Die Griechen der 1950er-Jahre

Wieder „Ein Fall für Kostas Charitos“ von Petros Markaris

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nun ist er also erschienen, der vorerst letzte Band jener Serie, die Petros Markaris seit 2010 schreiben wollte. Ursprünglich waren drei Kriminalromane entlang der politischen Katastrophe namens Griechenland geplant, in denen der zynisch trockene, etwas fahrige, aber doch familiär warmherzige Kommissar Kostas Charitos  kriminalistische Blicke auf die abgründigen Sozialbaustellen werfen sollte. „Faule Kredite“ erschien 2010;  „Zahltag“ 2011; „Abrechnung“ 2012; „Zurück auf Start“ nun also 2015. Aus der geplanten Trilogie ist eine Tetralogie geworden – das griechische Drama dauert noch immer an.

Petros Markaris ist der richtige Autor für diese negative Komplexität, für das tragische Gewebe unterhalb der weltöffentlichen politischen Geschichte. Geboren 1937 in Istanbul, pünktlich zum Aufstieg des europäischen Faschismus, der mit fataler Konsequenz auch die griechische Monarchie überrollte, besuchte der Sohn eines Armeniers und einer griechischen Mutter eine österreichische Schule in Istanbul. Ein Studium in Wien und Stuttgart machten  ihn zum Wahldeutschen – „zu 90 Prozent“. Zu seinen literarischen Arbeiten gehört eine „Faust“-Übersetzung, eine griechische Version von Bertolt Brechts „Mutter Courage“, gehören Fernsehserien und Drehbücher, unter anderem für Theo Angelopoulos. Trotzdem ist  Markaris weniger deutsch als kosmopolitisch und damit ein Gewinn für eine wachsende Leserschaft.

Dass er wie die meisten Auslandsgriechen fatalistisch besorgt auf die unglücklichen Maßnahmen der EU  und auf die noch unglücklicheren aus Athen blickt, versteht sich von selbst. Alle vier Romane nehmen solche  Unglücksausschnitte ins Visier, alle mit klarem historischen Wissen und Gewissen. Beides setzt er auch bei der nichtgriechischen Leserschaft voraus. „Faule Kredite“ aus der EU, damals noch EWG, haben Griechenland bekanntlich schon seit 1981 jene Schlinge um den Hals gelegt, von der Alexis Tsipras erst unlängst sprach. Doch nicht erst seit damals  quälen sich alle Seiten mit der osmanischen Verfasstheit dieser Gesellschaft. Mit Markaris sieht man zwei tiefe Risse die griechische Gesellschaft durchziehen.  Der ältere verläuft zwischen Herrschenden und Beherrschten seit der Gründung des Staates, den die Großmächte selber in einer politischen Dauerzwangsjacke, sprich Schuldenfalle verstrickten.

Kaum eine  Nation  hat so viele Schuldenkrisen hinter sich wie die griechische; und keine Nation vom Wiener Kongress bis zur Junta im Jahr 1967 fand sich so fremdbeherrscht und dabei zunehmend selbst zerfressen wie die Hellenen; zuletzt durch den zweiten großen Riss  zwischen Linken und Rechten, der das Land seit dem Bürgerkrieg (1946-1949) durchzieht und den die Finanzkrise seit 2009 wieder gnadenlos bloßlegt. Denn anders als in den meisten EU-Ländern ist der politisch linke Flügel in Griechenland kraft seiner kommunistischen Vergangenheit und fatalen Spaltung in Moskautreue und Eurokommunisten noch heute präsent.  Beide sind nun mit Syriza  an der Macht, wenn nicht gar unterwegs zurück in den alten sowjetischen Kontext zwischen China und Russland.  

Nichts davon hätte die Vorgeschichte zwischen 1974 und 2014 vermuten lassen. Griechenland, meinte der Ökonom George Bitros unlängst, wurde im Gegenteil seit seiner EU- Mitgliedschaft finanziell so gehätschelt, dass es sich nach den bitteren Erfahrungen von Welt- und Bürgerkrieg einen Schwenk zur Staatswirtschaft leisten konnte. Dass trotzdem bis 2010 die Haushaltsdefizite explodierten, führt Bitros auf eine zunehmende Planwirtschaft zurück. Mehr als die Hälfte der griechischen Volkswirtschaft werde inzwischen vom Staat kontrolliert, weite Teile der Preispolitik durch Fixierungen gehemmt.

