Literatur als Spiel

Ulla Hahns „Ars poetica“ – Ein Rückblick

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

1981 erschien Ulla Hahns erster Lyrik-Band „Herz über Kopf“. In ihm steht das Gedicht „Ars poetica“:

Danke ich brauch keine neuen
Formen ich stehe auf
festen Versesfüßen und alten
Normen Reimen zu Hauf

zu Papier und zu euren Ohren
bring ich was klingen soll
klingt mir das Lied aus den
Poren rinnen die Zeilen voll

und über und drüber und drunter
und drauf und dran und wohlan
und das hat mit ihrem Singen
die Loreley getan.

Erst in der Rückschau zeigt es sich: Das Gedicht enthält ein poetologisches Programm nicht nur zu Ulla Hahns damaliger Lyrik, sondern zu einem gewichtigen Teil der Literatur des ganzen Jahrzehnts. In den achtziger Jahren brach der die literarische Moderne prägende Glaube an den ästhetischen Wert des Neuen und Originellen in sich zusammen. Ulla Hahns Absage an neue Formen und die Berufung auf „alte Normen“ kamen zu einem Zeitpunkt, als in Deutschland mit einiger Verspätung intensive Debatten zur „Postmoderne“ einsetzten. Dass sich das angestrengte Bemühen um Innovationen erschöpft hat, dass nicht avantgardistische Vorgriffe auf Zukünftiges, sondern Rückgriffe auf Vergangenes die Moderne aus ihrer Erschöpfung befreien können, solche Vorstellungen gehörten zu den Voraussetzungen „postmodern“ genannter Literatur – und dieses Gedichts. „Danke ich brauch keine neuen / Formen“: Der entschiedene Gestus höflich dankender Zurückweisung von Ansprüchen, sowohl poetologischer als auch politischer, prägt auch andere Gedichte des Bandes, in dem „Ars poetica“ steht. So heißt es beispielsweise in dem Gedicht „Nicht zu gebrauchen“:

[. . .] Weder von euch
noch von euch bin ich zu
gebrauchen ich brauche gar
nichts und alles nehm ich
von allem und keinem immer
dasselbe: mein Teil.

Das Ich, das sich frei macht von fixierten Erwartungen und mit dem Satz „alles nehm ich von allem“ dem in den achtziger Jahren verbreiteten, von Paul Feyerabend gegen den wissenschaftlichen Methodenzwang gerichteten Slogan „anything goes“ zu folgen scheint, entzieht sich nicht zuletzt dem formalen Innovationsdruck, der auf Autoren der Moderne lastete. Doch auch die „alten Normen“, auf die es zurückgreift, haben nur eine begrenzte Verbindlichkeit. Das Gedicht führt vor, wie sehr sich Rückgriffe auf Altes von epigonalen Rückfällen auf Konventionelles unterscheiden können. Denn mit überlieferten Formen und mit Texten aus dem tradierten Kanon der Weltliteratur treibt dieses Gedicht ein artistisches Spiel.

Es beginnt und endet mit einem Zitat. An die Ars Poetica des Horaz knüpft Ulla Hahn insofern an, als sie hier über Poesie in poetischer Form reflektiert. Sie führt literarisch vor, worüber sie spricht. Das Gedicht setzt damit eine Tradition poetologischer Lyrik fort, die im 20. Jahrhundert mit der forcierten Selbstreflexivität der Literatur eine neue Intensität erreichte. Schon der Titel ist jedoch zugleich voll spielerischer Ironie. Das Gewicht und die Autorität der lange Zeit verbindlichen Poetik weist das kurze Gedicht mit Leichtigkeit von sich. Regeln der Dichtkunst stellt es nicht auf, „alten Normen“ folgt es nur unzuverlässig. Nicht einmal auf „festen Versesfüßen“ steht es, obwohl das Gegenteil behauptet wird. Da geht es freirhythmisch „drüber und drunter“: Beginnen die Verse der ersten Strophe alle mit einer betonten, so die der letzten mit einer unbetonten Silbe. Der erste Vers der zweiten Strophe setzt mit zwei Senkungen ein, der zweite (wie auch der dritte und vierte) mit einer Hebung. Die Zahl der unbetonten Silben zwischen den betonten wechselt, die der betonten in einem Vers ebenfalls (zwischen zwei und vier). Wie mit den also keineswegs „festen Versesfüßen“ spielt die Autorin mit den Reimen, die sich dem naheliegenden Schema demonstrativ verweigern. Wenn das Gedicht, auch metrisch, einigermaßen regelentsprechend hätte sein wollen, dann müsste zum Beispiel die zweite Strophe so umbrochen sein:

