Docta elegantia

Eine Laudatio auf Eberhard Lämmert – erneut veröffentlicht nach seinem Tod

Von Winfried MenninghausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Winfried Menninghaus

Vorbemerkung der Redaktion: Am 3. Mai 2015 starb der Literaturwissenschaftler Eberhard Lämmert. Zu einem literaturwissenschaftlichen Standardwerk wurde seine Dissertation, die 1955 unter dem Titel „Bauformen des Erzählens“ erschien. Von 1977 bis zu seiner Emeritierung 1992 war Lämmert Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Peter-Szondi-Institut der FU Berlin, von 1976 bis 1983 Präsident dieser Universtät, von 1996 bis 1999 Gründungsdirektor des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, von 1988 bis 2002 Präsident der Deutschen Schillergesellschaft in Marbach.

Der folgende Text übernimmt den Abdruck einer Rede, die Winfried Menninghaus, sein damaliger Kollege am Peter-Szondi-Institut, auf einem Fest aus Anlass der Emeritierung Lämmerts hielt. Er  erschien in einer Festschrift zu dessem 90. Geburtstag am 20. September 2014  (Vielfacher Blick. Hg. vonRalf Schnell, Petra Boden und Justus Fetscher. Siegen: universi 2014). Wir danken dem Verfasser für die freundliche Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung in literaturkritik.de.

Lieber Herr Lämmert, liebe Gäste,

im Namen des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft begrüße ich Sie zu dem Fest, zu dem wir Sie aus Anlaß der Emeritierung von Herrn Lämmert eingeladen haben. Dieses Fest soll keine Abschiedsfeier, sondern ein möglichst kurzweiliges Fest des Dankes und ein Zeichen unserer Verehrung für Sie, Herr Lämmert, sein. Meine kleine Rede auf Sie wird keine wissenschaftliche Laudatio Ihres Lebenswerks geben. Ich möchte vielmehr ein durchaus persönliches Bild Ihres akademischen und institutionellen Wirkens zeichnen.

Ein Satz aus der allgemeinen Ästhetik – und damit auch der Allgemeinen Literaturwissenschaft – soll als Motto und Leitmotiv meiner Rede dienen. Der Satz stammt von Nietzsche und lautet: pulchrum est paucorum hominum. Insofern wir nur wenige Personen – wenige zumindest gemessen am Wirkungskreis von Eberhard Lämmert – eingeladen haben, können alle hier Anwesenden sich gern in dieses etwas elitäre Diktum eingeschlossen fühlen. Ich erlaube mir aber, jetzt eine kleine Vorlesung in allgemeiner Ästhetik mit ausschließlicher Anwendung dieses Satzes auf Sie, Herr Lämmert, zu halten.

Als Einstieg berichte ich eine Episode aus dem Institutsalltag. Ich hörte einmal einen Studenten einen anderen fragen, ob er gleich ebenfalls zum „schönen Eberhard“ in die Vorlesung gehe. Ich möchte zeigen, daß diese Bemerkung durchaus eine tiefere Bedeutung hat.

Zur Erfüllung meines Redeziels ziehe ich sogleich eine zweite episodische Erinnerung heran. Vorausgeschickt sei ihr allerdings eine erste Interpretation meines Leitbegriffs. Dem Schönen wird spätestens seit der Homerischen Helena eine doppelte Wirkung zugeschrieben. Es belebt, führt – wie Kant sagt – „directe ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich“, und gleichzeitig vermag es tödliche Folgen hervorzurufen. Für einen ambitionierten Rhetor wäre es ein maximaler Ausweis seiner Redekunst, etwa seinen Zuhörern so eindringlich die Wertlosigkeit ihres Lebens oder Tuns vor Augen zu führen, daß sie Selbstmord begehen. Analog soll die schöne Literatur – Stichwort: Goethes Die Leiden des jungen Werthers – ja veritable Selbstmordwellen ausgelöst haben. Und nun kommt meine Übertragung auf Herrn Lämmert in Gestalt einer zweiten Anekdote. Aus Anlaß von Herrn Lämmerts 65. Geburtstag gab es einen Empfang im Literaturhaus in der Fasanenstraße. Nach den Festreden erhielten Sie, Herr Lämmert, selbst das Wort, und Sie hielten aus dem Stegreif eine so elegante und witzige Rede, daß ich neben mir einen durchaus bekannten Kollegen zu seinem Nachbarn sagen hörte: „Ich könnte mich glatt aus dem Fenster stürzen aus Verzweiflung, daß ich nie eine solche Rede werde halten können.“ Der Kollege ahnte wahrscheinlich nicht, in welche ehrwürdige Tradition des Lobs rednerischer Kunst er sich mit diesem Satz gestellt hat.