Anders argumentieren die Autoren im Sammelband „Die Krise in Griechenland“ (2014) der  beiden Botschafter a. D. Ulf-Dieter Klemm und Wolfgang Schultheiß. Hier kritisiert man die unverwüstlichen osmanischen Erbschaften, den vielberedeten Klientelismus und Clan-Sinn der Bevölkerung. Wer die grausame Situation des Bürgerkriegs zwischen 1946 und 1949 bedenkt, wer Griechenland auch unter der Junta 1968 bis 1974 als Spielball des kalten Krieges begreift, muss die Konfliktlinie zwischen Planwirtschaft und ‚Clanwirtschaft‘ als unheilbaren dritten, gleichsam systemischen Riss in dieser Gesellschaft betrachten. Lange schien er durch die reichlich strömenden Gelder verdeckt, aber nun kehrt er zurück, mit trostlosen Aussichten auf das Scheitern der Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert.

In dieser Situation Kriminalromane zu schreiben wie Petros Markaris, ist ein genialer Gedanke aus dem Geiste Honoré de Balzacs. Überreich ist der historische Stoff der Krise, überreich die kriminelle Energie der Akteure, überreich auch das Magazin des Leidens. Seit 1995 gibt es nun also die fiktive Familie von Charitos, dem Leiter der Athener Mordkommission. „Langsam, altmodisch und unbequem“ nennt er sich selbst. Er hat den üblichen Streit mit seinem Vorgesetzten, fährt gern Auto auch im schlimmsten Stau, und wirkt wie ein Elendsverwalter des griechischen Niedergangs. Griechisch an ihm ist vor allem sein Familiensinn: Kostas ist verheiratet mit Adriani, einer resoluten Frau, hat eine Tochter namens Katerina, die Jura studiert, nach Ausbruch der Krise erst die Auswanderung plant, sich dann aber lieber als Anwältin von Asylbewerbern und Drogenabhängigen engagiert. Ihr Mann Fanis Ousounidis arbeitet als Kardiologe am Staatlichen Krankenhaus in Athen; ihre Freundin und Mitarbeiterin Mania ist Psychologin, deren Freund Uli ein Deutscher.

Nachlesen lassen sich diese und viele andere biographische Details am Schluss von „Zurück auf Start“, dem Markaris diesmal auch ein langes Personenverzeichnis seiner ‚Tragédie Humaine‘ mitliefert.  Wie in allen seinen Romanen geht es auch hier eigentlich um Robin Hood. Der oder die Mörder töten unerträglich gewordene moralische Monster; wer will, kann an die Racheengel der griechischen Tragödie denken. In allen vier Romanen geht es um historisch begründete Selbstjustiz; manchmal übernimmt eine Person die Verantwortung, manchmal auch eine Gruppe. „Faule Kredite“ beginnt aus heutiger Sicht erschreckend aktuell mit Enthauptungen von korrupten Bankern, mit Bestechung im sportlichen Drogenmilieu, mit panischen Ängsten wegen aufgenommener Privat-Kredite, eine im Griechenland von 2010 natürlich nicht mehr ganz unbekannte fiskalische Gebärde. In „Zahltag“ agiert der Mörder mit Schierlingsgift und Pfeilen frei nach Sokrates und in Anspielung auf ein legendäres hellenisches Todesurteil; bei gleichzeitig ganz modernem Plot: der Erfinder einer höchst praktischen App für den Fremdenverkehr wird abgewiesen, weil ihm ein Verwandter des Ministers die Idee stiehlt. Schon hier spielt der kafkaeske Behördensadismus die eigentliche Hauptrolle – als lähmender Gegenspieler jeglicher unternehmerischer Initiative. Sinnlose Sparzwänge, meist fälschlich als merkelgesteuerte Zwangsherrschaft empfunden, in Verbindung mit brutaler Konkurrenz vergiften das gesamte soziale Klima ˗ und die einzelnen Katastrophenmilieus bilden jeweils  Anlässe zum Rachemord. Diese realen Verhältnisse haben Markaris weniger zu einem Kriminalschriftsteller – Spannung ist nicht wirklich das Thema – als vielmehr zu einem Meister der sozialpathologischen Vignette gemacht. So etwa beginnt „Zahltag“ mit der erschütternden Szene eines Selbstmordes:

Wir sind vier alleinstehende Rentnerinnen […] Zuerst hat man unser einziges Einkommen, die Renten, gekürzt. Als wir dann zum Arzt gehen wollten, um uns unsere Medikamente verschreiben zu lassen, haben die Ärzte gestreikt. Kaum hatten wir endlich doch die Rezepte bekommen, sagte man uns in der Apotheke, wir könnten sie dort nicht einlösen, da die Krankenkassen bei den Apotheken in der Kreide stünden […]Daher haben wir beschlossen, zu gehen.

