Die Folgen des digitalen Wandels

Michael Hagner fragt in „Zur Sache des Buches“, ob Open Access für das geisteswissenschaftliche Buch Fluch oder Segen bedeutet

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Nachdenken über die Buchkultur in den aktuellen Umbruchszeiten geschieht heute unter zwei divergierenden Prämissen. Im Bewusstsein, über Jahrhunderte hinweg die kulturelle Hoheit innegehabt zu haben, sehen sich Buchfreunde durch die neuen Medien gerne in ihrem Selbstverständnis gekränkt und reagieren darauf mit dem Beharren auf alten Vorrechten. Dagegen opponieren die Befürworter der digitalen Möglichkeiten, indem sie im Buch ein überholtes Medium sehen, dessen Primat von den Wahrern der Tradition vergeblich verteidigt wird. Für die einen ist das Buch ein Segen, für die anderen eine Last – dass es beides zugleich ist, gerät dabei in Vergessenheit. Selbiges gilt für die neuen Medien. So ist die Diskussion zwischen idealistischen Auffassungen auf beiden Seiten erstarrt.

Unter dem Titel Zur Sache des Buches unternimmt Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der ETH Zürich, einen Versuch, argumentativ zwischen Gutenbergianern und McLuhanisten zu vermitteln, um Licht ins Dickicht zu bringen. Der Titel täuscht etwas darüber hinweg, dass Hagner vornehmlich auf das wissenschaftliche Buch abzielt. Im Bereich der Natur- und der Geisteswissenschaften ist der Wandel von Print zu Digital am stärksten spürbar und am weitesten fortgeschritten. Das Zauberwort, um das sich dabei vieles dreht, ist Open Access.

Im Februar 2002 traten ungefähr ein Dutzend Wissenschaftler, Bibliothekare und Verleger mit dem „Budapester Manifest“ an die Öffentlichkeit. Die Wissenschaft sollte sich demnach nicht dem Profit verpflichten, sondern ihre Erkenntnisse der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen: „For free, for all, for ever.“ Aus der Initiative entwickelte sich schnell eine machtvolle Bewegung, die in etlichen Ländern längst auch die nationale Wissens- und Bildungspolitik erreicht hat. Wenn die öffentliche Hand die Forschung fördert und finanziert, so soll sie umgekehrt auch freien Zugang dazu erhalten. Das klingt gut, wie auch Michael Hagner einräumt: „Demokratisierung des Wissens zum Zwecke politisch-kultureller Emanzipationsbemühungen – verteidigenswert.“ Allerdings wären da einige Punkte genauer zu erörtern, allem voran zur digitalen Norm von Open Access. Das Internet avanciert zum Medium, das die Texte speichert und lesbar macht, die traditionell durch Zeitschriften und Bücher in Umlauf gebracht wurden und noch werden. Aufgrund der aktuellen Dynamik gilt es dabei die natur- von der geisteswissenschaftlichen Praxis zu unterscheiden. Dies auch, um zu vermeiden, wie Hagner dezidiert ausdrückt, dass erstere auf zweite überschwappt.

Sind Forschungen im Bereich der STM-Fächer (Naturwissenschaft, Technik, Medizin) mittlerweile ganz dem Fortschrittsparadigma unterworfen mit dem Effekt, dass sie schnell zur Verfügung stehen müssen, weil sie auch schnell veralten, stellt sich das Problem in den Geistes- und Sozialwissenschaften etwas anders. Hier kann es geschehen, dass Theorieansätze erst Jahre und Jahrzehnte verspätet entdeckt und rezipiert werden.

Doch die Probleme beim digitalen Open Access liegen tiefer, führt Hagner aus. Ein Aspekt ist der Zwang zur Veröffentlichung, der in den letzten Jahrzehnten beständig zugenommen hat. Wer im universitären Betrieb überleben will, muss publizieren. Daran werden alle gemessen: Publish or Perish! In Anlehnung an die „digitale Demenz“ (wie es Nicholas Carr polemisch genannt hat) könnte grundsätzlicher auch von einer Bologna-Demenz gesprochen werden. Es wird bedenkenlos produziert, mit dem Effekt, dass kaum mehr jemand (richtig) liest, weil alle nur schreiben, und dass dieses Zuviel an Produktion die Rezeption heillos überfordert.

