Breslau wird Wrocław

Über die Wandlung(en) eines Stadtnamens

Von Marek ZyburaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marek Zybura

Als am 6. Mai 1945 die Festung Breslau kapitulierte, gingen sechs Jahrhun­derte ununterbrochener deutscher Präsenz in der Stadt abrupt zu Ende. Mitte des 14. Jahrhunderts war sie aus der polnischen unter die böhmisch-habsburgische und dann im 18. Jahrhundert unter preußische Herrschaft geraten. Anfangs sträubten sich die verbliebenen 150.000 deutschen Einwohner gegen die Übergabe an Polen durch die Gründung zweier sowjetisch konzessionierter Organisationen mit administrativen Befugnissen, der „Vereinigung Deutscher Antifaschisten“ und der „Antifaschistischen Freiheitsbewegung“, die die Arbeit der sofort nach der Kapi­tulation der Festung eingesetzten polnischen Verwaltung zu sabotieren versuchten. Doch zerstreuten die Potsdamer Beschlüsse und die anschließende Vertreibung der deutschen Bevölkerung jeden Zweifel über die weitere Zukunft der Stadt. Auf westdeutscher Seite (in der ehemaligen DDR wurden die Gebietsverluste im Osten tabuisiert) wurde diese weitere, nun polnische Geschichte der Stadt nicht weiter zur Kenntnis genommen. Die Geschichte Breslaus hörte aus dieser Perspektive im Mai 1945 auf; die polnische Stadt Wrocław erschien aus dieser Perspektive als Fremdkörper ohne jeden Zusammenhang mit dem alten Breslau.

Konzentriert auf das Leid der Vertreibung blendeten die Deutschen allerdings den polnisch-slawischen Anteil an der Stadtge­schichte aus, der die atmo­sphärische Eigenart dieses wichtigen Transitortes zwischen dem Reich und Polen jahrhundertelang mitgeprägt hatte. Die Hauptstadt der immer schon multikulturellen und -nationalen Grenzprovinz Schlesien war nie nur deutsch gewesen (wie übrigens auch Danzig, dessen „Heimholung“ aus dem geteilten Polen ins Königreich Preußen Johanna Schopen­hauer bitter beklagt hatte). Bezeichnend für die einseitige deutsche Sicht ist etwa die Tatsache, dass es vergeblich wäre, in der neuesten deutschen Geschichte Breslaus („Breslau – Biographie einer deutschen Stadt“, 2014) von Günter Elze oder in Gerhard Scheuermanns zweibändigem „Breslau-Lexikon“ (1994) – beide Autoren sind gebürtige Breslauer – nach Reflexionen über den pol­nischen Anteil im deutschen Breslau zu suchen.

Das Bewusstsein für diese Multikulturalität war aber in Deutschland noch im 19. Jahrhun­dert vorhanden. Fanny Lewald zum Beispiel notierte in ihrer „Lebensgeschichte“ (1861/62): „Breslau hat auf mich, so oft ich es besuchte, in seinem eigentlichen Kerne niemals den Eindruck einer deut­schen Stadt gemacht, und 1832 erschien es mir besonders fremdartig. Es war nicht der Markt […], es waren auch nicht die alten Kirchen oder die einzelnen zum Teil sehr alten Häuser, die mir auffielen und nicht als deutsch erschienen, sondern ein gewisses, mir selbst unerklärliches Etwas in der Physiognomie der Stadt, von dem ich mir sagte, das sei polnisch“. Nach 1945 passten solche Worte nicht mehr in das von den Vertriebenen kontrollierte erin­nerte Bild der Stadt.