Verzweiflungsszenen wie diese gibt es in Griechenland offenkundig seit Jahren nicht nur im  Gesundheitswesen, sondern auch in der Land- und Bauwirtschaft, im Schul- und Bildungswesen, in der Finanz- und Kreditwirtschaft und natürlich auch in der Kultur. Also regiert inzwischen nicht nur Verzweiflung, sondern vor allem Hass und Rachsucht auf allen Ebenen. Hass zwischen den Generationen, im nachbarschaftlichen sozialen Milieu, im politischen Haus. In „Zurück auf Start“ gilt der Hass einem mafiosen Nachhilfelehrer, der an den skandalösen Zuständen im Bildungswesen verdient:

N. hat in seinem ganzen Leben nie unterrichtet. Seit 1981 hat er sich von einem Posten zum nächsten gehangelt. […]Er war Berater des Ministers, als ich Direktor am Lyzeum in Chalandri war. Er setzte sich dafür ein, den Unterrichtsstoff am Lyzeum zu vereinfachen, weil die Kinder überfordert seien, wie er sagte. Dadurch sank jedoch das Niveau der öffentlichen Schulbildung, und die Nachhilfeinstitute zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfungen an die Universität schossen wie Pilze aus dem Boden. Er hatte die Lehrer an seiner Seite, weil ihnen die Anstellung an den privaten Instituten einen zweiten Monatslohn sicherte.

Hass regiert natürlich auch in der weltpolitischen Szene wie etwa im Flüchtlingswesen. „Zurück auf Start“ wirft grelles Licht auf die zum Schlimmsten entschlossenen Machenschaften der Nationalisten (Goldene Morgenröte), die im wachsenden Flüchtlingsstrom mit SA-Methoden zur Macht kamen. Charitos’ eigene Tochter wird von ihnen niedergeschlagen, weil sie zwei Asylanten verteidigt. Markaris schildert das eindrucksvoll, aber da er sich bisher generell der Kritik an den EU-Spardiktaten (und der Troika!) enthält, unterbleibt hier leider die Anklage gegen die europäischen Institutionen, die einem Volk von zehn Millionen Einwohnern angeblich eine Million Flüchtlinge zumuten. Auch wenn es  in Wahrheit höchstens 100 000 sind:  man stelle sich vor, in Deutschland gäbe es achthunderttausend  Asylbewerber!  „Altmodisch, langsam und unbequem“ findet sich Charitos – und gleicht damit manchmal sogar den Mördern. So liefert der Serienmörder aus „Zahltag“, unter dem Namen „der nationale Steuereintreiber“ in seinen Bekennerbriefen zwar umständliche, aber kristallklare Begründungen:

Sehr geehrter Herr Agapios Polatoglou, Sie haben halb Attika mit illegalen Bauten überzogen. Von Penteli bis Pallini, von Dionyssos bis Nea Makri haben Sie Häuser und Villen errichtet: mitten in Forstgebieten, in Gegenden, die nach Waldbränden neu aufgeforstet werden sollten, und auf widerrechtlich angeeignetem öffentlichen Gelände. Und all das, ohne offiziell überhaupt zu existieren. Nach außen hin sind Sie ein kleiner Unternehmer, der Bautrupps für diverse Reparaturarbeiten zusammenstellt. Doch in Wahrheit führen Sie keine Reparaturen durch, sondern stampfen Neubauten aus dem Boden. Sie bestechen Beamte der Kommunalverwaltung und der Bauämter sowie Funktionäre aus dem Umweltministerium, um ohne Baugenehmigung luxuriöse Häuser zu errichten, die Sie dann diversen Steuersündern schüsselfertig übergeben. Schätzungsweise schulden Sie dem Staat Steuern in Höhe einer halben Million Euro. Unter Anrechnung der 200.000 Euro Schmiergeld, die ja als abzugsfähige Ausgaben gelten, sobald sie Ihr Einkommen tatsächlich versteuern, schulden Sie dem Fiskus 300.000 Euro. Hiermit ersuche ich Sie, obengenannte Summe innerhalb von fünf Tagen an das Finanzamt zu entrichten. Widrigenfalls wird anders abgerechnet und Sie werden liquidiert.
Der nationale Steuereintreiber.

