Ein Barrel Styx

Über Jan Wagners „Regentonnenvariationen“

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deutsche Buchpreise gehen gewöhnlich an dicke Romane. Normalerweise handeln sie von Familien und von dem, was diese Familien mit den Nationalsozialisten oder in der DDR erlebt haben, bestenfalls mit ihrer Fremdheit in dem, was Roland Koch weiland „Leitkultur“ nannte, um eine Landtagswahl zu gewinnen. Umso ungewöhnlicher ist, dass der Preis der Leipziger Buchmesse in diesem Jahr erstmals an einen Lyrikband ging, nämlich an Jan Wagners Regentonnenvariationen. Tatsächlich ist der 1971 geborene Wagner unter den Lyrikern der Gegenwart kein Unbekannter, sondern hat für seine Bände seit dem 2001 erschienenen Debüt Probebohrung im Himmel bereits etliches Lob und einiges an Preisen eingefahren. Dabei liegt er durchaus im Trend einer Gedichtkunst, die sich von dem verabschiedet hat, was Robert Gernhardt 1990 das „mürrische Parlando“ der seinerzeitigen Gegenwartslyrik nannte. Deren form- und farblose Zeilen wirkten in ihrer Pathosverweigerung häufig wie in Stücke beliebiger Länge gehackte Prosasätze.

Stattdessen hat sich eine Art von Dichtung durchgesetzt, die sich wieder traditionellen Gedichtformen und dem Reim annähert, ohne diese aber unverändert zu reproduzieren, als hätte es keine Nachkriegslyrik gegeben. Das Ergebnis sind Gedichte, die beinahe Sonette sind, gewöhnliche wie ungewöhnliche Reime, die sich mit Assonanzen und Konsonanzen mischen. Doch wo Durs Grünbein staatstragend und bierernst dichtet, wo Raoul Schrott antike Vorbilder nach eigenem Gusto zurechtbiegt, zeichnet Jan Wagners Verse häufig eine bewundernswerte Leichtigkeit im Umgang mit der Tradition aus. Ein spielerischer Unterton, der aber – anders als Gernhardt – nicht die deutliche Pointe sucht, die dann auch einmal auf Kosten des lyrischen Ichs geht, sondern einfach die Worte als Material verwendet, aus dem er Bilder baut.

So gesehen, sind Wagners Regentonnenvariationen die neueste Folge einer gelungenen Serie – die sechste nach dem bislang letzten Band Die Eulenhasser in den Hallenhäusern (2012), in dem er sich als Herausgeber dreier „vergessener“ (fiktiver) Dichter tarnte. Und wie bereits in früheren Bänden gibt es deutliche thematische Schwerpunkte. Der Titel lässt an Gartenidyllen à la Hermann Hesse denken, und tatsächlich stehen Tiere und Pflanzen im Mittelpunkt vieler Gedichte – Esel, Morcheln, Schwalben, Maulbeeren. Wagners Blick idyllisiert sie aber nicht, sondern sie sind vor allem Anlässe für eine genaue Beobachtung, die über das körperliche Objekt hinausführt. Winzige Mücken wirken, „als hätten sich alle buchstaben / auf einmal aus der zeitung gelöst / und stünden als schwarm in der luft“, sie werden „dürre pegasusse“, Sinnbild für die Dichtung selbst. Sie erscheinen „fast als schatten, / die man aus einer anderen welt / in die unsere wirft […] winzige sphinxenleiber; / der stein von rosetta ohne den stein“. Besonders die letzte Zeile verweist auf Wagners Verfahren. Wie die griechische Inschrift auf ebendiesem Stein es Jean-François Champollion 1822 ermöglichte, den Schlüssel zur Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen zu finden, gewinnt das konkrete, genau beobachtete Naturphänomen eine transzendente Seite. So wird aus dem dunkelgrünen Inhalt der Regentonne, die Wagner übrigens in Haikus bedichtet, „ein Barrel Styx“.