Anders war es um das Verhältnis der Polen zu dieser Stadt bestellt. Die Übernahme neuer Gebiete im Westen – und damit auch die Breslaus – kam für die polni­sche Öffentlichkeit, aber auch für die politischen Eliten des bis 1945 besetzten Polens recht unverhofft. Zwar tauchte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, noch war Polen zwischen Deutschem Reich, Österreich-Ungarn und Russischem Reich geteilt, in der historiographischen und politischen Publizistik  Roman Dmowskis, eines nationalkonservativen Ideologen („Deutschland, Rußland und die polnische Frage“, 1908) die sogenannte „piastische Idee“ auf, derzufolge Polen zu restituieren sei in den mittelalterlichen Grenzen des polnischen Staates zur Zeit der Herrschaft der Dynastie der Piasten. Polen lag damals zwischen Oder und Bug, also in etwa entlang der heutigen deutsch-polnischen Grenze. Die Bedeutung dieses Konzepts blieb im öffentlichen Bewusstsein Polens jedoch in der Folge­zeit marginal, weil es sechs Jahrhun­derte polnischer Geschichte ausblendete: Seit dem Abfall Schlesiens an die Habsburger war Polen territorial, politisch und kulturell immer weiter ostwärts expandiert. Die meisten Polen wollten die Wiederherstellung dieses östlicheren Polen. Dessen jahrhundertelange Entwicklung hatte Andenken an die mittelalterliche Wiege des Staates im Westen geschwächt und die nachfolgenden Generationen von Polen auch emotional immer stärker an jüngeren polnischen Macht- und Kulturzentren im Osten gebunden. Die Erinnerung an das einst polnische Schlesien war in Polen immer dünner geworden, obwohl gerade von der deutschen Seite aus noch im 17. Jahrhundert der Breslauer Pastor Johannes Kurtzmann Schlesien als „die Tochter der Mutter Pohlen“ bezeichnete und der Schriftsteller Johann Gottlieb Schummel unter dem Eindruck seiner „Reise durch Schlesien im Julius und August 1791“ eine Apologie auf die polnische Sprache in Schlesien verfasste. Wenige Jahre nach dem Auftreten Dmowskis führte der Krakauer Publizist Marian Słubicz in seiner Abhandlung „Polen zwischen Ost und West“ (1914) aus, dass zwar im 10. Jahrhundert die polnische Westgrenze entlang der Oder verlief, indes sich heute „wohl nur ganz wenige Polen finden ließen, deren Herzen bei Namen wie Kolberg oder Breslau höher schlagen würden, weil doch Lemberg, Stanisławów und Wilna unsere wahren Heimatstädte sind“.

Nachdem Polens Staatschef Józef Piłsudski im siegreichen Kampf gegen die Russen Polen weitgehend in seinen alten östlichen Grenzen wiederherge­stellt hatte, versank die „piastische Idee“ sang- und klanglos in Vergessenheit. Der deut­sche Überfall auf Polen im September 1939 aktualisierte zwar schmerzlich Dmowskis antideutsche Option, aber der Gedanke einer territorialen Vergel­tung im Sinne der „piastischen Idee“ wurde bis zuletzt verworfen. Die polnische Exilregierung in London sah in der eventuellen Westverschiebung Polens auf Kosten Deutschlands die Gefahr eines künftigen deutschen Revanchismus heraufziehen, dem sich Polen dann nur durch die politische Anlehnung an die Sowjetunion unter Preisgabe seiner eigenen Souveränität widersetzen könnte. Noch am 17. Dezember 1944 betonte deshalb Tomasz Arciszewski, der Präsident der Exilregierung, in einer Regierungsnote an Winston Churchill, dass Polen keiner­lei Ansprüche, „weder auf Breslau, noch auf Stettin“ erhebt. Die militärisch-­politische Entwicklung der letzten Kriegsphase ermöglichte es jedoch Josef Stalin, eine kommunistische Marionettenregierung in Polen zu installieren und die alli­ierten Westmächte vor vollendete geopolitische Tatsachen zu stellen, die sie nachträglich in Potsdam anerkannten, womit sie die „piastische Idee“ – sprich: in diesem Fall die sowjetisch kontrollierte Westverschiebung Polens – Realität werden ließen.

Blieb nun für die Deutschen im Fanal des Untergangs der Festung und der darauffolgenden Vertreibung der Bevölkerung die geschichtliche Uhr der Stadt stehen, so begann sie für die hierher einströmenden, meist ihrerseits ihrer östlichen Heimat, insbesondere Lembergs beraubten Polen quasi wieder im alten, das heißt „polnischen“ Takt zu gehen.

