politischer und finanzwirtschaftlicher Entscheidungskompetenz sowie von staatlichen Befugnissen, die auf undurchsichtig anmutende private Sektoren delegiert werden. Zwar beginnt Vogl seinen Essay mit einer Erzählung über die Verkettungen der Insolvenz von Lehman Brothers im Herbst 2008, doch die jüngere Vergangenheit ist ihm zunächst nur der Anlass, systemische und ideengeschichtliche Ursprünge der grundlegenden Prinzipien dieser Mechanismen in der Frühen Neuzeit aufzuzeigen, vor deren Hintergrund die aktuellen Begebenheiten alles andere als neu erscheinen. Die fachliche Herkunft des Verfassers ist dabei, anders als in seinen bisherigen Schriften zur Ökonomie, kaum noch zu erkennen. Nur wenige eingestreute Bemerkungen zeigen, dass es der Leser mit einem Literaturwissenschaftler zu tun hat – etwa wenn die Ereignisse des Herbstes 2008 als „Finanz-Novelle“ mit einer „unerhörten Begebenheit“ (nach Johann Wolfgang von Goethes berühmtem Ausspruch das Merkmal einer Novelle) geschildert werden, die über eine „Kleist’sche Dynamik“ verfüge. Als Beitrag zum Forschungsfeld der „literarischen Ökonomik“ ist das Buch nicht zu verstehen. Vielmehr betreibt Vogl „politische Ökonomie“ und zeigt, dass diese etwas angestaubte Bezeichnung noch immer ihre Daseinsberechtigung hat. Nicht nur, weil sich Politik und Ökonomie eben nicht sauber trennen lassen, sondern auch, weil ein Nachdenken über Ökonomie immer in eine Analyse des Politischen umschlägt. Die (neo-)liberalen Modelle, die Staat und Markt als voneinander getrennt darstellen, sind selbst bereits Ausdruck einer politischen Ideologie, die politische Prozesse wie die Isolierung des Marktes von staatlichen Eingriffen in Gang setzt.

Schon in „Das Gespenst des Kapitals“ stellte Vogl die Frage, inwiefern Wirtschaftskrisen lediglich eine bedauerliche Ausnahme darstellen. Der Ausnahmezustand, also die diversen Maßnahmen im Zuge der Reaktionen auf die sich als Normalität darstellenden Krisen, ist nun der Kern des analytischen Interesses. Auf dem Spiel stehe die politische Souveränität. Durch drohende Systemzusammenbrüche und Zahlungsunfähigkeiten würden immer mehr Facetten dieser Souveränität ausgelagert. In der „Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik“ komme es insbesondere in krisenhaften Zeiten immer wieder zur Ausprägung eines spezifischen Machttypus, den Vogl „seigniorale Macht“ nennt und der weder bloß ökonomisch noch rein politisch begründet sei. Er präsentiere sich als diffus und informell und sei ein „blinder Fleck kanonischer politischer und ökonomischer Theorien“. Dieser Typus treffe Entscheidungen zum Zweck der Stabilisierung von Finanzmärkten und installiere Strukturen, die nicht von demokratischen Entscheidungsprozessen legitimiert seien. Die sinnfällige Notstandsrhetorik verleihe derlei Maßnehmen eine scheinbar temporäre Legitimation. Da sich der Notstand indes nicht einfach beseitigen lasse, erhielten die installierten Strukturen Dauerhaftigkeit.

Seit der Frühen Neuzeit habe gutes Regieren immer als ökonomisches Regieren gegolten; spätestens seit dem 18. Jahrhundert sei das Ökonomische, insbesondere die Ordnungsfigur des Marktes, als indirekte Form des Regierens zu begreifen. Im Zuge der Aufklärung, der entstehenden Nationalökonomie und den Denkrichtungen des (nicht strikt voneinander zu trennenden) politischen und ökonomischen Liberalismus sei zwar der Markt freier geworden, zugleich aber sei es auch um eine politisch begründete Stimulation von Reichtümern und Produktionen gegangen. Im Neoliberalismus habe sich dieses Verhältnis dahin verschoben, dass es nicht allein um Freiheiten des Marktes gehe, sondern nicht zuletzt auch „darum, die Ausübung von Macht selbst nach marktwirtschaftlichen Prinzipien zu regeln“. Die von Angela Merkel geforderte „marktkonforme Demokratie“ hat offenkundig eine lange Tradition.

Die Souveränität komme mitnichten selbstverständlich den politisch Herrschenden zu. Wenn diese Souveränität für Unabhängigkeit steht, dann seien öffentliche Haushalte, die von privatem Finanzkapital abhängen, keineswegs souverän. Staatsschulden seien jedoch seit dem 15. Jahrhundert eine gängige Praxis, sodass Vogl von der „Geburt des neuzeitlichen Staates aus dem Geist des öffentlichen Kredits“ spricht. Gleichwohl sei die Fiskalschuld kein Hinderungsgrund von Souveränität, sondern deren Voraussetzung. Vogl beschreibt Verschlingungen von politischen Strukturen und ökonomischen Operationen. Durch diese Verbindung von Staats- und Finanzmacht entstehe eine „Vierte Gewalt“. Unter anderem komme es durch die Veräußerung staatlicher Ressourcen zu einer „politischen Besetzung privater Finanz“. Beispielsweise seien im Zuge der Monopolisierung der Staatsfinanzen Privilegien wie die Notenausgabe an ein Privatunternehmen wie die Bank of England abgetreten worden, zudem sei es zur institutionellen Einfügung privater Financiers in das Gefüge der Regierungsmacht gekommen. Vogl diskutiert unterschiedlichste, im Kern aber doch immer ähnliche historische und aktuelle Phänomene der Verschiebung finanzpolitischer Souveränität in verschiedenen Ländern. Er greift dabei auf Überlegungen von unter anderem Gottfried Wilhelm Leibniz, Jean-Jacques Rousseau, Carl Schmitt und Giorgio Agamben zurück, was den Ausführungen einen gewichtigen theoretischen Anspruch verleiht.

Der Gegenstand ist komplex und von gravierender Bedeutung für das Selbstverständnis demokratischer, kapitalistisch geprägter Gesellschaften. Unter der Ernsthaftigkeit des Themas und dem Bestreben, viele Beispiele für die Verschiebungen der Souveränität in gedrängter Ausführlichkeit und Differenzierung vorzustellen, leiden Übersichtlichkeit und Lesbarkeit. War Vogls letztes Buch auch durch seine kompakte Form ein Coup, der anspruchsvoller Theorie zu einer großen Beachtung verhalf, so finden sich diesmal einige Längen. Die Relevanz des Textes und des Ansinnens, politische Ökonomie als Fachgrenzen überschreitendes, kritisches und interdiskursives Feld zu bearbeiten, wird durch diese Einwände allerdings nicht geschmälert. An problematischen Konstellationen, die von der Persistenz der analysierten Souveränitätseffekte künden, dürfte es in absehbarer Zeit nicht mangeln. Die Theoretisierung der ökonomisch grundierten politischen Verfasstheit der Gegenwart braucht die analytische und denkgeschichtliche Tiefenschärfe von Denkern wie Vogl.

Titelbild

Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt.
Diaphanes Verlag, Zürich 2015.
320 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783037342503

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