Nibelungen an der Kreuzung

Epos, Film und Buch der Nibelungen vor dem Hintergrund der Intersektionalitätsforschung

Von Martin MannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Mann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fritz Langs Film Die Nibelungen beginnt mit der Widmung „Dem deutschen Volke zu eigen“. Dies überrascht, da Langs filmisches Epos auf die narrativen Bestände des Nibelungenlieds zurückgreift, das als Heldenepos des frühen 13. Jahrhunderts das Konzept der Nation nicht kennt (ganz zu schweigen von einer ethnisch oder kulturell einheitlichen Gruppe von Deutschen). Bereits die Widmung macht also deutlich, dass Lang in seinem Film den Nibelungenstoff als Nationaldichtung aufführt.

An dieser Stelle setzt der Sammelband Durchkreuzte Helden an: Er rekonstruiert das Spiel von Kategorien wie Nation, Ethnie oder Geschlecht in deren historischer Variabilität. Dies geschieht am Gegenstand des Nibelungenstoffs in drei unterschiedlichen Werken, die zwei völlig verschiedenen kulturellen Kontexten angehören: Dem Heldenepos einerseits sowie andererseits dem etwa 700 Jahren jüngeren Film Die Nibelungen  und dessen literarischer Vorlage, dem Nibelungenbuch (1923) von Thea von Harbou, der damaligen Frau des Filmemachers Fritz Lang. Wie kann man so ungleiche kulturelle Artefakte in einem kohärenten wissenschaftlichen Ansatz miteinander in Beziehung setzen, wo sie doch nicht nur ganz unterschiedlichen Weltzeitaltern und medialen Erscheinungsweisen zugerechnet werden können, sondern auch in zwei bislang voneinander getrennten Wissenschaftsgebieten – der Mediävistik und der Filmwissenschaft – anzusiedeln sind?

Die Klammer wird durch die Theorie gebildet. Die Aufsätze des Sammelbandes entstammen der Intersektionalitätsforschung und schaffen so eine wissenschaftliche Rahmung ihrer heterogenen Gegenstände. Zugleich ist der vorliegende Band also auch ein Beitrag zur interdisziplinären Theoriebildung, denn Intersektionalität ist vor allem eine Kategorie der Sozialwissenschaften und geht zurück auf die Triple Opression, die drei großen Kategorien der Diskriminierung, wie sie vor allem im angloamerikanischen Diskurs lange Zeit dominierten: race, gender, class. Die Intersektionalitätsforschung baut das Triple zur Matrix aus, indem sie die Kreuzungspunkte unterschiedlicher Diskriminierungsphänomene in den Blick nimmt. Dies geschieht auf der Grundlage der Annahme, dass gerade diese Mehrfachmomente der bisherigen monokategorialen Forschung entgangen sind. Ein Beispiel hierfür ist die geringe Berücksichtigung, die schwarze Frauen in den jeweiligen großen Diskursen (Frauen- und Bürgerrechtsbewegung) erfahren, gerade weil sie von der Verschränkung von ethnischer und Gender-Diskriminierung betroffen sind.

Die große Leistung des Bandes – und namentlich des Einleitungskapitels von Andreas Kraß – ist der Theorietransfer von den Sozial- zu den Geisteswissenschaften. Hier wird gezeigt, wie eine theoretische Anreicherung bisheriger wissenschaftlicher Herangehensweisen eine Vermehrung ihrer Gegenstandsbereiche und ihrer Erkenntnispotenziale erzeugt. Dieses neue literatur- und kulturwissenschaftliche Paradigma macht beobachtbar, wie Identitäten von Figuren, Personen und Gruppen durch die Verzahnung interdependenter Kategorien überhaupt erst konstituiert werden. Ein Beispiel ist die eingangs erwähnte Kollektivbezeichnung der „Deutschen“, die durch Die Nibelungen adressiert werden und nur als nationale, ethnische und kulturelle Gruppe vor dem Hintergrund der spezifischen ideologischen Gemengelage der 1920er-Jahre zu verstehen ist. Anders als etwa heute besteht hier eine Logik von Abstammung und kultureller Zugehörigkeit (wie sie sich im Akzent auf der völkischen Dimension der Deutschen erweist); gegenwärtig würde man „deutsch“ vielleicht eher in den ko-abhängigen Kategorien von nationaler Zugehörigkeit und Zugriff auf bestimmte Bildungs- und Wissensbestände bestimmen.

Im Nibelungenlied können die Figuren selbst als Kreuzungspunkte intersektional rekonstruiert werden. Besonders deutlich wird dies etwa im Fall von Brünhild, die die Figurenpotenziale der Prinzessin, die Gegenstand der Werbung des Helden ist, verzahnt mit jenen des Brautvaters, der im Rahmen der Brautwerbung das Hindernis darstellt, dessen Überwindung die Braut als Belohnung vorsieht. Diese figurale Komplexität entfacht das spezifische narrative Potenzial des Nibelungenlieds.