Dieser „Mechanismus“ wurde von mehreren Faktoren angetrieben. Zum einen war es der staatliche Apparat, der zuallererst die massive „piastische“ Pro­paganda ins Rollen brachte. Dieser beutete die „piastische Idee“ aus und statuierte den Mythos der Zurückholung „dieses Stückes des Piastenerbes“ beziehungsweise seiner „Rückkehr zum Mutterland Polen“, wie man ebenfalls zu sagen pflegte. Dies geschah sowohl im Hinblick auf die internationale Öffentlichkeit, vor der man die angeblich historischen Rechte Polens auf Schlesien, mithin auch Breslau, betonen wollte, als auch – und zwar in weit größerem Maße –im Blick auf die eigene, hierher aus dem Osten zwangsweise verlegte Bevölkerung. Es galt, wollte man sich hier auf die Dauer behaupten, die Bereitschaft unter den Einwande­rern, die sinnigerweise „Repatrianten“ genannt wurden, zu mobilisieren, die schwierige, von Krieg und Zerstörung gezeichnete Situation in den neuen Westgebieten zu meistern, was nur gelingen konnte, wenn diese die neuen Gebiete als die ihren annahmen. Das Gefühl, in einem territorial-politischen Provisorium zu leben, sollte diesen Leuten, die sich nur allzu oft dagegen sträubten, das fremde Land als ihre neue Heimat zu akzeptieren, genommen und durch das Bewusstsein ersetzt werden, an alte polnische Wurzeln anzuknüpfen. Dabei war die Berufung auf sogenannte „historische Rechte“ absurd im Falle einer durch friedliche Akkulturation vor Jahrhunderten weitgehend (wenn auch nie völlig) germanisierten Gebietes. Pikanterweise war die Berufung auf „historische Rechte“ ausgerechnet in Polen selbst schon im 18. Jahrhundert erfolgreich kompromittiert worden, als der großpolnische Historiker und Publizist Feliks Loyko die „historische“ Begründung der ersten Teilung Polens durch Preußen derart empfindlich bloßstellte, dass Berlin von dieser Legitimatonsstrategie bei den nächsten Teilungen abließ.           Der staatlichen Propaganda seit 1945 eilten die Intellektuellen, allen voran: die Schriftsteller, zu Hilfe. Literarische Inbesitz­nahme war der zweitwichtigste Faktor bei der Repolonisierung der Stadt und der Region. Den offiziell-zeremoniellen Auftakt hierzu gab 1947 der in Wrocław abgehaltene Gesamtpolnische Schriftstellerkongreß. Die Wahl der Stadt Wrocław als Versammlungsort kam nicht von ungefähr: Man war bemüht, die im gesellschaftlichen Bewusstsein vorhandene, tiefe Fixierung auf die an die Sowjetunion verlorengegangenen östlichen Provinzen nun auf das von Stalin quasi ersatzweise geschenkte neue Land im Westen zu verlagern. Die propagandistisch forcierte Ideologie der „Rückkehr zum Mutterland“ brachte in der Literatur eine Flut historischer Erzählwerke hervor, denen die offen eingestandene Absicht zugrunde lag, dem breiten Lesepublikum unmissverständlich nahezubringen, dass die jetzige polnische Inbesitznahme Schlesiens durch die Geschichte determiniert war und obendrein – in Anbetracht des angeblichen jahrhundertelangen deutschen „Drangs nach Osten“ – einen Akt historischer Gerechtigkeit darstellte.

Die einen Autoren, etwa Karol Bunsch in einem vielgelesenen Zyklus sogenannter „Piastenromane“, gingen daran, die deutsch-polnischen Aus­einandersetzungen zu Beginn der polnischen Staatlichkeit in Schlesien zu illu­strieren, die vermeintlich schon damals von der barbarischen Grausamkeit der Deutschen geprägt waren. Dem deutschen Wesen wurden darin verbrecheri­sche Instinkte attestiert, die Deutschen als Erzfeinde abquali­fiziert, die ungeachtet ihrer Übermacht und Rücksichtslosigkeit doch zu besiegen waren. So wird beispielsweise in Bunschs Roman „Hundsfeld“ (1953) ein sagenumwobenes Ereignis aus dem Feldzug des deutschen Königs Heinrichs V. gegen den schlesischen Herzog Bolesław III. Schiefmund im Jahre 1109 aufgegriffen: Die Deutschen hätten vor den Toren Breslaus eine derart vernichtende Nie­derlage erlitten hätten, dass die Hunde der Umgebung der Bevölkerung bei der Bestattung der großen Zahl toter Feinde hätten helfen müssen, weshalb das Schlachtfeld (heute Stadtteil Wrocławs) nachher eben „Hunds­feld“ genannt worden sei. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass derlei Bücher, außer dass sie die Anrechte Polens auf Schlesien historisch untermauerten, für ihre Autoren und die vom Krieg betroffene Generation der Leser auch Kompensationsfunktionen erfüllten. Andere Schriftsteller, wie etwa Anna Kowalska, die militantes Literatentum mieden, wandten sich in ihrem Versuch der recognitio terrae der Stadt als polnisch dem Modell der Stadt als Palimpsest zu:

