„Dialektik der deutsch-polnischen Halbheit“

Die problematische Begegnung mit der „Blechtrommel“

Von Leszek ŻylińskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Leszek Żyliński

Die polnische Auseinandersetzung mit Günter Grass und seinem Werk ist beinahe so spannend, so kontrovers, voll von Überraschungen und mit Politik verwoben, wie die Romane dieses Autors selbst. Wohl in keinem Land außerhalb Deutschlands wurde Grass so leidenschaftlich gelesen und diskutiert, „nirgends so blind verehrt wie in Polen“.[1] Studien und Artikel über Polen-Motive und Polen-Bezug, Analysen und Kritiken der „Danziger Trilogie“ sind Legion. Es gehört zu den paradoxen Phänomenen der kulturpolitischen Entwicklung, dass der Höhepunkt des Interesses am Werk dieses deutschen Schriftstellers nunmehr wahrscheinlich hinter uns liegt. Dieser fällt vor allem auf die siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, also auf eine Zeit, in der der Großteil seines Werkes auf Polnisch gar nicht zugänglich war.

Die allererste Begegnung mit dem Werk von Günter Grass ist für die Aufnahme seines Schaffens in Polen paradigmatisch. Die Übersetzung eines Kapitels der „Blechtrommel“ erschien bereits zum Jahresende 1958 – noch vor der deutschen Buchveröffentlichung. Den Text des damals auch in Deutschland noch unbekannten Schriftstellers vermittelte Andrzej Wirth, der in jener Zeit für das Feuilleton der einflussreichen Wochenzeitung „Polityka“ verantwortlich zeichnete. Nach Jahren erinnert sich Wirth in seiner Rede zum 75. Geburtstag von Grass an sein „Privileg, noch vor der Gruppe 47 in Großholzleute, dich [d.h. Grass – LŻ] aus dem Manuskript in Warschau und in Vira Magadino am Lago Maggiore lesen hören. Wie gebannt hörte ich zu, diese starke, lyrische Stimme, die sich episch artikuliert, hatte man weder in der deutschen noch in der polnischen Literatur gehört. Ich war entschlossen, das muss in die polnische literarische Öffentlichkeit, und zwar gleich.“[2] Wichtige polnische Wochenzeitungen brachten kurz darauf recht schnell einzelne Kapitel des gerade berühmt gewordenen Romans. 

Auf das ganze Buch wartete das lesende Publikum jedoch noch ein ganzes Vierteljahrhundert, bis zum Jahr 1983, obwohl die Übersetzung von Sławomir Błaut schon seit Anfang der siebziger Jahre fertig vorlag und in zahlreichen Vorabdrucken einzelner Kapitel sowie 1979 sogar als Samisdat (illegale Reproduktion im Selbstverlag) im sogenannten „zweiten Umlauf“ den Eingeweihten einen Vorgeschmack dieses großen Erzählkunstwerkes gab. Selbst die Einführung für polnische Leser, von dem bekannten Schriftsteller Roman Bratny noch 1971 geschrieben und veröffentlicht, zeigt zwar, mit welcher Sorgfalt die geplante Veröffentlichung angesichts der befürchteten Zensur vorbereitet wurde, doch half sie kaum, den Roman damals zu publizieren. Einem Teil der entscheidungsbefugten Kulturpolitiker galt Grass als Nestbeschmutzer, als zynischer Spötter, der auf skurrile und entstellende Weise polnische Geschichte verfälscht. Amoralismus, Lästerung und eine zweifelhafte Faszination am polnischen Unvermögen zeichneten in den Augen einiger prominenter Schriftsteller vorwiegend katholischer Prägung (Jan Dobraczyński, Wojciech Żukrowski) dieses Buch aus. Auch zahlreiche ausgewogenere bis enthusiastische Texte polnischer Publizisten und Germanisten vermochten die Publikation des Grass‘schen Erstlings kaum zu beschleunigen.

