Zeitkritik und Realismus

Die „Neue Rundschau“ 1/2015 widmet sich der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Von Natalie MoserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalie Moser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der aktuellen Ausgabe der Neuen Rundschau (1/2015) steht die deutschsprachige Gegenwartsliteratur im Fokus des Interesses. Der Begriff ‚Gegenwartsliteratur‘, versehen mit einem Ausrufezeichen und auf zwei Zeilen verteilt, hebt sich auf der Titelseite von einer unauffälligen grauen Grundierung ab. Aufgrund des hohen Anteils an Beiträgen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern unterstreicht die Interpunktion besonders den zweiten Teil des Kompositums ‚Gegenwartsliteratur‘. Diese Lesart bestärkt das Editorial der Herausgeberschaft, die bei der aktuellen Neuen Rundschau aus der Literaturkritikerin Ina Hartwig, dem Literaturwissenschaftler Christian Metz und dem Lektor Oliver Vogel besteht. Ihr Anliegen sei, einer interessierten Leserschaft eine vielfältige und lebendige Gegenwartsliteratur zu präsentieren. Das knappe Vorwort und die online zugänglichen Debatten rund um die Schwerpunktgestaltung zeigen, dass die Aufgabe des Herausgebertrios alles andere als eine einfache war.

Während im Editorial probeweise zwischen der Unterhaltungs- und der Erkenntnisfunktion von Gegenwartsliteratur unterschieden wird, macht das ‚Thesenmassaker‘, so der Titel der in das Online-Magazin des S. Fischer Verlags ausgelagerten diskursiven Annäherung, deutlich, dass diese Unterscheidung so alt ist wie die Literatur selbst. Insofern könnte die Betonung auf Gegenwartsliteratur auch ein Hinweis sein, dass letztlich jede Literatur Gegenwartsliteratur war beziehungsweise ist und es in der vorliegenden Ausgabe trotz Schwerpunktsetzung hauptsächlich um Literatur geht.

Die Annäherung an die Gegenwartsliteratur findet sowohl aus literaturwissenschaftlicher als auch aus literarischer Perspektive statt. Die heterogenen Texte bezeugen auf je spezifische Weise die „prächtige Vielfalt der gegenwärtigen Literatur“. Die literarischen, vorwiegend in Prosa verfassten Beiträge bieten Kostproben von Gegenwartsliteratur, während die literaturwissenschaftlichen Beiträge unterschiedliche Zugänge zum Gegenstand Gegenwartsliteratur aufzeigen. Letztere fragen nach den jeweiligen literarischen Verfahren, spezifischen Themen, aber auch nach dem gegenwärtigen Publikum beziehungsweise Literaturbetrieb, um die Kategorie Gegenwartsliteratur konturieren zu können. Aufgrund der herangezogenen literarischen Beispiele – mitunter auch Querverweise auf Beiträger/innen der vorliegenden Ausgabe – wirken sie an der Kanonbildung mit, während die literarischen und essayistischen Beiträge Züge der Gegenwartsliteratur offenlegen. Diese gelungene Verschränkung von Literatur und Literaturwissenschaft respektive -kritik profitiert indessen auch von einem Merkmal, welches Gegenwartsliteratur auszeichnet: die Koexistenz von Produzent/in und Rezipient/in. Die Unterscheidung von Unterhaltungs- und Erkenntnisfunktion aufgreifend wird nachfolgend erstens der explizit oder implizit thematisierte Realismus in der Gegenwartsliteratur und zweitens das kritische Potenzial von Gegenwartsliteratur in den Blick genommen.

Den thematischen Schwerpunkt eröffnet ein literaturwissenschaftlicher Beitrag von Moritz Baßler, welcher Entwicklungen innerhalb der Gegenwartsliteratur nachzeichnet – beispielsweise das Verschwinden der Pop-Literatur – und ausgehend von Versatzstücken der Pop-Literatur im gegenwärtigen realistischen Erzählen aktuellste Gegenwartsliteratur analysiert. Hierbei fördert Baßler eine metonymische und eine paradigmatische Art von Selbstverständlichkeit beziehungsweise Realismus zutage. Letzterem spricht er hinsichtlich des Bestehenden einen Sinn für Möglichkeiten zu und formuliert implizit Leseempfehlungen – unter anderem Johnny und Jean (2014) der Beiträgerin Teresa Präauer –, während er sich mit der Kritik am detailverliebten metonymischen Realismus nicht zurückhält. Der Schriftsteller Michael Lentz widmet sich anschließend mit Ror Wolf einem Kollegen, dessen Œuvre die Gegenwartsliteratur maßgeblich geprägt hatte. Lentz bezieht sich auf Wolfs enzyklopädische Texte und Collagen und lässt keine Zweifel daran, dass der multimediale Künstler „ein realistischer Erzähler“ sei, dem der Spagat zwischen Unterhaltung und formaler Verdichtung gelingt. Mit Baßler könnte man bei Wolf von einem ins Offene zielenden Realismus sprechen. Dietmar Daths provokanter Beitrag setzt hingegen bei den Untiefen des Realismus an und zeichnet dessen Spuren und Folgen nach. In Abgrenzung zu reaktionären gegenwärtigen Autoren, welche unter realistischem Vorzeichen die angeblichen Unorte der Wirklichkeit effektvoll in Szene setzen, positioniert sich Dath als Autor, der sich der Wirklichkeit über fingierte Wirklichkeiten und insofern über das Erproben von Wirklichkeiten annähert. Dath zufolge ist der Realismus ein „notwendiger Irrtum“ beziehungsweise „die Pause im Gesamtkanon der Weltliteratur“, die erst über Umwege zu Haltungen gegenüber der Welt führt.