zu Papier und zu euren Ohren
bring ich was klingen soll
klingt mir das in den Poren
rinnen die Zeilen voll

Allenfalls in dieser Form ließe sich das Gedicht mit einigem Recht als „konventionell“ oder „epigonal“ abqualifizieren. Indem es jedoch „Poren“ und „Ohren“ (wie in der ersten Strophe „Formen“ und „Normen“) jeweils vom Ende des Verses an den Anfang des folgenden verrückt, spielt es mit den Konventionen auf zugleich de- und konstruktive Weise.

Wer, wie es etliche Kritiker getan haben, die angeblich so schlichte und deshalb erfolgreiche Konventionalität von Ulla Hahns Lyrik moniert, verkennt zum einen dieses artifizielle Spiel mit alten Normen und zeigt sich zum anderen an modernen, mittlerweile selbst konventionell gewordenen Maßstäben der Innovation sowie an Vorstellungen vom schöpferisch autonomen Autorsubjekt orientiert, das frei von allen diskursiven Zwängen schreibt. Sie sind von postmodernen Programmen in Frage gestellt und unterlaufen worden. In deren Perspektive ist die Masse des bereits Geschriebenen so übermächtig groß, dass die Erfindung von Neuem als Illusion erscheint. Der bloß imitierende Rückgriff auf Altes wird jedoch als Alternative ebenfalls nicht akzeptiert. Die Theorie der Postmoderne beschrieb den möglichen Ausweg aus dem Dilemma bezeichnenderweise mit einem Wortspiel: mit der Mischwortbildung „Playgiarism“. Das Plagiieren wird zum Spiel: zum zitierenden, parodierenden oder (selbst)ironischen Spiel mit der Pluralität tradierter Formen, von „Prätexten“, Redewendungen oder Stilen.

Literatur als ein „Spiel“ zu begreifen und zu benennen ist gewiss keine Eigenart erst der Postmoderne, sondern entspricht Vorstellungen, die bis in archaische Kulturen zurückreichen. Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga, der das Spiel zum Ursprung und konstitutiven Element aller Kultur erklärte, hat darauf mit reichhaltigem Beispielmaterial verwiesen. Mit Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, die in dem Satz kulminieren, der Mensch sei „nur da ganz Mensch, wo er spielt“, bekommt der Begriff programmatische Bedeutung. Und seither artikuliert sich mit ihm ein Unbehagen an Rationalitätszwängen in modernen Gesellschaften, das, vermittelt über Nietzsche und Freud (er analysierte Dichtung als „Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spielens“), auch noch der Postmoderne zugrunde lag. Mit ihr erreichte die Verwendung des Spiel-Begriffs ein geradezu inflationäres Ausmaß. Die ersten beiden Gedichtbände Ulla Hahns sind dafür symptomatisch. Der Titel des ersten verfremdet spielerisch eine Redewendung: „Hals über Kopf“ wird zu „Herz über Kopf“. Spielende lautet der Titel ihres zweiten Gedichtbandes (1983), der wiederum ein Wortspiel ist, insofern man ihn mit je unterschiedlicher Bedeutung auf der ersten oder der zweiten Silbe betonen kann. Es bezieht sich auf Verschiedenes zugleich: auf das Liebesspiel, das die Autorin in vielen, oft frivolen Varianten umschreibt, auf dessen Ende und auf die eigene Person als poetisch spielende. „Liebesspiel“ heißt denn auch eines dieser Gedichte, ein anderes mit dem Titel „Spielregeln“ beschreibt immer wiederkehrende Beziehungsmuster und Rollenspiele in ihnen. Das Gedicht „Rondo“ nimmt die Motivik so auf, dass die Anrede einem Liebhaber und einem Leser gelten kann:

Komm zu mir geh
es ist ein Spiel das
ich mit dir
jetzt spielen will

Hab keine Angst
du bleibst so frei
wie du es willst
ganz einerlei

was du verlierst
gewinn so viel
wie nichts
steht auf dem Spiel.