Angegriffen wurde diese Prosa, weil dort angeblich die Polen als erhitzte Dummköpfe dargestellt wurden. Darauf antwortete Jan Koprowski in „Tygodnik Kulturalny“:

Gibt es bei uns denn keine Dummen im Gegensatz zu allen anderen Ländern? Wenn man das Gesamtwerk von Grass betrachtet, so wird seine Polenfaszination deutlich und unanfechtbar, sogar dann, wenn sie groteske Formen annimmt. Bilder und Fakten, die aus dem Kontext des Romans, seines Klimas und seiner Stimmung gerissen sind, können verletzen und schockieren. Aber wenn man das Gesamtwerk betrachtet, sieht man einen Schriftsteller, der sich mit seiner polnischen Abstammung auseinandersetzt und für den Polen selbst, in einer mythologisierten Weise dargestellt, eine dominierende und konstante Obsession bedeutet. Dies ist nicht wenig. Und das weiß auch Żukrowski.

Die polnische Schwierigkeit im Umgang mit Grass besitzt aber auch einen doppelten Boden, eine tiefere Dimension. Das Grass’sche Werk erschien vielen als unvereinbar mit jener herkömmlichen moralisch-patriotisch grundierten Literaturtradition, die Maria Janion als die „polnische Schlinge“ bezeichnet:

„Wie soll das Bild des Deutschen vom Polen und wie kann oder darf das des Polen vom Deutschen aussehen. Es handelt sich also um nicht mehr und nicht weniger als um die moralische Verpflichtung der beiden Völker, die ethischen Pflichten, die unmittelbar zu realisieren sind, sei es in der politischen Einstellung oder in der Kunst. An dieser Stelle muss man sich unbedingt die Wirkung eines gewissen psychologischen Gesetzes klar machen und dabei auch an die Parallele denken, die Gombrowicz so lakonisch formulierte: ‚Der Pole ist von Niederlagen geprägt, der Deutsche –  von Siegen.‘“[3]

Diese von Witold Gombrowicz den Polen unterstellte Haltung des gloria victis lässt sich jedoch Grass, seiner Ironie, seinen pikaresken Fluchten aus der trocken-ernsten Realität und seinem subversiven Geschichtsverständnis nur schwer zuschreiben. Die einflussreiche Literaturwissenschaftlerin Janion wies in ihrer scharfsinnigen Analysen Grass einen solchen Platz im Spektrum des nationalen Nachdenkens der Polen über sich selbst zu, er wurde gewissermaßen der polnischen Seite der Geschichte zugeschlagen. Die Evokation jener „dunklen Bereiche des polnischen Patriotismus, wo dieser an das Heilige, an Wahnsinn und Tod grenzt“ in Kombination mit den Empathiebekundungen für all die „verrückten Patrioten“ vom Schlage eines Vinzent oder Jan Bronski bewirke, dass der Geschichtserzähler Grass eine in der deutschen Literatur seltene verstehende Akzeptanz polnischer Eigenart repräsentiere. Seine affirmative Haltung dem Pan Kichot gegenüber (im gleichnamigen Gedicht) akzeptiere gar den polnischen Idealismus und den dazugehörigen Kult der Individualität. Durch seine Position als Beobachter zwischen den Kulturen, bescheinigt Andrzej Wirth in einer nüchternen Diktion seinem Freund Grass, er sehe „die Polen besser, als sie selber sich zu sehen fähig sind“.

