Das Grundrecht auf Schwangerschaftsabbruch

Ulrike Busch und Daphne Hahn liefern mit ihrem Sammelband „Abtreibung. Diskurse und Tendenzen“ wichtige Impulse zu einem umstrittenen Thema

Von Heinz-Jürgen VoßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinz-Jürgen Voß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Reproduktive Rechte sind stets im Kontext globaler Herrschaftsverhältnisse zu betrachten. Während von Seiten der Länder des globalen Nordens Verhütung gerade für die Länder des Südens propagiert wird und Debatten darüber geführt werden, dass auch im Norden die vermeintlich ‚falschen‘ gesellschaftlichen Schichten – arme und migrantisch geprägte – in ‚zu großem Maße‘ Kinder bekommen würden, wird mit Blick auf bürgerliche weiße Frauen gesellschaftlich eine vermeintlich ‚zu geringe‘ Kinderzahl problematisiert. Debatten um Verhütung und um Schwangerschaftsabbruch können nicht aus diesem Kontext herausgelöst werden. Regionale Perspektiven auf Schwangerschaft kommen hinzu. Für Deutschland wurde von Frauen of Color skandalisiert, dass noch in den 1980er-Jahren türkischstämmige Frauen ohne ihr Wissen von Medizinern sterilisiert wurden.[1] Die Sterilisation beruhte dabei nicht auf einer rechtlichen Basis, war aber verankert in institutionellem Rassismus durch Mediziner, die der Meinung waren, dass türkischstämmige Frauen zu viele Kinder bekommen würden. In den letzten Jahren – intensiv etwa unter der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen – forcierte die Bundesregierung eine Politik finanzieller Förderung für ökonomisch gut gestellte Paare, um sie dazu anzuhalten, Kinder in die Welt zu setzen und großzuziehen. Arme Menschen profitieren von den Förderungen nicht oder nur in deutlich geringerem Maße.

Insbesondere mit einer regionalen deutschen Perspektive wendet sich der von Ulrike Busch und Daphne Hahn herausgegebene Sammelband „Abtreibung – Diskurse und Tendenzen“ dem Thema Schwangerschaftsabbruch zu. Der Band versammelt 15 Beiträge von namhaften AutorInnen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und der Beratungspraxis. Die Aufsätze wenden sich dabei dem Thema multiperspektivisch zu: Ausgehend von einem Abriss der historischen und aktuellen Debatten um Schwangerschaftsabbruch wird die aktuell problematische Entscheidungssituation der Frauen in den Blick genommen, die vor der Entscheidung stehen, eine Schwangerschaft auszutragen oder abzubrechen. Ebenso wird auf die teils von AbtreibungsgegnerInnen angefeindeten ÄrztInnen geschaut. Der Band fordert in seiner Gesamtheit ein, dass das Selbstbestimmungsrecht der Frauen endlich und zumindest genauso stark im Diskurs thematisiert wird wie Fragen zum Embryo und seinem rechtlichen Schutz – und dass eine unbelastete und selbstbestimmte Entscheidung für Frauen ermöglicht wird, so dass diese nicht mehr durch gesellschaftlichen Druck in psychische Nöte getrieben werden.

Menschenrecht Abtreibung – gesellschaftliche Debatte und individuelle Entscheidung

Die HerausgeberInnen werfen eingangs in ihren Beiträgen einen summarischen Blick auf die Debatten um Abtreibung in Deutschland. Dabei spielt auch die internationale Situation eine Rolle, doch der Fokus liegt auf der alten BRD, der DDR und der heutigen Bundesrepublik. Insbesondere zwischen BRD und DDR werden Vergleiche gezogen. Die klare Fristenlösung, die in der DDR seit den 1970er-Jahren den Schwangerschaftsabbruch innerhalb einer bestimmten Frist legalisierte, wird als positiv bewertet. Die aktuelle Regelung in der Bundesrepublik ermögliche Abtreibung zwar, aber in einem rechtlich unscharfen Raum, insofern Schwangerschaftsabbruch zwar strafbar ist, jedoch bei nachgewiesener Beratung und innerhalb einer vorgesehenen Frist von einer Strafverfolgung abgesehen wird. Die den Schwangerschaftsabbruch problematisierende rechtliche Situation erschwere auch die Beratungspraxis. Die Situation der Schwangeren (Frauen*)[2] wird durch die Weise der gesellschaftlichen Diskussion weiter eingeschränkt: In medialen Debatten wird oft der „Schutz des ungeborenen Lebens“ thematisiert, deutlich seltener die „Selbstbestimmung von Frauen“.[3] Die feministischen Debatten werden im Beitrag von Katja Krolzik-Matthei ausführlicher vorgestellt. Diese hat jüngst auch im Unrast-Verlag das Buch „§218“ vorgelegt, das zur weiteren Vertiefung der feministischen Perspektive auf das Thema Schwangerschaftsabbruch, auch mit Vergleich von DDR und BRD, zu empfehlen ist.