Dass die Publikation im Internet eine Lösung dafür sei, erweist sich spätestens dann als Illusion, wenn der kaum vertrauenswürdige „Informationskapitalismus“ in Augenschein genommen wird, wie Hagner es tut. Während ab Mitte des 20. Jahrhunderts goldene Zeiten für das geisteswissenschaftliche Buch anbrachen (Stichwort „Suhrkamp-Kultur“), etablierten sich parallel dazu Verlage, die sich auf universitäre Publikationen spezialisierten, nicht zuletzt, um Fördergelder und Druckkostenzuschüsse abzuschöpfen. Deren Geschäftspraxis war in den letzten Jahren derart erfolgreich, dass es nach Michael Hagner „nur wenige Beispiele in der neueren Geschichte geben (dürfte), in denen symbolisches Kapital in so außerordentlichem Maßstab zu ökonomischem Kapital verdinglicht worden ist“ – mit Finanzkonsortien und Spekulanten als den Begünstigten. Im Rahmen der Open Access-Initiativen bringen sich exakt diese Konglomerate erfolgreich neu in Stellung. „Open Access als Geschäftsmodell“ einer subventionierten Contentindustrie scheint Bildungsbeamte und -politiker weder zu kümmern noch zu schrecken.

Detailliert, kenntnisreich und mit unmissverständlicher Deutlichkeit steckt Michael Hagner das Feld ab, auf dem sich zurzeit diese Umwälzung anbahnt. Mit welchen Folgen, vermag auch er nur abzuschätzen. Ob all der Unsicherheit scheint ihm freilich Vorsicht angeraten, insbesondere für das geisteswissenschaftliche Buch, in deren Tradition sich seine eigene Publikation einreiht. Weil Open Access grundsätzlich mit dem digitalen Wandel verknüpft ist, bettet Hagner seine Argumentation in diesen größeren Kontext ein. Er fragt danach, welche Veränderungen dem Buch respektive dem Text durch die digitalen Medien bezüglich Urheberrechten, Leseweisen und Recherchestrategien widerfahren. Dabei verhehlt er nicht, dass er, bei allem nüchternen Abwägen, auf der Seite des Buches steht.

Die Polarität zwischen elektronischen Texten und gedruckten Büchern greift diesbezüglich allerdings zu kurz. Der Titel Zur Sache des Buches verspricht in diesem Punkt zu viel. Die Digitalisierung ist ein integraler Bestandteil der Entwicklungen im Zusammenhang mit Open Access, die momentan freilich nur in neue „kapitalistische Geschäftsmodelle“ münden. Das müsste nicht sein. Es ließen sich gerade mit digitalen Mitteln auch alternative Formen von Open Access denken, die ökonomische Unabhängigkeit und urheberrechtliche Freiheit berücksichtigen.

Auf der anderen Seite betreffen die dargelegten Probleme sowohl die – hier nur am Rande beachtete – außeruniversitäre Forschung und erst recht die „Literatur“ in der Form kaum. Wenn Raymond Federman davon spricht, dass wir von Diskursen umgeben seien, also zwangsläufig „pla(y)giatorisch“ darauf zurückgreifen, so hat er vor allem auch an die Literatur gedacht. Sein literarisches Werk ist das brillanteste Exempel für seine Thesen.

Doch meist werden andere Vergleiche gezogen – zwischen einer 500-jährigen Buchkultur und den vereinzelten Hypertext-Experimenten der letzten zwei Dekaden. Das muss zu Ungunsten von letzteren ausfallen. Die zentrale zukunftsweisende Frage ist jedoch eine andere: Welche Potenziale schlummern in jenen Experimenten, die sich künftig entfalten könnten. Die von Jorge Luis Borges gepriesene Erweiterung der Phantasie durch das Buch in allen Ehren, aber haben Bücher nicht auch die widerlichsten Leidenschaften des menschlichen Geistes angesteckt?

Zur Sache des Buches basiert auf einem 50-seitigen Aufsatz von 2010, der separat unter der Überschrift Buchkritik als Kulturkritik erschienen ist. In ihm finden sich die grundlegenden Überlegungen zum Verhältnis Print versus Digitalisierung gebündelt. Wie in der daraus entwickelten Buchfassung erweist sich Michael Hagner darin als kluger Beobachter, der aus einer nicht verhehlten Position neugierig abwägt und sich dem Neuen in keiner Weise verschließt. Während Zur Sache des Buches die Aspekte um Open Access sorgfältig darlegt, erweist sich die kurze Version für Interessierte am grundlegenden Diskurs über den medialen Wandel als dichter und prägnanter.

Titelbild

Michael Hagner: Buchkritik als Kulturkritik. Jacob Burckardt-Gespräche auf Castelen 28.
Schwabe Verlag, Basel 2014.
56 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783796533150

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Michael Hagner: Zur Sache des Buches.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
280 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315471

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