Durch solche Nähe wirkte „Die Blechtrommel“ im intellektuellen Diskurs Polens. Sie galt zur Zeit ihrer nur geringen illegalen Verbreitung und realen Unzugänglichkeit für viele als eine literarische Offenbarung, deren Botschaft teilweise unbekannt und deshalb oft Gegenstand von Vermutung und Ahnung war;  ihr ging der Ruf voraus, historisch recht eigenwillig, aber ideologisch subversiv zu sein. Aus der Perspektive des marktwirtschaftlich orientierten Literaturbetriebs, der sich auch in Polen seit der Wende durchgesetzt hat, kann man die überraschend zahlreichen Artikel und Rezensionen über die gar nicht zugänglichen Bücher nur verblüfft registrieren. Und doch handelt es sich hier nicht nur um einen „besondere[n] Simulationsakt“, wie Wolfgang Schlott feststellt, der in einem Aufsatz die in literarischen und kulturpolitischen Zeitschriften zahlreich veröffentlichten ausschnitthaften Übersetzungen der Werke von Grass Revue passieren lässt.[4] Grass war bis 1983 zugänglich und zugleich nicht zugänglich, nie als Ganzes, aber doch in Form von Ausschnitten und Auszügen, die Spekulationen über das Ganze umso mehr anregten.

Die führende meinungsbildende Zeitschrift jener Jahre brachte 1978 gar ein Gespräch mit Grass, in dem dieser die Unstimmigkeiten in der verhinderten Veröffentlichung der „Blechtrommel“ anspricht. Durch den polnischen Gesprächspartner auf die zahlreichen Teilpublikationen in verschiedenen Literaturzeitschriften hingewiesen, bemerkt der Dichter, ein solcher Zustand gebe wohl „die Dialektik der deutsch-polnischen Halbheit“ wieder, und bekräftigt von selbst, dass „die Weltpremiere der ‚Blechtrommel‘ noch vor der deutschen in Polen mit einzelnen Kapiteln in ‚Polityka‘ und ‚Nowa Kultura‘ geschah. Die Geschichte des Buches ist noch nicht zu Ende. Ich plane seine Verfilmung. Ich sprach davon mit Andrzej Wajda und bedauere aufrichtig, dass er es aufgegeben hat.“[5]

Die Situation änderte sich in den achtziger Jahren. Das bis dahin verbotene Hauptwerk von Grass war nun seit 1983 in einer ansehnlichen Startauflage von 30.000 Exemplaren offiziell dem breiten Publikum zugänglich. Innerhalb von zwei Jahren erschienen allein in den Zeitschriften etwa vierzig Besprechungen, die zum Teil das altbekannte Schema der polnischen Lesart dieses opulenten Textes wiederholten. Das Buch wurde nun jedoch tatsächlich gelesen. Das spezifische Geschichtsverständnis, seine Erzählhaltung, seine Sprache, seine Ironie, sein Polentum und seine politischen Neigungen wurden im Feuilleton diskutiert und in der Forschung eingehend interpretiert. 

Hier setzt die interessanteste Rezeptionsphase des Œuvres von Grass ein. Sie auch nur skizzenhaft wiederzugeben, würde sowohl der Intensität der Auseinandersetzung mit Grass nicht gerecht werden als auch den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Für heutige Leser mag es jedoch interessant sein, zu erfahren, was die Zensurbehörde in einem realsozialistischen Staat jahrzehntelang als unakzeptabel angesehen hat, so dass alle Vorabdrucke dieses Romans mit  verräterischen kleinen Auslassungen erschienen. Der Schlussabsatz des Kapitels „Fernwirkender Gesang vom Stockturm aus gesungen“ durfte zum Beispiel bei der Aufzählung der Teilungen Polens keinesfalls die vierte (also den Hitler-Stalin-Pakt) und eine fünfte nennen, so dass sie als „die letzte“ und „die nächste“ wiedergegeben werden mussten; auch die Szene des Einmarsches der Rotarmisten in Danzig wurde entschärft. Trotz solcher Hindernisse muss jedoch festgestellt werden, dass Grass zunehmend als „ein fehlendes Glied in der Entwicklungskette der polnischen Literatur“[6] rezipiert wurde. Vor allem die „Danziger Trilogie“ (neben der „Blechtrommel“ gab es schon seit 1963 auch „Katz und Maus“ im Buchhandel) wird als ein Teil auch der inneren polnischen Auseinandersetzung mit der unmittelbaren nationalen Vergangenheit gelesen und interpretiert.  Diese Romane versteht man als Niederschrift einer Erfahrung, die – zur polnischen Sicht komplementär – unsere Sensibilität gegenüber der Fatalität und Amoralität der Geschichte, gegenüber der menschlichen Verquickung in die Banalität und Grausamkeit des Alltags durch eine der polnischen Literatur recht fremde, pikareske Erzählhaltung um eine relevante Dimension erweitert.

