Verpflichtung des Gedenkens

Alvin H. Rosenfeld warnt in seinem Buch „Das Ende des Holocaust“ vor den antihistorischen Folgen einer sich wandelnden Holocaust-Erinnerung

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Kriegsende 1945 fiel das nationalsozialistische Mordregime endgültig in sich zusammen. Mit Entsetzen gewahrte die Welt, welche unermesslichen Verbrechen das Regime zu verantworten hatte. Im Zentrum aber stand der millionenfache systematische Mord an den europäischen Juden. Ein Verbrechen von unfassbarer Dimension. Wie aber sollte und konnte man mit diesem Geschehen umgehen? Ließen sich Worte finden für das Unfassbare? Welche Form der Erinnerung und des Gedenkens konnte ihm angemessen sein? Wer überhaupt konnte erzählen vom Geschehen? Die Täter? Von ihnen lebten noch viele und ihre Geschichten gerieten zu trivial-banalen Rechtfertigungslegenden. Die Überlebenden mussten erzählen, auf ihr Zeugnis kam es an: Autoren wie Primo Levi, Imre Kertész oder Elli Wiesel fanden beeindruckende Formen des Erzählens, die zweierlei deutlich machten: zum einen, dass, wie Imre Kertész schrieb, „das Konzentrationslager nur und ausschließlich als Literatur vorstellbar (ist), niemals als Realität“. Zum anderen, dass für die Überlebenden der Holocaust niemals endete.

In seinem Buch „Das Ende des Holocaust“ ist Alvin H. Rosenfeld der ersten „Audsrucksform“ des Erzählens vom Holocaust, die sich mit den Namen der drei genannten Autoren verbindet, verpflichtet. Inzwischen aber, 70 Jahre nach dem Geschehen, hat das Erinnern und Erzählen vom Holocaust längst weitere und andere Ausdrucksformen gefunden. Sie sind nun völlig losgelöst von den Zeugnissen der wenigen Menschen, die noch aus eigenem Erleben und Anschauen berichten können. Das Erinnern und Erzählen ist Teil der „gängigen Kultur“ geworden. Genau darin aber erkennt Rosenfeld eine problematische Entwicklung. Denn die im Laufe der Zeit sich wandelnden „Umgestaltungen“ der Darstellungen „können durchaus dazu beitragen, dass statt einer Festigung genauen und nachprüfbaren Wissens eine fiktionale Unterwanderung der historischen Wahrnehmung dabei herauskommt“. Es sind die Gefahren der Trivialisierung, der Popularisierung oder gar der Kommerzialisierung, die entstehen, wenn der Holocaust zum Thema von Romanen und Filmen wird. Und sie, so argumentiert Rosenfeld, bedingen „antihistorische“ Entwicklungen. Sie „untergraben das Gefühl für Geschichte und stumpfen ab“.

Rosenfeld belegt diese Befürchtungen, die insgesamt auf eine Relativierung der Geschehnisse hinauslaufen, plausibel und nachvollziehbar anhand verschiedener Beispiele. Auch wenn er sich dabei  vor allem auf Erfahrungen mit der amerikanischen Kultur und Politik bezieht, so lassen sich seine Schlussfolgerungen unschwer auch auf europäische Zusammenhänge übertragen. Zuweilen finden sie ihren Anlass in Europa. So interpretiert Rosenfeld den unsäglichen gemeinsamen Besuch des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagan 1985 auf dem Bitburger Soldatenfriedhof zu Recht als einen Versuch der Distanzierung von einer unseligen Vergangenheit, deren schreckliche Schuldverstrickungen nunmehr endlich (und mit US-präsidialen Verweis auf die gelungene Demokratisierung der Deutschen nach 1945 gewissermaßen zertifiziert) erledigt seien. Rosenfeld sieht im Auftritt des US-Präsidenten in Bitburg eine Folge der „Amerikanisierung“ des Holocaustgedenkens. Hierzu gehören auch neue Formen der Relativierung des Geschehens, etwa wenn die Verfolgung der indianischen Ureinwohner Amerikas durch die  werdende amerikanische Nation mit dem Naziverbrechen an den Juden gleichgesetzt wird.

Ist in solchen Fällen die Unangemessenheit des Vergleichs noch vermittelbar, so wird dies schon schwieriger, wenn es um die großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts geht: der Völkermord an den Armeniern, die Toten des sowjetischen Gulag, die „Killing Fields“ der Roten Khmer in Kambodscha, um nur drei dieser Ereignisse zu nennen. Sie alle stehen neben dem Holocaust und machen ihn zu einem unter anderen. Von derartigen Bagatellisierungen und Relativierungen ist es dann auch nicht mehr weit bis zur vollständigen Leugnung des Holocaust. Rosenfeld sieht „die Erinnerung an den Holocaust […] durch ein Aufgebot von kulturellen Zwängen bedrängt, die den Stellenwert des Holocaust als eines zentralen Ereignisses in der modernen europäischen und jüdischen Geschichte in Frage stellen“. So kann sich herausbilden, was er „das Ende des Holocaust“ nennt. In dem Maße aber, wie das Verständnis über die Einzigartigkeit des Holocaust verloren geht, wird die Anstrengung, sie in Erinnerung und Erzählen weiter zu bewahren, perfide umgedeutet: Ihren Höhepunkt findet diese Umdeutung in dem Vorwurf, es gebe eine Art „Holocaust-Industrie“, mit der interessierte jüdische Kreise ihr Geschäft betreiben. Hier vermischen sich  politische Instrumentalisierungen mit antisemitischen Klischees und rechtfertigen die sorgenvolle Schlussfolgerung Rosenfelds: 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs habe man genug gehört über die Drangsal der Juden. „Eine Haltung der Ungeduld mit den Juden und der Weigerung weitere Geschichten über ihre Viktimisierung zu hören – manchmal ausgedrückt als Gereiztheit, manchmal als Feindseligkeit – ist nun handgreiflich zu spüren“.

In dem Maße, wie sich derartige Einstellungen mit „unzweifelhaft bösartigen Zielen“ verbinden, die hinter solchen Stimmen erkennbar werden, die zunehmend „öffentlich die Nazi-Morde an den Juden gutheißen und sie als starken und nützlichen Präzedenzfall anpreisen“, so warnt Rosenfeld angesichts der Äußerungen des ehemaligen iranischen Präsidenten Ahmadinedschad und der Bedrohung Israels durch iranische Atomwaffen, wird über das „Ende“ des Holocaust hinaus seine Wiederholung denkbar. Ein „zweiter Holocaust“? Rosenfelds Mahnungen münden in der Einsicht Imre Kertészʼ, der nüchtern feststellt, dass seit Auschwitz nichts geschehen sei, was ein neues Auschwitz unmöglich machen würde. „Im Gegenteil. Vor Auschwitz war Auschwitz unvorstellbar […]. Gerade weil Auschwitz tatsächlich geschehen ist, hat es sich in unserer Vorstellung als eine reale Möglichkeit festgesetzt. Das, was wir uns vorstellen können, insbesondere weil es einmal geschehen ist, kann auch wieder geschehen.“

Titelbild

Alvin Rosenfeld: Das Ende des Holocaust.
Übersetzt aus dem Englischen von Manford Hanowell.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015.
273 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783525540428

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