Wundervölker an der Peripherie der Welt

Rudolf Simek sammelt und erläutert die Monster des Mittelalters

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn der seit 2009 erscheinenden Romanserie Der Monstrumologe definiert ihr amerikanischer Autor Rick Yancey die Monstrumologie als ein Studium von Wesen, die den Menschen grundsätzlich feindselig gesonnen sind. Daher gehöre die Jagd auf die Monster zu den Aufgaben des Monstrumologen. Die Existenz dieser schrecklichen Kreaturen würde allerdings von der Naturwissenschaft negiert und in das Reich der „Mythen und Legenden“ verwiesen. Dass aber die Monster wenigstens in der Literatur ihre Heimstätte besitzen, verdeutlicht Yancey durch Zitate etwa von Herodot, Plinius dem Älteren, Jean de Mandeville und Shakespeare über Anthropophagen (Menschenfresser) und Blemmyae (Menschen ohne Kopf, die Nase, Mund und Augen auf der Brust haben).

Während im ersten Band des Horrorromans Anthropophagen in der Gestalt der Blemmyae im ausgehenden 19. Jahrhundert erforscht, gejagt und getötet werden, präsentiert der Bonner Professor für ältere Germanistik mit Einschluss des Nordischen Rudolf Simek ein völlig abweichendes Ergebnis seiner langjährigen „Jagd“ auf die Monster. Denn in seinem äußerst lesenswerten Werk über die mittelalterlichen Wundervölker und Fabelwesen zeichnet er ein sehr differenziertes Bild dieser bemerkenswerten und sonderbaren Gestalten.

Als Monster bezeichnet Simek „Menschen oder menschenähnliche Wesen mit körperlichen oder anderen Abweichungen“ sowie „Mischwesen“ zwischen Mensch und Tier. Außerdem zählen zu den Monstern im Mittelalter Meereslebewesen wie Meerkühe, Meermönche, Wale oder Krokodile. Nicht zu ihnen gehören Einhörner, Drachen, Trolle, Basilisken, Greife und andere Bestien sowie Dämonen als übernatürliche, körperlose, gefallene Engel. Dämonen und Bestien können Menschen schädigen und töten; von den Monstern allerdings – so betont und belegt Simek eindrucksvoll – geht keine Gefahr aus und die Monster werden auch nicht als gefährlich eingestuft (wenn man von den Anthropophagen absieht, die aber eine Ausnahme darstellen).

Die Monster gelten als Menschen (nur die Meermonster können rein tierisch sein), sie besitzen daher eine Seele und die Aufgabe der Christen im Mittelalter bestand darin, diese Wesen zu bekehren und zu taufen (was ein gravierendes Problem darstellte, da man etwa die Antipoden auf einem weit entfernten, unerreichbaren Kontinent vermutete). Die Wunderwesen werden als Völker und nicht als singuläre Erscheinung begriffen. Diese Völker bilden Gemeinschaften mit eigenen Gesetzen und Lebensweisen. Sie bewohnen dem europäischen Menschen in der Regel nicht zugängliche periphere Regionen und Kontinente. Die Monster stellen damit das Andere, Fremde dar und zwar das Fremde in großer Ferne. Sie zählen als Wundermenschen zum göttlichen Schöpfungsplan und sollten entsprechend als Vorzeichen (portenta) ausgelegt werden. Der Existenz der Monster liegt also eine „göttlich-pädagogische Intention“ zugrunde, wobei die Allegorese der Monster nicht festgelegt ist, sondern sich im Laufe der Zeit wandeln kann. Die mittelalterlichen Autoren liefern dazu teilweise divergente sowohl „strikt moralische“ als auch nur „ethnographisch-sammelnde“ Deutungen. Konrad von Megenberg fordert in seinem Buch der Natur sogar seine Leser dazu auf, die Allegorese zu einigen Wunderwesen selbst vorzunehmen.

Simek erzählt beginnend in der Antike die Geschichte der Monster für das Mittelalter und stellt dazu die zentralen Quellen vor. Er verortet die zahlreichen Wunderwesen wie kopflose Acephales (auch Blemmyae), Amazonen, großlippige Amycterae, Antipedes mit ihren nach hinten gekehrten Füßen, mundlose Astomes (die vom Geruch der Äpfeln leben), nackte, weise, Höhlen bewohnende Bragmani, einäugige Cyclopes, hundsköpfige Cynocephales, einfüßige Skiopodes und viele andere mehr im mittelalterlichen Weltbild, das er ebenfalls anschaulich und umfassend erläutert. Ausführlich werden die Kriterien für die Wunderlichkeit der Wesen und die Grenzen zwischen Mensch, Monster und Tier sowie die Sonderformen wie die Meerwunder dargelegt. Des Weiteren erörtert Simek mittelalterliche Erklärungen für die Ursachen der Monster und ihre Deutungen und geht schließlich auch der Frage nach, warum man im Mittelalter wohl an die Wunderwesen glaubte. Wie sehr die mittelalterlichen Vorstellungen von den Monstern, die an der Peripherie der Welt leben sollten, die Wahrnehmung der „Entdecker“ der Neuzeit prägten, schildert er am Beispiel der Kannibalen bzw. Anthropophagen, auf die man meinte, in der Neuen Welt treffen zu müssen. Die Reisenden hatten ihr mittelalterliches Weltbild mit im Gepäck und sahen, was sie erwarteten. Die narrativen Ausführungen ergänzt Simek durch ein sehr informatives Lexikon der menschlichen Monster (die Meerwunder wurden nicht aufgenommen).

Mit dem Buch legt Simek in doppelter Hinsicht ein überfälliges Standardwerk vor: Einerseits erläutert er eingehend die Bedeutung der Monster im Mittelalter und andererseits nimmt er im Lexikon jedes in der mittelalterlichen Literatur erwähnte menschliche Monster auf. Ihm gelingt es durch seine anschauliche und nichtprätentiöse Sprache, sein Thema verständlich und gut lesbar zu entfalten. Er spricht damit nicht nur Mediävisten, sondern überhaupt am Mittelalter und an Monstern interessierte Leser an. Darüber hinaus wird die Lektüre für Nichtfachleute, Lehrer und Oberstufenschüler (die Thematisierung mittelalterlicher Weltbilder und Vorstellungen von der Welt und damit auch von ihren Bewohnern, zu denen die Monster zählen, fordern einige Lehrpläne) durch die zahlreichen Übersetzungen mittelhochdeutscher oder lateinischer Zitate, die vielen farbigen Abbildungen der Monster sowie das ansprechende Layout erleichtert. Wer das Buch liest, erfährt nicht nur eine Korrektur der Vorstellungen von Monstern, wie sie die populäre Kultur vertritt, er erhält außerdem einen verständlichen und profunden Einblick in das mittelalterliche Weltbild.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Rudolf Simek: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen.
Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2015.
345 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783412211110

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