Das bewegte Bild

Neues vom Comic in Theorie und Praxis

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist zehn, fünfzehn Jahre her, da stand der Comic ganz am Rand des Feuilletons und der Literaturwissenschaft. Natürlich, es gab Einzelgänger wie die Donaldisten Patrick Bahners und Andreas Platthaus, die in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Anspielungen auf Erika Fuchsʼ Disney-Übersetzungen einschmuggelten, es gab eine gewisse Reverenz für Altmeister wie Hergé oder Pioniertaten wie Art Spiegelmans Maus, doch alles in allem waren Comics und ihre Rezeption auf eine mehr oder weniger fest umrissene Subkultur beschränkt. Das hat sich jedoch gründlich geändert. Das gilt zum einen für die Verbreitung vor allem mittels des griffigen Etiketts „Graphic Novel“, das Augenhöhe mit der E-Literatur suggeriert. Es gilt aber auch für die kritische Auseinandersetzung, die längst über positivistische Fan-Artikel zu diesem oder jenem Comic der 1950er-Jahre hinausgewachsen ist. Zahllose Arbeiten existieren heute zum Comic als narratives Medium oder zur Verarbeitung gesellschaftlicher Diskurse; dies sind wichtige, wenn nicht die wichtigsten Tendenzen heutiger Comicforschung.

Wenn Jonas Engelmann in seinem Buch Gerahmter Diskurs behauptet, diese beiden Ströme zum ersten Mal zusammenzubringen, ist das sicher übertrieben. Dabei müsste Engelmann, Poptheoretiker und Mitherausgeber der Zeitschrift Testcard, gar nicht so umfassende Behauptungen aufstellen. Gerahmter Diskurs, die 2013 erschienene Buchfassung seiner Mainzer Dissertation, bietet trotzdem sehr viel, nämlich Analysen zumeist künstlerisch anspruchsvoller Comics daraufhin, wie gesellschaftlicher Gehalt und subtil eingesetzte Erzählformen in ihnen zusammenwirken. Dabei liest Engelmann – der (echte) Name lässt an Nicolas Mahlers bizarren Superhelden Engelman denken – die Texte zum Teil durchaus kritisch: So bestätigt er nicht nur den schon oft getroffenen Befund, dass die frühen Tim & Struppi-Bände wie Tim im Kongo und Tim in Amerika rassistisches und kulturkritisches Gedankengut transportieren, sondern zeigt auch im Detail, wie die Erzählstruktur bei dessen Vermittlung mitwirkt. Gleichzeitig untersucht er das Werk von Zeichnern, die mit Hergés Bekanntheit arbeiten und seinen Zeichenstil nutzen, um die von ihm vermittelten Inhalte zu kritisieren. Besonders anschaulich wird das anhand der Bitterkomix zweier südafrikanischer Zeichner, die im Stil der belgischen ligne claire arbeiten, aber nur, um einen allgegenwärtigen Rassismus kritisch darzustellen, der auch nach dem offiziellen Ende der Apartheid präsent bleibt.

Überhaupt gewinnen Engelmanns Untersuchungen ihre Stärke gerade aus der Kontrastierung von Comics, die man nicht unbedingt zusammengedacht hätte. Nach einer Modellanalyse anhand von In the Shadow of No Towers (2004), Art Spiegelmans kunstvoller wie hochartifizieller Auseinandersetzung mit dem 11. September, wird das Material thematisch geordnet, und zwar in die drei Großkapitel Rassismus, Krankheit und Religion. Die jeweiligen Comics sind stilistisch und in ihrer Behandlung des Themas eher heterogen, aber durch die Zusammenschau ergeben sich meist ganz neue Gesichtspunkte. Ein Beispiel wäre, wie unterschiedlich der amerikanische Zeichner Charles Burns und der frankophone Schweizer Frederik Peeters das Thema AIDS behandeln. In Burns‘ düsterem, von den Horrorcomics der 1950er-Jahre inspirierten Black Hole (1997-2005) wird eine Gruppe von Teenagern in der Nähe von Seattle von einer rätselhaften Krankheit befallen, die über sexuellen Kontakt weitergegeben wird, zu bizarren körperlichen Deformationen führt, und sie aus Scham in ein Leben im Untergrund zwingt. Der Begriff AIDS fällt kein einziges Mal, dennoch ist jedem Leser klar, dass Burnsʼ ganze Erzählung sich auf die Immunschwäche und die aus ihr folgende gesellschaftliche Stigmatisierung bezieht. Peetersʼ Comic Blaue Pillen (2001, dt. 2006) erzählt dagegen sehr viel direkter die Geschichte einer Beziehung zwischen dem autobiographisch angelegten Erzähler und der HIV-positiven Cati. Dabei thematisiert der Comic ganz offen die Ängste des Protagonisten, führt aber gleichzeitig die mit der Krankheit verbundenen Klischees ad absurdum.