Ulla Hahns Gedichte sprechen über das Spiel und sind selbst ein Spiel. Mitspieler ist der Leser, das Spielmaterial die Sprache: Laute und Buchstaben, Wörter, Sätze, Texte und Redeordnungen, und zwar in ihrer ganzen Vielfalt und Heterogenität. Die erste Strophe von „Ars poetica“ greift zunächst gängiges Vokabular literaturwissenschaftlicher Diskurse auf: „Formen“ und „Normen“, „Versfüße“ und „Reime“. Doch schon der Satz „ich stehe auf festen Versesfüßen“ distanziert sich davon, indem er wortspielerisch eine Redewendung („auf festen Füßen stehen“) mit einem philologischen Terminus kombiniert. Mit „zu Hauf“ verlässt das Gedicht die poetologische Diktion endgültig und wechselt zu einer poetischen über. „Kommet zu Hauf“, heißt es in dem berühmten Kirchenlied Joachim Neanders (Lobet den Herren). Die beiden folgenden Strophen sprechen denn auch von „Lied“, von „Singen“, von akustischer Wahrnehmung („Ohren“, „klingen“). Das Schreiben wird wie die Textwahrnehmung zum sinnlichen Akt des Körpers erklärt – und anschließend demonstrativ als solcher vorgeführt: Zu Beginn der dritten Strophe schlägt die entfesselte Lust am Spiel in eine so sinnleere wie klangvolle Reihung gleicher Laute (u, d, ü, i, a) um, die nur noch den Gesetzen der Musikalität folgt – einer nicht aus dem Kopf, sondern aus dem Körper und seinen Poren kommenden Musikalität, die sich romantischen Liedtraditionen verbunden sieht. Ein Signal dafür gibt das abschließende Zitat. Der Schluss jenes berühmten Gedichts von Heine, das mit den Versen beginnt „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, / daß ich so traurig bin“, ist von todtraurigem Ernst:

Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Loreley getan.

In Ulla Hahns Gedicht verführt das Singen der Loreley das lyrische Ich (und auch den Leser) zu ausgelassener Sinnenfreude. Dass Ulla Hahns postmoderne Poetik des Spiels sich jedoch nicht als Programm purer Heiterkeit versteht, zeigt die ihre frühen Gedichtbände prägende Vermischung von leichtem Vergnügen und lastendem Ernst. In dem Gedicht „Meine Loreley“ zum Beispiel fügt die Autorin das gleiche Motiv in eine ganz andere Tonlage. In ihr stoßen Versatzstücke romantischer Liedtradition mit hartem Kontrast auf Wörter, die sich auf gänzlich unromantische Realitäten der Gegenwart beziehen:

Meine Schwester hat sich ertränkt
warum ist es am Rhein so
schön die Loreley zu sehn
mit dem Abwasser angeschwemmt
nach einer langen Nacht
bei einem Wirte wundermild
kämmt sie ihr weißes Haar da
war sie jüngst zu Gast als
er sie angefaßt mit
seinem süßen Mund und
zehn Elektroschocks kühl
in ihr Hirn gebrannt.