Aus dieser Anekdote möchte ich nicht nur eine captatio benevolentiae ziehen – denn auch mir macht die Vorstellung zu schaffen, wie viel besser Sie, Herr Lämmert, an meiner Stelle reden würden –, sondern auch eine durchaus ernste Nutzanwendung. Ich glaube, ich kenne niemanden, bei dem Redekunst und soziale Kompetenz so koextensiv sind wie bei Ihnen, Herr Lämmert. Sie betreiben die Wissenschaft von der Literatur – und damit von den Akten des meist einsamen Schreibens und Lesens – nicht nur als eine Wissenschaft vom Sozialen, sondern auch als eine ihrerseits soziale Kunst. Die unverwechselbare Geste der Offenheit, mit der Sie mich und Ihre Studenten wieder und wieder in Ihrem Arbeitszimmer begrüßt haben, ist mir dafür ebenso ein Beweis wie die unübertreffliche Eleganz, mit der Sie gleichermaßen wissenschaftliche, administrative und politische Diskussionen geleitet haben. Die docta elegantia, die Sie verkörpern, läßt uns ahnen, warum man im 18. Jahrhundert von den „schönen Wissenschaften“ gesprochen hat.

Für mein Motto – „pulchrum est paucorum hominum“ – ergibt sich hier eine zweite Deutung, die übrigens ganz im Sinne Nietzsches ist: die schöne und mehr noch die elegante Kunst der Rede läßt Schweres leicht tun. Die Kombination von unglaublichem Arbeitspensum, Entspanntheit und größter Offenheit, die ich an Ihnen täglich erlebt habe, ist mir ohne die Gabe, Schweres leicht zu tun – oder zumindest leicht erscheinen zu lassen –, kaum denkbar. Ihre Urbanität und Ihre Resistenz gegen kleinliches Denken erlauben gleichfalls eine Interpretation in Anlehnung an die Theorie des schönen Stils. In einer seiner lateinischen Bedeutungen ist der schöne Stil nicht so sehr durch schmückende Zutaten als durch Verzicht auf alles Überflüssige und den eleganten Weg zum Ziel gekennzeichnet. Diese Tugenden, als rhetorische und soziale, bewirken das, was einer Ihrer Kollegen im Vorstand des Marbacher Literaturarchivs mir gegenüber einmal als das „Glücksgefühl, von Ihnen präsidiert zu werden“, bezeichnet hat. Die Formulierung ist zugleich ein Paradebeispiel für kreative Übertragung. Sie verschaffen in dafür nicht prädestinierten institutionellen Umgebungen unerwartete „Glücksgefühle“, und diese wiederum erzeugen eine wahrhaft „glückliche“ Formulierung, die mir nun bei meiner rhetorischen Aufgabe hilft.

Der Auszeichnung durch Schönheit – zumindest als physische Attraktivität einer Frau oder eines Mannes – steht in einer langen Tradition oft ein weniger positives Komplement zur Seite: die Dummheit, genauer: die erhöhte Wahrscheinlichkeit der Zuschreibung eher mäßiger geistiger Fähigkeiten. „Schöne Männer“ stehen vom Adonis-Mythos bis weit in jüngere Zeiten gern im Verdacht, nicht besonders klug zu sein und nichts Ordentliches leisten zu können. In diesem Punkt muß ich eine Grenze meiner Allegorie einräumen. Denn wenn ich einen starken Affekt bei Ihnen, lieber Herr Lämmert, kennengelernt habe, so ist es derjenige gegen Dummheit und Engstirnigkeit, die Sie zu Ihrer großen Qual vielerorts entdecken, auch und nicht zuletzt in Universitäten. Da können Sie dann auch richtig böse werden. Und zugleich geben Sie mir dadurch eine weitere Gelegenheit, zu meinem Motto zurückzukehren: Wo andere nur durch Lautstärke und Grobheit polemisieren, da attackieren Sie weit mehr als durch den Inhalt durch die Eleganz Ihrer Invektiven. So erinnere ich mich etwa an Briefe an frühere Funktionsträger der Freien Universität, die in einer minimal art in winzigen Nebensätzen sprachliche Ohrfeigen unterbringen, die andere nicht mit gewaltigen Suaden verteilen können. Sie sind auch ein Meister der schönen verbalen Attacke, die nicht mit rhetorischen Analoga des Schwertes, sondern des Floretts oder sogar eines fein ziselierten Damendolchs geführt wird. Man sollte eines Tages eine Sammlung Ihrer schönsten bösen Briefe herausgeben.