Tod, Vergänglichkeit, Transformation sind ohnehin Grundthemen des Bandes, etwa im Gedicht „aus dem nordschwedischen winter“, dessen Protagonist in seinem Auto einschneit und die Natur betrachtet und erst im Frühling geborgen wird. Der Wagen wird zum „oval, umschalt von harsch, / ein riesenei, // […] was herauskam, / verklebt und schmächtig, / war nicht von dieser welt, doch auch des fliegens / noch nicht ganz mächtig“, ist Sarg und zugleich Schmetterlingskokon. Nicht umsonst erinnern manche Gedichte an die Lyrik des Barock und ihre Klage über die Hinfälligkeit alles Existierenden.

In anderen Texten der Regentonnenvariationen feiert Wagner die verändernde Macht der Kunst, etwa in „nach canaletto“, dem längsten Gedicht des Bandes, am schönsten aber in „die bibliotheken“: Zunächst lässt Wagners lyrisches Ich die Bücherhäuser des antiken Alexandria, von Paris, New York und der British Library in London Revue passieren, um dann in die Stadtbibliothek der eigenen Jugend zu schwenken. Dort beobachtet es jemanden, der „heimlich blatt um blatt // die bücher auffraß,“ wobei dies sowohl das reale wie das metaphorische Verschlingen meinen kann, und dann benennt ihn das lyrische Ich: „matteo […] der nie sprach, weil er nicht konnte / vielleicht, bis auf ein grunzen, ein paar gesten, / oder weil er nicht wollte, oder weil er längst brannte“, womit Wagner den Kreis schließt zu den ersten Zeilen, in denen er den „Feuerschein“ evoziert, in dem die Bibliothek von Alexandria untergeht.

So weit, so gelungen. Aber nicht alle Kritiker sind auf Wagners Lyrik gut zu sprechen. Eine „Eingeweideschau“ nannte Georg Diez die Regentonnenvariationen auf „Spiegel Online“: „Hier feiert jemand das ganz, ganz Kleine, das Superprivatistische, die Landlust und Versenkung, Verklärung, Verkitschung der Natur.“ Wagners Gedichte als Weltflucht zu denunzieren, funktioniert aber nur dann, wenn man übersieht, worauf die in ihnen beobachteten Dinge verweisen. Ebenso gut könnte man Stilllebenmalern des 17. Jahrhunderts vorwerfen, sie hätten ihre Energie an das Abpinseln von Blumen, Lebensmitteln und Totenschädeln verschwendet, während um sie herum der Dreißigjährige Krieg tobte.

Literatur ist zudem weder per se Verweigerung der Wirklichkeit noch deren pflichtgemäße Aufarbeitung, die zufällig zwischen Buchdeckeln statt im ZDF-Dokudrama stattfindet, sondern ein Gefäß, in dem gleichermaßen Raum für Sprachartistik wie für die Reflexion gesellschaftlicher Veränderungen ist. Wer von Wagners Lyrik oder der Prosa Peter Handkes eine demokratisch geläuterte Variante des sozialistischen Realismus einfordert, liegt ebenso daneben wie jemand, der meint, Literatur müsse sich immer und überall der Aufnahme politischer Themen verweigern. Bestenfalls kann sie ohnehin beides, wie Peter Weiss‘ Ästhetik des Widerstands, wie Dietmar Daths Für immer in Honig oder die Romane Irmtraud Morgners beweisen. Diese Beispiele zeigen aber auch, worauf Diez hinauswill: auf eine Kritik am deutschen Gegenwartsroman, genauer, auf die Preisverleihungspolitik deutscher Jurys im Hinblick auf diesen. Eine solche Kritik an einem Lyrikband festzumachen, ist ein Kategorienfehler und ebenso wohlfeil, wie den pauschalen Niedergang der Literatur anhand der lieblos dahingeranzten Stapelware bei den Thalias und Hugendubels dieser Welt auszumachen. Wenn man die Regentonnenvariationen schon vereinnahmen will, dann doch wohl für die Hoffnung, dass die Preisrichter in Leipzig und anderswo sich in Zukunft für ein viel weiteres Spektrum öffnen – dass sie nicht nur verkaufsträchtige Romane prämieren, sondern verstärkt auch Erzählbände, Essays und eben Lyrik. Allein dafür hätte sich die Diskussion um Wagners Gedichtband gelohnt.

Titelbild

Jan Wagner: Regentonnenvariationen. Gedichte.
Hanser Berlin, Berlin 2014.
104 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783446246461

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