Cornelia Helfferich ist gleich mit zwei Beiträgen an dem von Busch und Hahn herausgegebenen Band beteiligt. Im ersten skizziert sie die vor dem Hintergrund des normativen Drucks problematische Forschungssituation zu Schwangerschaftsabbruch. Sie wünscht sich eine lebendige wissenschaftliche Aushandlung, die Kontroversen zulässt und neue Zugänge zum Thema entwickelt. Dabei müsse Schwangerschaftsabbruch als ein Teil des Lebens betrachtet werden, der neben „Empfängnis, Zeugung und Geburten“ in „Emotionalität und Unwägbarkeit“ eingebunden sei.[4] In einem weiteren, von ihr gemeinsam mit Heike Klindworth verfassten Beitrag werden empirische Forschungen zur Entscheidung in Partnerschaften über Kinderwunsch sowie das Austragen oder Abbrechen einer Schwangerschaft vorgestellt. Die wichtigste Frage ist in der groß angelegten Studie mit 4.002 telefonisch Interviewten vor allem: Wer entscheidet – beide PartnerInnen oder vor allem die schwangere Person? Wie sieht die Situation bei nicht beabsichtigten Schwangerschaften aus? Für Letztere zeigt sich, dass auch unbeabsichtigte Schwangerschaften durchaus nicht immer ‚nicht gewollt‘ waren. Von ihnen wurden 57% ausgetragen, 43% abgebrochen.

Ethische und medizinethische Debatte sowie die Sicht der Frauen

Die weiteren Beiträge befassen sich mit ethischen Fragen sowie der Beratungssituation. Ausgehend von einer Analyse der medizinethischen Belange pränataler Diagnostik stellt Hartmut Kreß umfassend die medizinethische Bewertung des Embryos dar. Auch wenn er sich dabei für eine weitgehend offene Betrachtung ausspricht, macht er bereits begrifflich eine Setzung, indem er etwa davon spricht, dass es sich bei einem Schwangerschaftsabbruch um „die Tötung eines Fötus“[5] handele beziehungsweise an anderer Stelle schreibt, der Fötus „stirbt ab“[6]. Damit unterstreicht er zumindest begrifflich die medizinethische Extremposition, die bei einem Embryo per se bereits von Leben ausgeht und entsprechende Begriffe, die eigentlich nachgeburtlich Anwendung finden, zeitlich vorverlagert. Abgesehen von dieser begrifflichen Parteinahme ist der Beitrag reflektiert und erwägt verschiedene Perspektiven. Sabine Berghahn stellt, ebenfalls umfassend, rechtliche Überlegungen zum Status des Embryos gebündelt und differenziert vor.

Der Schlussteil des Bandes wendet sich der Situation der Frauen zu, die sich mit der Frage auseinandersetzen, eine Schwangerschaft auszutragen oder abzubrechen. Wie soll vor dem Hintergrund normativen Drucks eine informierte und eigene Entscheidung möglich sein? Wie soll eine individuelle und im Ausgang offene Beratung für Rat suchende Frauen aussehen? Petra Schweiger erläutert die Situation der Frauen, ihr „Erleben und Bewältigen“ des Schwangerschaftsabbruchs aus psychologischer Sicht. Einen Einblick in die Beratungspraxis gibt die Pädagogin und Therapeutin Jutta Franz. Ergänzt werden die Beiträge durch einen Blick auf die ÄrztInnen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Auch sie sehen sich in der Bundesrepublik teilweise Anfeindungen ausgesetzt. Im abschließenden Beitrag reichern Christian Fiala und Joyce Arthur die Debatte um Schwangerschaftsabbruch innovativ an – und weiten die (medizin-)ethische Perspektive, in der die Sicht der ÄrztInnen oft (zu) viel Raum hat. In ihrem Aufsatz „Die Verweigerung einer medizinischen Behandlung ist keine Frage des Gewissens“ formulieren sie deutlich: „Die Weigerung, eine Patientin oder einen Patienten zu behandeln oder eine medizinische Dienstleistung anzubieten […], ist eine Pflichtverletzung von Fachkräften im Gesundheitswesen, deren Kernaufgabe ja gerade darin besteht, Patientinnen und Patienten zu helfen.“[7] Durch die Verweigerung einer offenen Beratung und eines von schwangeren Personen gewünschten Schwangerschaftsabbruchs wird den Ratsuchenden Schaden zugefügt, der gesellschaftliche normative Druck wird erhöht und ihre Möglichkeit, zu einer selbstbestimmten Entscheidung zu gelangen, eingeschränkt.