Als Komparatist versuche ich nun mein Thema zu vertiefen, indem ich einen Vergleich anstelle. Einen Vergleich mit einer anderen bedeutenden Persönlichkeit, die ebenso wie Sie eine Zeitlang mein Chef war: nämlich Siegfried Unseld. Dieser Vergleich wird es mir erlauben, das Schöne durch den Kontrast zu seinem Kantischen Widerpart, dem Erhabenen, zu präzisieren. Was Sie beide vereint, ist dies: Sie verwandeln Macht in Produktivkraft. Nur deshalb verkörpern Sie so überzeugend, daß Macht auch eine intellektuelle Kunst und durch einen Eros eigener Art beflügelt sein kann statt nur eine verbissene Veranstaltung von Ehrgeizlingen zu sein. Beide sind Sie nicht Meinungs-beherrschend, sondern offen für die Art und die Ideen anderer. Die Art jedoch, wie Sie aus einer Machtposition Produktivkräfte Ihrer Mitarbeiter und Studierenden freisetzen, unterscheidet sich. Unseld holt in Gesprächsrunden aus den Köpfen seiner Lektoren auch Ideen heraus, die vorher in keinem Kopf vorhanden waren; seine größte intellektuelle Wirkung ist an seine physische Präsenz oder – im Verlagshaus – zumindest an die Idee seiner virtuellen physischen Präsenz gebunden. Diese Art der Wirkung ist zugleich sehr physisch und sehr charismatisch, in jedem Fall also sehr direkt, eine positive Gewalt, der zu widerstehen nicht leicht ist. Sie arbeiten als Chef dagegen sehr viel indirekter, weniger nach dem Paradigma einer umwerfenden charismatischen Präsenz als demjenigen der sanften Überredung. Einer motivierenden Überredung nicht so sehr durch direkte Gespräche als durch die Ansprüche, die Sie in der Folge Szondis in das Leben unseres Instituts eingebaut haben. Ihr Geheimnis im persönlichen Umgang scheint mir dabei eine Politik der unerhört langen Leine oder besser: eine schöne Tugend des Lassens zu sein. Diese Fähigkeit zum Lassen, zum Anerkennen und Fördern der anderen in ihrer Andersheit ist nicht korrelativ zum Viel-Machen, sondern sie ist eine eigene Fähigkeit, die gerade den Machern oft fehlt. Sie haben nie versucht, eine Schule zu bilden. Mit einer feinen Unterscheidung des Englischen könnte man sagen, daß Sie nicht disciples, sondern stets students hatten, ja daß Ihnen die Proselyten heranziehenden Kollegen eher suspekt waren. Sie haben eine solche Verschiedenheit der wissenschaftlichen Ansätze zugelassen und durch die Einstellung von Dozenten systematisch gefördert, wie es nur einem Denken von seltener Souveränität und Gelassenheit möglich ist. Die schöne Tugend des Lassens bei gleichzeitig enger informeller Fühlung ist der Schlußstein meiner kleinen angewandten Ästhetik, aber noch nicht meiner Rede überhaupt.

Abschließend möchte ich noch in wenigen Worten hervorheben, was ich als Ihr – sit venia verbo – Vermächtnis an die Literaturwissenschaften ansehe. So wie Szondi die Gattungen Drama und Lyrik, haben Sie vor allem die Erzählformen komparatistisch analysiert und gedeutet. Der herausragende Erfolg Ihrer Bauformen des Erzählens scheint mir dabei nicht darin zu liegen, daß die Desiderate dieses Buches bis heute unverändert aktuell geblieben sind. Nein, sie sind vielmehr alle paar Jahre wieder neu und anders aktuell geworden, haben eine enorme Anschlußfähigkeit für viele verschiedene Kontexte und Diskurse entfaltet. Ihre eigenen Arbeiten haben sich mehr und mehr den Fragen von Narrativität und Historiographie, von Geschichtsschreibung und Roman zugewandt. Was ich darin als Herausforderung neuerer Tendenzen der Literaturwissenschaften hervorheben möchte, ist nicht zuletzt eine strikt anti-esoterische Tendenz Ihres Denkens und Schreibens. Sie hören nicht auf, Literatur auch und vor allem als eine Form der Verständigung über uns selbst, über unsere Zeit und unsere Gesellschaft, zu betrachten. Kraft des formalen Moments der Narrativik können Sie das tun, ohne der herkömmlichen Kritik am Reduktionismus der Literatursoziologie zu verfallen. In den letzten zwanzig Jahren hat sich in den Literaturwissenschaften dagegen eine starke Tendenz herausgebildet, eine immer stärkere Akademisierung und Produktion nur für sich selbst zu betreiben, immer mehr Intelligenz und Scharfsinn auf immer kleinere Themen und immer feinsinnigere Fragen zu verwenden, denen dann gleichwohl gern irgendein Schein allgemeinerer historischer Relevanz angedichtet wird. Ich sehe voraus, daß diese Tendenz nicht unbegrenzt fortgesetzt werden kann. Gerade die anti-esoterischen Elemente Ihres wissenschaftlichen Ethos, so vermute ich, werden wir gut gebrauchen können, um unser Fach in den nächsten Jahren weiterzuentwickeln.

Schönheit – so komme ich zum Schluß auf meinen Leitsatz zurück – ist bei Homer zuallererst und zuallermeist ein Attribut des Geschenks, ein Attribut der Gabe (an Freunde wie Gäste, nahestehende wie ferne). Damit treten Schönheit, Gabe und Dank in eine enge Verbindung. Unsere Gabe, unser Dank an Sie soll dieser – hoffentlich schöne – Abend sein. Er ist kein Adieu, sondern er lädt Sie ein, auch ohne Verpflichtungen uns weiter verbunden zu bleiben.