Auch in „Zurück auf Start“ gibt es Bekennerschreiben, diesmal von einer Mördergruppe namens „Die Griechen der fünfziger Jahre“. Sie möchten den Skandal um die Bildung beheben oder auch die brutale Konkurrenz ausländischer Firmen beseitigen. Charitos muss erraten, ob sich hier wirklich uralte Leute als Mörder betätigen – vor allem der deutsche Leser kann sich dabei an den 92-jährigen Manilos Glezos erinnern, den Helden des Widerstandes, der 1941 die Nazifahne von der Akropolis holte und heute im Europaparlament sitzt. Aber nein, es sind jüngere Racheengel am Werk. Als Täter outen sich schließlich Menschen, deren Väter kurz nach dem Krieg jede Arbeit annahmen, um ihre oft großen Familien durchzubringen. Auch im Jahr 2014 gibt es solche Familien, nämlich eingewanderte Albaner, die ähnlich wie einst die griechischen Gastarbeiter in Deutschland einer herrschenden Schicht dienen und von dieser oft schmählich behandelt wurden. Hier dagegen gibt ihnen ein Unternehmer namens Makridis Arbeit. Er versucht, eine Solaranlage auf einer Insel zu installieren, doch wie der Erfinder aus „Faule Kredite“ scheitert er an den Behörden und begeht Selbstmord. „Die Griechen der 50er Jahre“ sehen darin einen Mord, den sie rächen wollen.

Makridis – der Name erinnert an Markaris: Auch die Romanfigur  wird als Wahldeutscher / Wahlgrieche beschrieben, der letztlich daran zugrunde geht, dass er beides nicht wirklich ist. Als Wahlgrieche kann er dem zackigen deutschen Unternehmergeist eigentlich nichts abgewinnen, als Wahldeutscher aber dem griechischen Fakelakismus erst recht nichts.

Autor Markaris dagegen ist Kosmopolit, auch wenn er sich in den Romanen eher deutschfreundlich gibt. Zwar wird im ersten Buch noch Frau Merkel als Mordstifterin vorgeführt, aber jetzt in „Zurück auf Start“ gilt sie sogar als vorbildlich, und das Thema „griechischer Gastarbeiter“ wird nicht, wie in manchen zeitgenössischen Pamphleten, als frühe Form deutschen waterboardings behandelt. Ist Markaris dabei zu versöhnlich?

Das Thema ‚Deutschland‘ hat im griechischen Spaltungsfuror jedenfalls schon groteske Züge angenommen. Dasselbe Volk, das der Bundesrepublik eine Wiedergutmachung von 278 Milliarden vorrechnet, weil vornehmlich durch die deutsche Besatzung abertausende Menschen ermordet wurden oder verhungerten, hat eine neonazistische Partei mit Hitlergruß bis ins Parlament kommen lassen und die rechte Anel-Partei bis in die Regierung. Während die Linke einen Prozess gegen zahlreiche Mitglieder der Goldenen Morgenröte anzustrengen versucht – er wurde sofort nach Eröffnung wieder vertagt –, kann die Rechte offenbar mit Erfolg die Freilassung führender Mitglieder erzwingen. Die Crux dahinter beschreibt Markaris auch im Roman: Wähler und Sympathisanten der Goldenen Morgenröte sind teilweise Polizisten und vermutlich eben auch Militärs. Dass die neue Athener Regierung  einen Verteidigungsminister aus Anel rekrutieren konnte – oder musste? –, der nun also den größten Haushaltsposten, das Militär, verwaltet, mutet wie eine ödipale Glanznummer an. Entstand nicht die (bisher!) letzte griechische Militärjunta unter dem Diktat einer berüchtigten deutschen Königinmutter? Friederike, die Mutter des jungen Konstantin II., soll diesen zur Duldung des Putsches gezwungen haben, der das Land bis 1974 gefangen hielt. Zahllose Linke wurden damals  verbannt, verhaftet,  gefoltert und ihrer Stellen beraubt. Niemand im Land hat das vergessen.

Titelbild

Petros Markaris: Zurück auf Start. Ein Fall für Kostas Charitos.
Übersetzt aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger.
Diogenes Verlag, Zürich 2015.
355 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783257069259

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