„In manchen Stadtführern von Rom überdeckt den neuzeitlichen Stadtplan ein durchsichtiges Blatt mit dem Grundriß des antiken Roms. Der Leser kann jede Gasse und jedes Gebäude mühelos identifizieren und deren antike und jetzige Funktionen erfahren. Ebenso verfahren die Ein­wohner Wroclaws, indem sie der deutschen Stadt allmählich eine neue, für sie lesbare Folie des Polentums überlegen. Die Wissenschaftler rekonstruieren den Grundriß der alten polnischen Burg. Manchmal eilt ihnen ein Sturm zu Hilfe. Reißt er ein baufälliges Haus ab und blättert dabei von der benachbarten Mauer eine dicke Putzschicht ab, dann kann es passieren, daß den Umstehen­den die vergessene polnische Inschrift eines uralten polnischen Gasthofs in die Augen springt.“

In jedem Fall entwarf die Literatur zu den „wiedergewonnenen Gebieten“ insgesamt für die aus dem verlorenen polnischen Osten nach Wrocław verschlagenen Menschen einen neuen Gedächtnisraum in der Stadt, in der sie heimisch werden sollten.

Neben der offiziellen Propaganda und der literarischen wie kulturellen („Aufklärungs“-)Arbeit der Intellektuellen bildete die politisch sich anpassende Hal­tung der polnischen katholischen Kirche die dritte gewichtige Komponente des Repolonisierungs-prozesses der Stadt und der Region. Die Kirche erfüllte vorbehaltlos die von den offiziellen Ideologen und Prak­tikern der geistigen und kulturellen Angliederung der neuen Gebiete Polens an sie erhobene Forderung, sich mit der (auch institutionellen) Installierung des polnischen Katholizismus im Westen an diesem Werk zu beteiligen. Literarisch brachte die darauf folgende Entwicklung Zofia Walicka-Neyman in einem ihrer Gedichte im Bild des aus dem Osten gekommenen Siedlers zum Ausdruck, der „niederkniete und sein Gesicht zu Boden senkte / Mit der arbeitgewohnten und vor Erregung zitternden Hand / Nahm er diese Felder … Wälder … Wiesen, diesen Lerchengesang / Mit dem heiligen Kreuz­zeichen in den polnischen Besitz“. Schon im August 1945 begann der Primas August Hlond mit der polnischen Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ und überließ den vom Vatikan inte­rimistisch eingesetzten polnischen Administratoren das volle kirchliche Juris­diktionsrecht.

Nach Hlonds Tod 1948 wurde diese Politik noch energischer von seinem Nachfolger Stefan Wyszyński fortgesetzt, der 1952 ohne Abspra­che mit dem Vatikan ein neues, polnisches Domkapitel in Breslau errichtete. Anläßlich der 1965 abgehaltenen 20-Jahr-Feier der Neuordnung des polnisch­-kirchlichen Lebens im Westen und Norden Polens sagte er während des Pontifikalamtes am 15. August im Breslauer Dom:

„Hier [in Breslau] waren wir [… ] und wir sind wieder hier. Wir sind in das väterliche Haus zurückgekehrt […]. Diese Steine [des wiederaufgebauten Breslauer Domes] rufen zu uns von den Wänden, diese in der Gruft verbliebenen Gebeine, diese von der Erde geborgenen Überreste sprechen uns in unserer Muttersprache an […]. Wenn wir diese piastischen Gotteshäuser [auf der Breslauer Dominsel] sehen, wenn wir ihrer Sprache lauschen, dann wissen wir deshalb, daß das kein deutsches Erbe ist. Das ist die polnische Seele. Sie waren niemals deutsch und sind nicht deutsch. Das sind die Spuren unseres königlichen piastischen Stammes. Sie sprechen zum polnischen Volk ohne Kommentare.“

Diese Worte hätten ebenso gut von einem offiziellen Regierungspropagandisten stammen können, und sie belegen überdeutlich das politische staatsbildende Engagement der polnischen Kirche im Werk der Integration ehemaliger deutscher Ostprovinzen in das polnische Staatsgefüge. Nach Jahren noch knüpfte Karol Wojtyła (Papst Johannes Paul II.)  an die Worte des von ihm verehrten Wyszyński an und betonte während seines päpstlichen Besuches in Schlesien 1983 den piastisch-polnischen Charakter dieses Lan­des (wodurch er sich die Sympathien vieler Deutscher verscherzte). Dieser Fauxpas, den sich Wojtyła 1997 bei seinem erneuten Besuch in Breslau nicht mehr zuschulden kommen lassen hat, verweist auf den tief verinnerlichten antideutschen Affekt der polnischen katholi­schen Kirche.

Um die graue piastisch-polnische Vorzeit den neuen Bewohnern Breslaus möglichst gegenwärtig zu machen, raffte man in der lokalen polnischen Historiographie mit allen erdenklichen Mitteln die 600 Jahre deutscher Präsenz in der Stadt auf ein schnell zu vergessendes Intermezzo zusammen. Um es auch materiell auszulöschen, wurden aus dem Stadtbild visuelle Symbole, Embleme dieser Präsenz, Ikonen des Kulturgedächtnisses, in denen die deutsche Vergangenheit der Stadt quasi deponiert war, konsequent entfernt: Denkmäler, Inschriften, Epitaphien, ja Orte des kollektiven Gedächtnisses wie Friedhöfe et cetera. Diese Praktiken dauerten bis in die späten 1960-Jahre hinein an. Doch noch in dem 1983 im Auftrag der „Gesellschaft der Freunde Wrocławs“ als Reprint edierten Breslau-Blatt aus der Schedelschen Weltchronik von 1493 wurde auf Anordnung der Zensur die Originalüberschrift „Bressla“ entfernt und damit eine Fälschung produziert, die man dann allen Ernstes in den Buchhandlungen den Käufern anbot. Als wohl spätestes, zu dieser Zeit bereits nicht mehr selbstverständliches Beispiel, ist eine Anfang der 1990er-Jahre geschehene Absurdität zu nennen: Während der Renovierung eines alten Stadtgrenzsteins aus der Zeit der Jahrhundertwende wurde die auf ihm entdeckte Inschrift „Breslau“ weggemeißelt und durch den polnischen Namen „Wrocław“ ersetzt, wobei man das dazugehörige Datum „1900-1901“ unberührt stehen ließ.

Doch war bereits in den 1970er-Jahren ein Umdenken im Umgang mit der Vergangenheit der Stadt in Gang gekommen. Vorerst war dies ein Wandel in der mentalen Haltung der jungen, oft hier geborenen Einwohner Breslaus, die die offizielle Einstellung der Behörden langsam in Frage zu stellen begannen. Überall trafen diese in ihrer Lebenswelt noch auf deutsche Spuren, für die sich sogar ein eigenes Wort, „poniemieckie“ (post-deutsch), herausbildete. Die bis dahin betriebene offizielle Verdrängung des Deutschtums zeitigte gerade bei den hier Aufgewachsenen mitnichten die gewünschte Folge, die vertriebenen Breslauer Deut­schen samt ihrer Kultur und Geschichte aus dem lokalen Bewusstsein der neuen Bevölkerung spurlos zu tilgen. Sie verschwanden aus dem Straßen- und Stadtbild, aber sie waren trotz allem immer noch da: nicht nur in den (begreiflichen) rationalen Diskursen und den (noch verständlicheren) neurotischen Phantasmen der Polen. In ihrem Alltag waren sie da: eine Erfah­rung, die der Breslauer Autor Stanisław Nowicki (alias St. Bereś) in seinem in den 1980er-Jahren entstandenen und 1993 publizierten bekenntnishaften Text „Der Breslauer Amarcord“ (Amarcord wroclawski) beredt zum Ausdruck brachte:

„Ich wohnte in einem deutschen Haus, in dem seit Generationen deutsche Kinder zur Welt gekommen waren und deutsche Greise das Zeitli­che gesegnet hatten. Ich schlief in einem deutschen Bett, schaute auf deutsche Bilder an der Wand, badete in einer deutschen Badewanne, aß aus deutschen Tellern und Töpfen, spielte mit deutschen Säbeln, schrieb mit einer deutschen Füllfeder und deutscher Tinte, blätterte in deutschen Büchern […] Und sogar als ich meine Schulbluse vom Kleiderhaken zog, da sah ich darauf die Auf­schrift ‚Steuernagel‘ schimmern. Das war der Name des Arztes, der vorher in meiner Wohnung gewohnt hatte. Er hatte mir nichts Böses angetan … und ich wohnte inmitten seiner Habseligkeiten. […] Manchmal durchlief es mich: Jesus Maria! Wir wohnen doch auf gestohlenen Sachen!“

Die verordnete Tabuisierung dieses Sachverhalts, das darüber ausgebreitete öffentliche Schwei­gen, lastete immer unerträglicher auf der mentalen Atmosphäre der Stadt. Für die Generation Nowickis (geb. 1950), der Ende der 1940er-, Anfang der 1950er-Jahre in Breslau Geborenen, die in den 1970er-Jahren ins Erwach­senenalter traten, geriet dies zunehmend zu einem moralischen und intellek­tuellen Skandal.

Schwierige Phasen der nationalen Vergangenheit entziehen sich einem unmittelbaren Zugriff; um sie rational und distanziert aufzuarbei­ten, braucht man Zeit. Diese Aufgabe harrt meistens eben der Generationen, die, an den schmerzlichen Sequenzen jener Vergangenheit unbeteiligt, darauf unbelastet, was nicht besagt: teilnahmslos, zurückblicken können. „Wroclaw – eine Stadt ohne Gedächtnis“, diese Losung machte in den 1980er-Jahren in den immer noch inoffiziellen, aber eigentlich schon halboffenen intellektuellen Debatten über dieses Thema in der Stadt die Runde. Als einziger Ausweg aus dieser Sackgasse, sprich: aus dem den jungen polnischen Breslau­ern anerzogenen kulturgeschichtlichen Deprivationssyndrom, erwies sich die Rückbesinnung auf das deutsche individuelle (genährt durch persönliche Kon­takte) und kollektive Gedächtnis (konserviert in der deutschen Literatur und in den Erzeug­nissen der materiellen Kultur). Dieser Versuch, sich der Stadtvergangenheit über das deutsche Gedächtnis zu nähern, war von dem (un)bewussten mnemo­technischen Mechanismus mitgetragen, dass „uns immer Zweifel bezüglich der Erinnerungen befallen, die nur unser persönliches Eigentum sind“ (Lowenthal). Die nötige Offenheit dafür, sich in aller Natürlichkeit und von der geschicht­lichen und kulturellen Vergangenheit Breslaus unbeschwert des deutschen Gedächtnisses vergewissern zu können, entstand mit der politischen Wende der Jahre 1989/90. Bis dahin war ein gemeinsamer, deutsch-polnischer Bezugsrah­men für das kollektive Gedächtnis der Stadtbevölkerung nicht denkbar gewe­sen, ja sogar der bloße deutsche Name der Stadt war verpönt, und ein Rückgriff darauf kam einer Provokation gleich.