Nach jahrelanger Erwartung hatte sich 1983 der innige Wunsch des Übersetzers Sławomir Błaut erfüllt, der gehofft hat, „dass dieses literarisch und politisch grandiose Werk, das schonungslos den Hitlertotalitarismus und den Drang der Nachkriegsjahre, ihn möglichst schnell zu vergessen, entlarvt, genauso wie es für die Deutschen nützlich war, auch für die Polen von Nutzen sein wird.“[7] In den Rezensionen, in zahlreichen Essays, auf Tagungen, in den Gesprächen mit Grass, schließlich in mehreren Büchern vollzog sich jene lang erwartete Auseinandersetzung und beinahe eine Inkorporation des Werkes eines Danzigers, auf den zunehmend auch die Polen stolz sein wollten. Auf den Punkt brachte das der Breslauer Germanist Wojciech Kunicki, der unumwunden das formulierte, was im polnischen Feuilleton ohnehin herumgeisterte: „Günter Grass gehört, ähnlich wie Joseph Conrad, eigentlich zur polnischen Literatur. Vielleicht gelingt es einmal einem intelligenten Germanisten, einen subtilen Beweis für die nationalen mythologischen Verwicklungen dieses Schriftstellers zu führen, der mit der oben erwähnten Schlussfolgerung endet.“[8]

Viele Schritte in diese Richtung wurden schon gemacht. Was jedoch für die polnische Literatur noch ergiebiger wirkt, ist die unverkennbare Verwandtschaft und Anlehnung mancher polnischer Autoren (Paweł Huelle, Stefan Chwin) an die Prosa von Grass. Auch dadurch ist der Autor der „Blechtrommel“ nach so vielen Jahren Teil des polnischen Literaturdiskurses geworden.

Anmerkungen

[1] Zbigniew Światłowski: Der Polenbezug im Werk von Günter Grass, in: Günter Grass –  Werk und Wirkung, hrsg. von Rudolf Wolff, Bonn 1986, S. 9.

[2] Andrzej Wirth: Frisch und gekocht. Günter Grass zum 75. Geburtstag, „Sinn und Form“ H. 2, 2003, S.277. 

[3] Maria Janion: Das ‚Polentum‘ bei Günter Grass, in: Suche die Meinung, hg. von  Elvira Grözinger und Andreas Lawaty, Wiesbaden 1986, S. 284.

[4] Wolfgang Schlott: Polnischer Störenfried, kaschubischer Rabelais, polnischer Don Quichote. Anmerkungen zur Grass-Rezeption in Polen, in: Hanjo Kesting (Hg.): Die Medien und Günter Grass, Köln 2008, S. 57.

[5] O obżarstwie, głodzie, walce płci i socjaldemokratach. Z Günterem Grassem rozmawia Adam Krzemiński, „Polityka” 16/1978, S. 10.

[6] So lautet die These des Literaturforschers Tomasz Lewandowski. Nachzulesen in seinem Beitrag „Grass jako brakujące ogniwo literatury polskiej”, in: Polskie pytania o Grassa, hg. von Maria Janion und Andrzej Wójtowicz, Warszawa 1988, S. 240ff.

[7] Sławomir Błaut: Polak tłumaczy Grassa, in: Polskie pytania o Grassa, ebenda, S. 123.

[8] Wojciech Kunicki: Güntera Grassa obecność w Polsce, „Zbliżenia” 1(2) 1992, S. 113.