Kleine Prosa auf großer Bühne

Die Kritische Ausgabe der Werke Robert Walsers wird mit „Poetenleben“ fortgesetzt

Von Malte VölkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Völk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Werk Robert Walsers legt eine spielerische Bescheidenheit an den Tag. Eine höchst eigentümliche Bescheidenheit, in der nahezu jeder Satz, wie es scheint, im Ausgesprochen-Werden gleich seine eigene Zurücknahme intendiert. Walter Benjamin nannte diese Besonderheit Walsers eine „bäurische Sprachscham“, die, mit diebischer Freude in eine „Desperadostimmung“ kippend, selbst den klassischen Satz Wilhelm Tells abwandelt: „Durch diese hohle Gasse, glaube ich, muss er kommen.“ So wundert es nicht, dass die Form der Kleinen Prosa von Walser häufig gewählt wird, ja, dass er diese Form der erzählerischen Prosaminiatur maßgeblich prägen konnte. Fast möchte man meinen, der gravitätische Charakter einer kritischen Werkausgabe, an dessen geplanten 50 Bänden zahlreiche Philologen über Jahrzehnte hinweg arbeiten, würde gar nicht so recht zu diesen Texten passen, als lehnten sie dies als eine zu große Ehre innerlich ab.

Tatsächlich wurde diese in Basel (mit Schwerpunkt auf die zu Lebzeiten publizierten Texte) und Zürich (mit Schwerpunkt auf den handschriftlichen Nachlass) entstehende Großausgabe in der Kritik bereits mit genau diesem Widerspruch konfrontiert (vgl. Friedmar Apels Rezension der ersten Bände in der „F.A.Z.“ vom 11.2.2014). Daran lässt sich ablesen, wie lebendig Walsers Dichtung geblieben ist, wie sehr sie immer noch dazu anregt, aus sich selbst heraus verstanden zu werden. Doch sollte man sich auch vorsehen, Walsers Sprache nicht gar zu bruchlos beim Wort zu nehmen. Denn nicht als leisetreterisch äußert sich jene bescheidene Eigenheit, sondern eher als ein im literarischen Exzess sich stets erneuerndes Staunen; ein Staunen besonders über die Vielfältigkeit der Möglichkeiten im sprachlichen Ausdruck, über die, wie es im Brief eines Malers an einen Dichter formuliert ist, „tausend merkwürdigen, vagen, hin und her verstreuten Schönheiten, die dem Auge vielfach nur fluchtartig begegnen“. Ähnlich vielfältig war die Publikationspraxis Walsers, dessen Gesamtwerk selbst in den zu Lebzeiten veröffentlichten Teilen ungewöhnlich verstreut und variantenreich ist. Dadurch wird die Erstellung der kritischen Ausgabe eben zu einer solchen Mammutaufgabe, die das Werk eines der wichtigsten Dichter der Weltliteratur überhaupt erst sichert.

Der von Matthias Sprünglin herausgegebene neunte Band der Ersten Abteilung (Buchpublikationen) setzt die Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte Robert Walsers nun fort. Die Sammlung Poetenleben ist Ende 1917 als selbständige Buchpublikation erschienen und wird hier in der Textgestalt dieser Buchfassung dokumentiert. Sie beinhaltet 25 kurze Prosatexte, die Walser ausnahmslos bereits in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hatte. Diese vorherigen, für die Buchpublikation umgearbeiteten Fassungen werden jedoch – und hierin besteht eine schon andernorts hinlänglich beschriebene und zu Recht gelobte editorische Grundsatzentscheidung der Kritischen Walser-Ausgabe – als jeweils eigenständige Publikationen gesehen. Man geht also nicht von verschiedenen Stufen in einer Textentwicklung aus, die von einer Fassung letzter Hand gleichsam gekrönt werde, sondern versteht die verstreuten Varianten durchaus als eigene Werke.

Durch diese editorische Grundhaltung werden viele Kontextualisierungen überhaupt erst sichtbar, so wie etwa die zum Teil gezielte Anordnung von Walsers feuilletonistischen Texten innerhalb von Zeitschriften und Zeitungen, mit der diese nicht selten absichtsvoll in einen kommunikativen Zusammenhang mit tagespolitischen Meldungen gebracht worden sind. Das betrifft den vorliegenden Band insoweit, als hier nun ausschließlich die von Walser in Buchform publizierten Versionen der Stücke aus Poetenleben versammelt sind, während die in Zeitschriften publizierten Varianten der gleichen Texte in einem anderen Band der Ausgabe Berücksichtigung finden werden. Die vorliegende Buchfassung  enthält etwa den gemeinhin viel beachteten Brief eines Malers an einen Dichter, die avantgardistische Rede an einen Knopf und auch das Stück Schneewittchen, das Benjamin „eines der tiefsinnigsten Gebilde der neueren Dichtung“ nannte, das allein ausreichte, um „verständlich zu machen, warum dieser scheinbar verspielteste aller Dichter ein Lieblingsautor des unerbittlichen Franz Kafka gewesen ist“. Man erfährt bei Walser etwa, wie es am Königshof zugeht, nachdem Schneewittchen erwacht ist – bekommt also eine Art ‚Fan-fiction‘ auf höchstem Niveau geboten. Wollte man solche Darstellungen des Autors als Idyllen verstehen, so wäre dabei zu bedenken, dass das Idyllische daran weniger aus den beschriebenen äußeren Umständen stammt, sondern aus der Sprache selbst. Man könnte ausgehen von einer Utopie, der allein die Möglichkeit der literarischen Beschreibung der Welt Beweis genug ist für ihren Realitätsgehalt.

Der Materialteil des vorliegenden Bandes dokumentiert den gesamten Briefwechsel im Umfeld der Publikation von Poetenleben. So bekommt man Einblick in den materiellen Entstehungsprozess des Buches und in die publikationstaktischen Nöte, in die Walsers rastloses Veröffentlichen seinen Verlag Huber & Co. bringen konnte. Besonders interessant ist dabei, wie die Präsenz des Ersten Weltkriegs in die organisatorische Alltagskommunikation hineinragt. Auch die zeitgenössischen Rezensionen von Poetenleben werden sowohl in einer Synopse präsentiert als auch – auf der beiliegenden DVD – im Wortlaut dokumentiert. Ein anonymer Rezensent nennt Walser für das Burgdorfer Tagblatt den „schweizerischen Jean Paul“, was sicher treffend ist. Wie jener gehört auch Walser zu den Autoren, die besonders von Schriftsteller- und Künstlerkollegen hochgeschätzt werden – neben den erwähnten Benjamin und Franz Kafka war etwa auch die von Bernd Pfarr geschaffene Cartoonfigur Sondermann schon bei der Walserlektüre zu beobachten. Die Figuren von Walser, die „Gehülfen“, Tagediebe, Poeten und Büroassistenten sind nur vorgeblich Marginalisierte und sich Bescheidende. Denn sie zögern nie, ihre eigene Freiheit und Würde vor die Interessen Anderer zu stellen. So sind sie in der charmant ausgestatteten und editorisch keine Wünsche offen lassenden Kritischen Ausgabe mit Sicherheit am richtigen Ort.

Titelbild

Robert Walser: Poetenleben. Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Band I.9.
Herausgegeben von Matthias Sprünglin.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
224 Seiten, 48,50 EUR.
ISBN-13: 9783866001916

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