Der Band ist ein Diskussionsangebot

Das vorliegende Buch macht die Debatte erfrischend weit. Der Beitrag von Fiala und Arthur ist eine Aufforderung, sich von allzu bequemen und engen Sichtweisen zu lösen – die Sicht auf das Selbstbestimmungsrecht der Frauen wird stark gemacht. Das geschieht – auch mit Anregung zur Diskussion – an einigen anderen Stellen. So schlägt Dagmar Herzog vor: „Das Recht auf Abtreibung muss eloquenter verteidigt werden.“[8] „Es muss möglich sein, mit Leidenschaft die Rechte Behinderter zu vertreten – auch ihr Recht auf Partnerschaft und Sexualität – und Behinderte und die, die um sie sind, zu unterstützen, dabei aber nicht in einen unverschämten Paternalismus zu verfallen, der Eltern moralisch verurteilt, wenn sie glauben, nicht in der Lage zu sein, in dieser Welt ein behindertes Kind großzuziehen – in einer Welt also, die Behinderte mit Missachtung, mit Hürden und mit mangelhafter Infrastruktur konfrontiert.“[9] Auch dieser Beitrag sucht die Diskussion. Herzog fordert berechtigterweise das Recht von Schwangeren auf Abtreibung ein. Ob aber Schwangere ein Recht darauf haben, Embryonen auf allerlei Eventualitäten durchleuchten zu lassen und auf Grund einer Auffälligkeit abzutreiben, das muss gesellschaftlich kritisch diskutiert werden. Reproduktive Rechte sind eben in den gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen zu betrachten. Auch in ihnen zeigen sich Verwertungsinteressen im aktuellen kapitalistischen Zeitalter. So ist auch Behinderung nicht einfach da, sondern wird durch gesellschaftliche Umgangsweisen und Ausschlüsse hergestellt. Beachtenswert ist, dass auch im technisierten medizinischen Betrieb konkrete Zwänge für Frauen entstehen, vorgeburtliche Untersuchungen des Embryos in Anspruch zu nehmen. Zeigt sich eine chromosomale Auffälligkeit oder eine ‚untypische‘ Entwicklung, dann wird von ÄrztInnen und von anderen Menschen dem Wunsch einer Person auf Abbruch der Schwangerschaft oft mit deutlich mehr Verständnis begegnet. Auch dieses selektive ‚Verständnis‘ schränkt das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Person ein. Auch müsste der rassistische und klassistische Diskurs in den Blick genommen werden, in dem arme und migrantische Kollektive konstruiert und unter anderem als ‚zu kinderreich‘ stigmatisiert werden. Auch die so geprägten gesellschaftlichen Diskurse gehen in die individuelle Beratungssituation ein – und beeinflussen sie in die eine oder andere Richtung.

Der Band „Abtreibung: Diskurse und Tendenzen“ ist ein guter und fundierter Beitrag zum Thema Schwangerschaftsabbruch: Er eröffnet mit emanzipatorischem Anspruch eine aktuelle Debatte über Abtreibung und fordert Schwangerschaftsabbruch – berechtigt – als Grundrecht im Rahmen reproduktiver Selbstbestimmung ein. Weitere emanzipatorische Arbeiten sollten folgen, die intersektionale Perspektiven stark machen, Positionen der Selbstorganisationen behinderter Menschen zentral aufnehmen und eine Aushandlung mit ihnen suchen sowie queere Sichtweisen auf Schwangerschaft einbeziehen.

Anmerkungen:

[1] Bargan, Kamer; Schulz, Brigitte; Schwoon, Heike (1985): Seit Jahren werde ich nicht mehr froh: Zur gesundheitlichen Situation ausländischer Frauen. In: Arbeitsgruppe Frauenkongreß (Hg.): Sind wir uns denn so fremd? Ausländische und deutsche Frauen im Gespräch. Frankfurt/Main: sub rosa Frauenverlag. S. 66.

[2] Im Buch werden alle schwangeren Personen als ‚Frauen‘ verhandelt. Diese Sicht ist zu weiten, da es auch zahlreiche andere Personen gibt, die schwanger werden können, einmal schwanger waren oder sich mit der Frage konfrontiert sehen, eine Schwangerschaft auszutragen oder abzubrechen. Das gilt etwa für einige trans*-Männer und einige Intergeschlechtliche. Gleichzeitig ist auch nur ein Teil der cis*-Frauen in der Situation, eine Schwangerschaft austragen und damit ggf. beenden zu können.

[3] S. 57.

[4] S. 79.

[5] S. 144.

[6] S. 141.

[7] S. 321.

[8] S. 136.

[9] Ebd.

Titelbild

Ulrike Busch / Daphne Hahn (Hg.): Abtreibung. Diskurse und Tendenzen.
Transcript Verlag, Bielefeld 2015.
326 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783837626025

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch