Wozu lesen?

Ein von Nikola Roßbach herausgegebener Sammelband bietet 55 Antworten aus Literatur und Literaturwissenschaft

Von Michael DuszatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Duszat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich ernsthaft mit Literatur beschäftigt, wird früher oder später der Frage begegnen: „Wozu ist das eigentlich gut?“ Eine Antwort ist gar nicht so leicht zu finden. Und auch wenn man sie gefunden hat, ist es immer noch eine Herausforderung, sie anderen verständlich zu machen. Diesem Problem stellt sich der Sammelband Literatur verstehen – wozu eigentlich?, der immerhin 55 Antwortvorschläge bietet.

Die Texte, verfasst von „Literaturprofis aus Kunst und Wissenschaft“, sind in formaler Hinsicht erfreulich vielfältig. Denn obwohl der Band sich zumindest zum Teil als Beitrag zur Literaturwissenschaft versteht, ist die traditionelle Form dieser Disziplin – der wissenschaftliche Aufsatz – nur eine von vielen Textsorten. Daneben enthält das Buch zu etwa gleichen Anteilen auch Erzählungen, Gedichte, Essays, Dialoge und Collagen.

Dass unterschiedliche Genres unterschiedliche Möglichkeiten von Erkenntnis bieten, kann man nicht oft genug sagen, und dass die Kunst in Bezug auf die Experimentierfreudigkeit der Wissenschaft einiges voraus hat, ist genauso wahr. Von daher verspricht die Offenheit gegenüber künstlerischen Ausdrucksformen auch eine inhaltliche Vielfalt an Antworten auf dieselbe Frage.

Allerdings sind die 55 Antworten dann doch nicht so verschieden voneinander. Etwas vereinfachend gesagt, finden sich vier Varianten. Zum einen wird die Frage, wozu man Literatur verstehen soll, in vielen Beiträgen dadurch beantwortet, dass das Verstehen von Literatur als ein Königsweg zum Verstehen von anderen Dingen dargestellt wird (dem Universum, dem Leben, der Kultur, der Geschichte), dass also das Lesen uns die Kunst des Verstehens in besonderer Weise lehren könne.

Eine zweite Gruppe von Beiträgen macht demgegenüber deutlich, dass Literatur keine Dienstleistung darstelle, und dass sich auch durch das Verstehenwollen von Literatur eben nichts anderes als Literatur verstehen ließe, wenn überhaupt. Das Literaturverstehen wäre so gesehen eher ein Selbstzweck, genau wie die Literatur. Literatur existiert nun einmal, könnte man sagen, und wir wollen sie eben verstehen oder auch nicht.

Literaturwissenschaft und Literaturkritik als differenzierte und professionelle Formen des Verstehens von Texten können unter diesem Aspekt natürlich leicht als reine Privatsache erscheinen, wie die Religionsausübung in einer säkularisierten Gesellschaft. Demgegenüber wird von weiteren Beiträgen auch die kulturkritische Funktion nicht nur der Literatur selbst, sondern auch des Literaturverstehens herausgehoben, womit es dann natürlich wieder einen Nutzen bekommt.

Eine letzte Gruppe von Texten fragt weniger nach dem Zweck als nach der Natur des Verstehens: möglicherweise sollte es gar nicht um das Verstehen, sondern um das Erleben oder Erfahren von Literatur gehen. Das Verstehen ließe sich dann als eine unnötige Profanisierung solcher Erfahrungen beschreiben. Am interessantesten ist in diesem Zusammenhang übrigens einmal wieder, was Heiner Müller, der in einer Zitatmontage spricht, zu diesem Thema zu sagen hat. Da heißt es zum Beispiel: „Es zeugt von einem tiefen Kulturverfall, daß man sich heute, statt die Texte zu lesen, nur noch für das interessiert, was dahintersteckt“.

Der Band enthält keine Einleitung und gibt keine systematische Ordnung vor, sondern reiht die Beiträge alphabetisch nach Namen der Verfasserinnen aneinander. Dieser Verzicht auf eine systematische Ordnung hat natürlich seinen Reiz: In dem Aufeinanderprallen von Gegensätzen liegt ja stets das Potenzial für überraschende Erkenntnisse.

Auch die Geburtsjahre oder Berufe der Beitragenden werden nicht angegeben. Das ist ebenfalls nicht unbedingt ein Manko, weil es zumindest theoretisch eine größere Unvoreingenommenheit gegenüber den Beiträgen ermöglicht. Allerdings gibt es auch keine Bibliographie und nur wenig weiterführende Hinweise, wodurch der wissenschaftliche Anspruch insgesamt in den Hintergrund rückt.

Eine differenzierte oder systematische Diskussion aktueller Schwerpunkte der andauernden Selbstreflexion der Literaturwissenschaft bietet der Band also nur in Ansätzen. Wer sich aber bisher nicht so recht mit der Idee anfreunden konnte, dass es etwas „bringen“ könnte, Literatur zu verstehen, wird durch die Verschiedenheit der Stile und Ansätze ohne Frage einige Anregungen zum Weiterdenken finden.

Titelbild

Nikola Roßbach (Hg.): Literatur verstehen - wozu eigentlich?
Igel Verlag, Hamburg 2014.
291 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-13: 9783868155952

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