Bei allem Ernst ist indes das spielerische Element auch in diesem Gedicht unverkennbar. Folgt man den intellektuellen Zeitgeist- und Trendwendenformulierern der neunziger Jahre, dann war mit dem Ende der achtziger Jahre auch das Ende postmoderner Ästhetik des Spiels erreicht worden. 1993 veröffentlichte Bodo Morshäuser im Kursbuch 113 einen Aufsatz, dessen These der Untertitel zusammenfasst: „Der Achtzigerjahrespaß und der Ernst der Neunziger“. Der Aufsatz ist zwar vor allem auf Veränderungen der subkulturellen Jugendszene bezogen, seine Thesen lassen sich jedoch auch auf literarische Entwicklungen übertragen. Nach der „Neuen Subjektivität“ und der Selbstverwirklichungskultur der siebziger Jahre waren nach Morshäuser die achtziger Jahre durch eine Kultur der Simulationen und der Spiele gekennzeichnet. „Inhaltliche Diskussionen galten als abstoßend, Meinungen galten als austauschbare Selbstdarstellungen. Sinnfragen verbreiteten einen Mief, den man nur mit Lustigkeit vertreiben konnte. Mit Spiel. Mit Simulation. Mit So-tun-als-ob. Mal sehen, was geschieht, wenn ich das jetzt sage. Ich bins nicht. Ich sage es nur. Undsoweiter. Die achtziger Jahre waren das Jahrzehnt der Spieler“. Mit dem Fall der Mauer, mit dem Wegfall der stabilisierenden Grenzen nach Osten, mit der Destabilisierung der erstarrten Nachkriegsordnung sind, so Morshäuser, in den neunziger Jahren Probleme und Konflikte in Europa angewachsen, angesichts derer die spielerische Leichtigkeit der achtziger Jahre einem bitteren Ernst gewichen ist. Vielleicht war das leichte, wenn auch höchst artifizielle, reflektierte und keineswegs harmlose Spiel der Ulla Hahn in der Tat ein typisches Phänomen der achtziger Jahre, das, auch wenn etwas von seiner befreienden Wirkung anhält, anachronistisch wurde.

Die Autorin und ihre Texte haben sich allerdings selbst verändert. Das den 1995 erschienenen Gedichtband Epikurs Garten abschließende Gedicht gab dafür deutliche Zeichen:

Ars poetica

Nomina si pereunt, perit et cognitio rerum
Carl von Linne.

Ja. Nein. Verantwortung. Gott
so viel Worte. Zu haus sein wo
man hingehört der große Weltatlas
finale Störungen Erlebnisdichtung die
rose is a rose is a rose

An dieser Stelle nur noch Ich Erleberin
Adresse weltweit unbedeutend und beliebig
die Sonne scheint geh diesen Weg entlang was
täglich abfällt ist dein Material
Erzähl mir nichts vom Gehn steh auf und geh

Der Garten wartet Ostermelodie wo es sich dreht
gefiltert sublimiert schön tief und hoch
prozentig destilliert Bewußtseinspoesie der alten Art die
Rose is a rose est una rosa
und würde ohne jeden Namen duften.

Das Gedicht trägt den gleichen Titel und hat die gleiche Strophenzahl wie die gut ein Jahrzehnt frühere „Ars poetica“. Die Rede von „alten Normen“ ist in der Wendung von „der alten Art“ wieder aufgenommen. Es enthält ebenfalls etliche intertextuelle Bezüge (so auf Gertrude Steins „a rose is a rose is a rose is a rose“ oder auf das biblische „steh auf und geh“), und es vermischt abermals literaturwissenschaftliche Termini („Erlebnisdichtung“, „Bewußtseinspoesie“) mit ganz anderen Stilelementen. Dennoch unterscheiden sich die beiden Gedichte inhaltlich und formal ganz erheblich. Das zweite ist nicht programmatisch mit dem Körper, sondern mit dem Kopf gechrieben; es ist in der Reflexion über das Verhältnis zwischen Worten und Dingen, Sprechen und Handeln abstrakter, theoretischer; das Spiel wirkt weniger ausgelassen, die mit ihrn verbundene Lust, der Philosophie Epikurs entsprechend, gemäßigter und beherrschter.

Anmerkung der Redaktion: Der hier zum 70. Geburtstag Ulla Hahns veröffentlichte Beitrag gehört zu der Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.