Gerahmter Dirskurs strapaziert manche thematische Klammer schon sehr. Dass man Joann Sfars Klezmer, die Geschichte einer jüdischen Musikgruppe in der Sowjetunion der 1930er-Jahre, und Marjane Satrapis Persepolis unter der gemeinsamen Überschrift der Religion abhandeln muss, wirkt nicht zwingend. In der Mehrzahl der Fälle sind diese Zusammenstellungen aber erhellend, und Engelmanns Blick auf die Texte genau. Zu alledem handelt der Band nicht nur von Comics, die Zeichner Sascha Hommer und Wolfgang Buechs haben auch noch das Titelbild beziehungsweise liebevoll angefertigte Vignetten für die einzelnen Kapitel angefertigt. Etwas unglücklich ist dagegen Engelmanns Begriff des „Independent-Comic“. „Independent“ sind die meisten der von ihm analysierten Comics keineswegs. Weder erscheinen sie in obskuren Kleinverlagen noch sind die Künstler unbekannt: Peeters, Burns, Hergé, Sfar, Satrapi, Spiegelman, David B., Julie Doucet: Sie alle sind anerkannte Größen, deren Arbeiten bei einschlägigen, teilweise sehr großen Verlagen erscheinen. „Independent“ sind sie höchstens in dem Sinne, dass die meisten Arbeiten – natürlich außer Tim & Struppi – nicht als Teil langlebiger Serien mit statischen Figuren erscheinen (selbst Tim legte Mitte der 1930er-Jahre den schlimmsten Rassismus ab und wurde überhaupt im Laufe der Jahrzehnte liberaler). „Independent“ wirkt hier mehr wie ein Passepartout, das für eine bestimmte widerständige und anspruchsvolle Ästhetik steht – in dem Sinne, in dem auch Sonic Youth und Nirvana selbst dann als Indie-Bands galten, als sie bei großen Labels erschienen.

Da die Graphic Novels gerade boomen, springt selbst Suhrkamp, der seriöse Literaturverlag par excellence, auf den Trend auf. Teilweise gelingt das ganz hervorragend, so mit dem bereits erwähnten Nicolas Mahler, der bisher Thomas Bernhards Alte Meister (2011) und, sehr lustig und fast ohne Worte, den Mann ohne Eigenschaften (2013) ins Comicformat übertrug. Dieses Format haben die Umsetzungen von Bertolt Brechts Geschichten vom Herrn Keuner leider nicht, die der 1969 geborene Ulf K. in Szene gesetzt hat. Einerseits hat der Zeichner einen kongenialen Stil gefunden – Brechts karges, minimalistisches Erzählen ist in sparsame, klare Schwarz-Weiß-Zeichnungen umgesetzt. Sein Herr Keuner, ein bebrilltes Männchen mit schwarzen Haaren, sieht nicht nur Brecht ausgesprochen ähnlich, sondern auch dem Protagonisten in Scott McClouds Understanding Comics (1993), der dort lehrend in die Geschichte und Funktionsweise des Mediums einführt.

Der hohe Grad an Werktreue, den Ulf K. an den Tag legt, birgt jedoch die Gefahr, dass die Comics im Grunde uninteressant werden, weil sie ihre Vorlage nur in einem anderen Medium wiederholen. Am Überzeugendsten ist K. immer dann, wenn er kreativ über die Vorlage hinausgeht. Die Geschichte „Wenn die Haifische Menschen wären“ ist eine beißende Kapitalismuskritik, in der – wenig überraschend – die großen Haie die kleinen Fische ausbeuten. Die schöne Pointe ist jedoch, dass Herr Keuner, anders als bei Brecht, im letzten Panel selbst die Züge eines Hais angenommen hat und damit der Geschichte eine mögliche Bedeutung hinzufügt, die sie bei Brecht nicht hat. Vier vom Zeichner selbst erfundene Geschichten fügen sich bruchlos ein. Alles in allem hätte man Ulf K. aber noch mehr kreativen Mut gewünscht.

Manchmal gerät aus dem Blickfeld, dass der derzeitige Boom in Deutschland nicht allein westliche Comics, sondern vor allem Manga-Übersetzungen betrifft. Dabei können besonders die Titel auf einen Crossover-Erfolg hoffen, die sich wenigstens teilweise für eine westliche Ästhetik oder für im Westen relevante Themen öffnen. Dafür ist PIL, ein Band der 1967 geborenen Zeichnerin Mari Yamazaki, geradezu typisch. Schon der Name ist Programm – er bezieht sich auf Public Image Limited, jene Band, die Sänger John Lydon alias Johnny Rotten nach seinem Abschied von den Sex Pistols gründete. In fünf Kapiteln erzählt der Band von der rebellischen Schülerin Hanami und ihrem Großvater, mit dem sie Anfang der 1980er-Jahre zusammenlebt. Hanami ist so begeistert vom britischen Punk dieser Zeit, dass sie gegen das autoritäre Schulsystem rebelliert und sich die Haare abschneidet – ein unerhörter Akt. Hanami träumt davon, eine Zeitlang in England zu arbeiten, wo auch der Großvater in seiner Jugend gelebt hat. Das erweist sich jedoch als schwierig, da der leichtlebige Alte immer wieder das Haushaltsgeld der beiden verspielt oder für unnütze Dinge ausgibt. Gleichzeitig ist er die inspirierende Kraft auf ihrem Weg. Das alles ist im Rahmen der Manga-Konvention gezeichnet und künstlerisch keine Revolution, aber eine ausgesprochen sympathische und lesenswerte Geschichte.

Titelbild

Jonas Engelmann: Gerahmter Diskurs. Gesellschaftsbilder im Independent-Comic.
Ventil Verlag, Mainz 2012.
336 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783931555344

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ulf K. / Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner.
Herausgegeben von Andreas Platthaus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
130 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783518465172

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Titelbild

Mari Yamazaki: PIL.
Carlsen Verlag, Hamburg 2014.
190 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783551786005

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