Bekenntnisse aus dem inneren Hannover

Tex Rubinowitzʼ Bachmann-Preisträgertext „Irma“

Von Wieland SchwanebeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wieland Schwanebeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So ritualisiert wie der jährliche Klagenfurter Lesemarathon, der sich Ingeborg-Bachmann-Preis schimpft, ist die Litanei darüber, der letzte Jahrgang habe mal wieder gar nix getaugt. Vorgeworfen wird den beteiligten Autorinnen und Autoren dabei alles zwischen Elfenbeinturm, Weltvergessenheit und – als Stigma ganz besonders schwer abzuschütteln – Humor, der für die literarische Elite (nicht nur, aber ganz besonders in der BRD) auf der Beliebtheitsskala irgendwo zwischen Pilzbefall und Heftchenliteratur rangiert. Kein Wunder, dass die letztjährige Entscheidung, den Preis Tex Rubinowitz für einige Kapitel aus seinem damals noch unvollendeten Manuskript „Irma“ zuzusprechen, nach Kräften abgewatscht wurde: Von einem mediokren Text und von einer Entscheidung mit verheerendem Symbolgehalt sprach der Wiener „Standard“, auch andere Berichterstatter kamen nicht umhin, sich vor allem darüber zu wundern, dass mal „was Lustiges“ gesiegt habe, als sei damit bereits ein sicheres Qualitätsurteil gefällt. Mit anderen Worten: ‚richtige‘ Schriftsteller gern zur Vordertür rein, Humoristen bitte nach Einbruch der Dunkelheit am Dienstboteneingang.

Tex Rubinowitz dürfte mit seinem „Irma“-Sieg nicht die Gesetze des literarischen Höhenkammdiskurses auf Dauer verändern, aber immerhin darf man anerkennen, dass er mit dem aus dem Klagenfurter Manuskript entwickelten Text, der jetzt als Roman vorliegt,  konsequent weiter seinen Weg geht. Die spröde und eigenwillige Irma, um deren Zuneigung der Erzähler in den ersten Kapiteln tänzelt, entpuppt sich nämlich letztlich als nicht viel mehr als der MacGuffin seiner Lebenserinnerungen – die ersten paar Zentimeter eines roten Fadens, denen der Leser in die Geschichte folgt, um bald nach biographischen Abbiegungen und Verästelungen, nach Rubinowitzʼ zahlreichen Erinnerungen an Aushilfsjobs und Leberverzehr mit dem Vater vor ganz andere vollendete Tatsachen gestellt zu werden, oder wohl eher: vor Tatsachen und Halbwahrheiten.

Ob der Autor wirklich mal in einem japanischen Plattenladen neben Elton John gestanden oder Ethan Hawke beim gemeinsamen Besuch eines Black-Metal-Konzerts verschaukelt hat, ob er ernstlich der Meinung ist, M. Night Shyamalan habe den Plot seines Erfolgsfilms „The Sixth Sense“ bei ihm geklaut – es kann dem Leser eigentlich egal sein, denn in der bloßen Behauptung dieser Schnurren erweist sich Rubinowitz als abgeklärter Erzähler, dem man zutraut, dass er seine schönsten Anekdoten auf der Rückseite des zerknüllten, nur knapp vor dem Mülleimer geretteten autobiographischen Pakts notiert. Dass das Leben nichts anderes „als subjektive Interpretation, also Fälschung“ ist, weiß sein Erzähler.

Mit seiner charmanten Lebensbeichte, der, wer möchte, ein wenig lakonisches Außenseitertum im Ton von Wolfgang Herrndorf abhorchen mag, verpflichtet sich Rubinowitz weder ganz auf die klassische Memoirenliteratur noch auf den Bildungsroman oder seinen aufmüpfigen Cousin, den Schulabbrecher-Bericht. Ein wenig „Dichtung und Wahrheit“, ein wenig „Wilhelm Meisters Schlurf- und Schlenderjahre“, keine Minute langweilig: Dafür sorgt der Autor allein schon mit seinem nie versiegenden Vorrat an Sammelsuriumswissen, mit dem er bereits mehrere Listenbücher gefüllt hat (zum Beispiel „Die sieben Plurale von Rhabarber“, 2013). Hier tummeln sich kleine und große Namen der Populärkultur, trifft man auf Pornodarstellerinnen, erfährt vom Subtext des Karel-Gott-Schlagers „Und morgen wird die Sonne wieder scheinen“ sowie der generellen Überschätztheit von Schweden, und wird dazu angeregt, die Fanfare des „Rocky“-Soundtracks doch mal mit dem Intro zu „Wer will fleißige Handwerker sehn?“ zu vergleichen. Dazwischen: Kneipengeschichten, nächtliche Erlebnisse per Anhalter, skurrile Begegnungen in der sowjetischen Eisenbahn, Erfahrungen als Medikamententester, und reichlich Obsession, soweit es die Kinogöttinnen des europäischen Nachkriegsfilms angeht. Dass die meisten Frauen in „Irma“ wie Rita Tushingham oder Rossy de Palma aussehen, kann niemanden überraschen, der sich an Max Goldts kleines Porträt des Kollegen Rubinowitz aus den 1990er-Jahren erinnert: Des Künstlers einziger Wunsch im Leben sei es gewesen, „seinen Kopf in die Vagina Liv Ullmanns zu stecken, um zu ersticken“.

Was im authentisch eingefangenen Sound von „Irma“ leider ein Fremdkörper bleibt, zum Glück aber auch nicht so häufig auftaucht, dass es dem Buch das Genick brechen könnte, sind die rahmenden Metaepisoden, in denen der Erzähler von seinem Therapeuten kritisch hinterfragt wird oder in denen er Einblicke in die Lektoratswerkstatt gibt. Man weiß nicht, ob diese irgendwo zwischen „Portnoys Beschwerden“ und gelangweiltem Kehlmann angesiedelten Fingerübungen mit Kalkül eingefügt wurden, sie wirken jedenfalls wie eine extra für den Feuilleton-Leser platzierte, bräsig-postmoderne Spielerei, die derart aufgesetzt Literarizität verströmen möchte, dass man sich schnell wieder nach neuem Stoff aus den Flegeljahren des Erzählers sehnt oder ihm bei der Suche nach der „in meinem inneren Hannover“ verschütt gegangenen Libido über die Schulter schauen möchte.

Man schwankt vergnügt aus diesem Buch, wie man von einem gelungenen Abend mit Freunden, von einer nächtlichen Gott-und-die-Welt-Plauderei heimkehrt, die vom Hundertsten ins Tausendste abgedriftet ist. Gut möglich, dass man am nächsten Morgen nicht mehr viel davon aufsagen kann – aber man wäre trotzdem gern beim nächsten Mal wieder dabei. Der Rowohlt Verlag sollte sich also keine Sorgen machen – Rubinowitz, der mit seinen ersten Prosaversuchen „zwei Verlage gewissermaßen in Schutt und Asche gelegt“ haben will, profiliert sich mit „Irma“ mühelos als begabter Erzähler. Für das mit dem Humor kann er ja noch in Behandlung gehen.

Titelbild

Tex Rubinowitz: Irma.
Mit Zeichnungen von Max Müller.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
239 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783498057992

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