Unorthodox (aber begrüßenswert) ist die Auswahl der leitenden Beobachtungskategorien, die die Herausgeber heranziehen: Sie extrahieren sie nicht aus dem Text des Nibelungenlieds, sondern aus der kulturellen Situation der 1920er-Jahre, nutzen sie aber gleichwohl zur Beobachtung des mittelalterlichen Textes. Hierzu gehören die Kategorien der Klasse (die sowohl in den Klassenkämpfen, wie auch im Ständesystem wirkt), des Geschlechts, der Rasse (das Mittelalter kannte keine festen ethnischen Differenzen, wie sie in der Rassentheorie des frühen 20. Jahrhunderts wirkten), der Sexualität, der Nation, der Religion und der Dis/ability. Letztere ist unter anderem interessant, da an ihr gezeigt werden kann, dass körperliche Devianz im Mittelalter durchaus mit Stärken bestimmter Figuren verbunden sein konnte, denkt man an die körperliche und magische Kraft des kleinwüchsigen Alberichs. Anhand dieser Kategorien wird der zeitgenössische Einschlag des Films und Harbous Nibelungenbuch besonders augenfällig, etwa durch die Germanisierung Siegfrieds, der Ausstellung des nackten Heldenkörpers oder der Darstellung der Hunnen, deren ethnische Fremdheit im Film stark hervorgehoben wird, während sie im Nibelungenlied umgekehrt als Angehörige der höfischen Kultur gewürdigt werden.

Die Beiträge des Bandes sind in drei Gruppen gegliedert, die jeweils mit binären Begriffspaare beschrieben sind: Überordnung/Unterordnung, Einschlüsse/Ausschlüsse und Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit. Die Binarität der Leitbegriffe ist aus der Intersektionalitätsforschung heraus begründet, da diese typischerweise mit zweiwertigen Differenzen arbeitet (etwa weiblich/männlich oder schwarz/weiß). Es erweist sich dabei dieselbe Theorieproblematik wie bei anderen prominenten Differenztheorien, etwa Luhmanns Systemtheorie: Die binäre Struktur der Beobachtungskategorien hat den Vorteil, dass sie eine ausgesprochen hohe epistemologische Schärfe aufweist und Beschreibungspotenziale mit großer Exaktheit zulässt. Der Preis, den sie dafür zahlt, ist das Verschieben des Dritten in den unbeobachtbaren Raum. Wer beispielsweise mit der Differenz schwarz/weiß operiert, verliert andere ethnische Gruppen aus dem Blickfeld. Dennoch ist das auf zweiwertige Differenzen angelegte Theoriedesign notwendig, um Kreuzungen der beobachteten Kategorien als Phänomene kultureller Identitätskonstitution sichtbar zu machen.

Besonders hervorgehoben werden sollte Nataša Bedekovićs Beitrag, der Dis/ability in den Blick nimmt. Sie zeigt anhand des ersten Teils von Fritz Langs Filmepos, Siegfried,wie gewisse Formen körperlicher Inszenierung die Differenzschwelle von Ability und Disability überschreiten. So ist es Siegfrieds Stärke, die ihm seine außergewöhnliche Position als Heros erlaubt; jedoch ist sie es auch, die seine Inklusion in die höfische Kultur verunmöglicht und die aus dem Höfischen entstammende Ordnung erst labil macht. Ability und Disability sind, so wie alle hier untersuchten Kategorien, gerade nicht ontologisch gedacht, sondern werden als kulturelle Zuschreibung verstanden. Neben vielen anderen Aufsätzen ist auch jener Beatrice Michaelis‘ bemerkenswert, der auf das Merkmal der Rasse fokussiert. Es wird deutlich, dass Text und Film des 20. Jahrhunderts eindeutige rassistische Topoi aufrufen, etwa indem deutlich auf einen asiatischen Hintergrund der Hunnen eingegangen wird. Das mittelalterliche Epos ist nicht, wie gelegentlich angenommen wird, frei von solchen Zuschreibungen. Es ist lediglich so, dass der ethnische Unterschied weniger bedeutend ist, da die Anteilnahme an der höfischen Welt eine Klammer darstellt, die eine weit stärkere Integrationskraft aufweist, als es eine bestimmte ethnische Zugehörigkeit könnte.

Bedeković, Kraß und Lembke legen einen Sammelband vor, der erstens beweist, dass eine theoriegeleitete Lektüre eine echte epistemologische Erweiterung darstellen kann (was in der Mediävistik gelegentlich zu vermissen ist). Zweitens schafft er es so, bekannte Gegenstände in neue Kontexte zu bringen und mit Fragen an die untersuchten Texte und Filme heranzutreten, die bislang in dieser Form noch nicht gestellt wurden. Und drittens schließlich wird deutlich, dass Mediävistik selbst als Kulturwissenschaft verstanden werden kann, die auch außerhalb rein philologischer Kategorien beachtliche Erkenntnispotenziale birgt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Andreas Kraß / Astrid Lembke / Natasa Bedekovic (Hg.): Durchkreuzte Helden. Das „Nibelungenlied“ und Fritz Langs Film „Die Nibelungen“ im Licht der Intersektionalitätsforschung.
Transcript Verlag, Bielefeld 2014.
322 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783837626476

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