Das Stichwort ‚Haltung‘ leitet zum kritischen Potenzial von Gegenwartsliteratur über. Die Essays von Marlene Streeruwitz und Olga Martynova setzen bei der implizit politischen Note von Literaturwissenschaft und -kritik an und legen deren Prämissen offen. Streeruwitz formuliert ihre Gedanken zu aktuellen Themen wie dem Ganzkörper-Scanning und dem krankhaften Sicherheitsbedürfnis in Form eines Manifestes, welches Autorinnen und Autoren zum Widerstand gegen die fortgeschrittene Entpolitisierung von Literatur aufruft. Die in russischer und deutscher Sprache schreibende Martynova interpretiert indessen Welt- und Migrantenliteratur als deckungsgleiche, aber richtungsverkehrte Kategorien und spricht sich für die Durchbrechung von Erwartungshaltungen sowie für einen individuellen Zugang zu literarischen Texten und ihren Verfasser/innen aus. Joe Paul Kroll führt wiederum an Ulrich Peltzers Roman Teil der Lösung (2007) exemplarisch vor, dass die Verarbeitung von zeitkritischen Theoremen und deren kontextgeschuldete Verengung der Zeitlosigkeit des Werkes und seinem kritischen Anspruch entgegensteht. Aufgrund des Video-Überwachungs-Kontextes muss der vor der Aufdeckung der NSA-Praktiken entstandene Roman nicht nur als politischer, sondern bereits als historischer betrachtet werden. Während dieser Beitrag implizit Zeitkritik und Realismus gegenüberstellt, wird bei Streeruwitz und Martynova die Unterscheidung in engagierte und realistische Literatur unterwandert.

Auf den thematischen Schwerpunkt folgen – wie in den vorhergehenden Ausgaben der Neuen Rundschau – Auszüge aus dem Moby-Dick-Projekt (Kommentare zu den Kapiteln 59, 61 und 85), das Lyrikradar und die Carte Blanche sowie eine Beilage. Mit Durs Grünbein und Franz Josef Czernin tauchen zwei renommierte zeitgenössische Dichter auf dem Lyrikradar auf, deren sehr unterschiedliche Gedichte durch ein in der gegenwärtigen Literatur omnipräsentes Thema – Mobilität – verbunden sind. Die Carte Blanche eröffnet Dieter Kühns Werkbericht, der in Abgrenzung zu neueren prosaischen Übersetzungen von Dantes Commedia die Vorteile einer metrischen Übersetzung nennt und vorführt. Ihm folgen zwei engagierte Beiträge, die in der Form einer Sprachkritik (Viola Roggenkamp) und einer Gedenkrede (verfasst vom soeben verstorbenen Buddy Elias) für eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen eintreten. Den Abschluss bildet Hans Jürgen Balmes‘ Laudatio auf Stefan Weidner, der sich als Übersetzer von arabischer Poesie verdient gemacht hat. Die an Walter Benjamins Ankleben verboten! anknüpfende Beilage verfasste Olga Martynova, die sich den Möglichkeiten von literarischem Schreiben und der Unverfügbarkeit von künstlerischer Arbeit (vgl. Ina Hartwigs sechster Gesprächsbeitrag im E-Mail-Gespräch) widmet und insofern an ihren Beitrag innerhalb des Heftes anschließt.

Der vorliegenden Ausgabe der Neuen Rundschau ist es nicht nur gelungen, mit den durch Stichworte angeregten, vorwiegend essayistischen Texten Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sondern auch das Interesse für die jüngste Gegenwartsliteratur und diesbezügliche Diskurse zu wecken. Von Silke Horstkottes Beitrag zum Religiösen in der Gegenwartslyrik inspiriert, könnte ein/e literaturwissenschaftliche/r Leser/in die Präsenz beziehungsweise Absenz dieser Thematik in der gegenwärtigen Prosa untersuchen. Des Weiteren könnte er/sie hinsichtlich der hohen Präsenz von Generationenromanen unter den Neuerscheinungen analysieren, inwiefern Parallelen zum in der aktuellen Ausgabe nicht repräsentierten historischen Erzählen bestehen. Da die Auswahl der Autorinnen und Autoren, die dankbarerweise am Ende des Heftes in kurzen biobibliographischen Anmerkungen vorgestellt werden, nationale Grenzen überwindet (Beiträger/innen aus Deutschland, Österreich, Russland und aus der Schweiz), wird das Bekenntnis zur Vielfalt nicht nur thematisch und formal, sondern auch hinsichtlich regionaler Prägungen eingelöst. Damit liefert die aktuelle Neuen Rundschau nicht nur (Diskurse der) Gegenwartsliteratur, sondern Gegenwartsliteraturen.

Titelbild

Hans Jürgen Balmes / Alexander Roesler / Oliver Vogel / Jörg Bong (Hg.): Neue Rundschau 2015. Gegenwartsliteratur!
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
264 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783108091019

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