Zwei Autoren des Breslauer literarischen Untergrunds: Mirosław Spychalski (geb. 1959) und Mirosław Jasiński (geb. 1960), machten sich das Mitte der 1980er-Jahre zunutze, als sie ihre Lesun­gen durch Plakate mit deutscher Aufschrift – „Junge Prosa aus Breslau“ – ankündigten. Allerdings hatten sie es damit auf mehr als nur auf die Pro­vokation um ihrer selbst willen abgesehen. In ihren damaligen vom Breslauer Kolorit durchdrungenen Erzählungen (die 1989 in dem gemeinsamen Band „Eine heroische Geschichte“ publiziert wurden) setzten sie sich mit den Identitätsfragen, mit dem Problem des eigenen und fremden Gedächtnisses in diesem „historisch angewachsenen Raum“ (Friedrich Ratzel) auseinander. In einer dieser Erzählungen, „Montezumas Schatz“ (1987) von Jasiński, wird vom Abriss eines alten baufälligen Breslauer Hauses berichtet, dem zufällig ein deutscher Tourist, ehemaliger Bewohner des Hauses, zusieht. Als er im freigelegten Keller eine verfaulte Schachtel mit Spiel­zeug entdeckt, eben den „Schatz von Montezuma“ aus seiner Kinderzeit, will er sie zur Erinnerung mitnehmen. Einer der umstehenden Arbeiter nutzt die Situation aus und gaunert dem Deutschen 20 DM dafür ab. Daraufhin wird er vom älteren Vorarbeiter, einem aus Lemberg vertriebenen Polen, ins Gesicht geschlagen und darüber belehrt, daß man einem Menschen seine Erinnerun­gen nicht verkaufen könne.

Unübersehbar ist in dieser Entwicklung die Korrespondenz mit einer der Leitideen aus Jan Józef Lipskis berühmtem, damals offiziell noch bekämpften Essay „Zwei Vaterländer – zwei Patriotis­men“ (1981), der darauf hinwies, dass die Polen, ob sie es wollen oder nicht, mit der Übernahme Schlesiens und Pommerns zu Bewahrern des materiellen und geistigen Ertrags deutscher Kultur auf diesen Gebieten geworden sind. Die daraus resultierende Pflicht der Suche nach den Modalitäten seiner gemeinsa­men polnisch-deutschen Pflege gebietet, die sich auf diesen Ertrag und diese Gebiete beziehenden geschichtlichen Visionen und nationalen Mythologien der anderen Seite kennenzulernen und sie zur Kenntnis zu nehmen, mit ande­ren Worten: sich dem fremden Gedächtnis zu öffnen, es zum „gemeinsamen Gut“ werden zu lassen.

Zum bahnbrechenden Ereignis in dieser Hinsicht wurde in Breslau die am 19. Juni 1990 durch einen Beschluss des Stadtrates erfolgte Abschaffung des 1948 zwangsverordneten neuen Stadtwappens, das recht unbeholfenerweise an Breslaus piastisch-polnische Vergangenheit erinnern sollte, und die Wie­dereinführung des alten deutschen Karlswappens von 1530.

Das Bewußtsein, Kinder einer, der gleichen Stadt und Erben auch ihrer deut­schen Tradition zu sein, verwurzelt sich immer tiefer und fester in den Herzen und Gemütern der heutigen polnischen Breslauer. Nomen est omen: „Bresław“  – diesen deutsch-polnischen Titel trägt der 1996 erschienene Essayband des Schriftstellers Andrzej Zawada (geb. 1948), der darin unter anderem dem deutsch-polni­schen Erscheinungsbild seiner Stadt nachgeht. Zahlreiche stadtgeschichtliche Publikationen (Zweisprachigkeit ist oft schon selbstverständlich geworden), Dokumentationen und Ausstellungen (wie diejenige von 1995 über die Vertreibung der Deutschen) prägen jetzt auffallend die kulturelle Aura Bres­laus mit. Da sie sich im Unterschied zur Großväter- und Vätergeneration nicht mehr als Gäste in ihrer Breslauer Heimat fühlen, sondern als deren berechtigte Bewohner und Besitzer, bahnen sich die heutigen Breslauer selbstbewußt den Weg zu einer unverfälschten Geschichte ihrer Stadt. Damit leisten sie ihren Beitrag zu einer neuen, entideologisierten Regionalgeschichte Polens, die, wenn sie auch zu großen Teilen die Geschichte der Anderen (sprich: der Deutschen) ist, so doch nicht mehr fremd für die Polen im heutigen Wrocław, Legnica (Liegnitz), Szczecin (Stettin), Gdańsk (Danzig) oder Olsztyn (Allenstein) zu sein braucht.