Bekannte Unbekannte

Eine neue kritische Ausgabe von Christine Lavants Gedichten

Von Andreas SolbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Solbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pünktlich zum hundertsten Geburtstag der Dichterin legt der Göttinger Wallstein Verlag eine Ausgabe der zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte von Christine Lavant als ersten Band einer auf vier Bände angelegten Werkausgabe vor.

Christine Lavant (1915–1973) wurde als Christine Tohnhauser geboren und nahm später das Pseudonym Lavant nach der Gegend ihrer Herkunft aus dem Lavant-Tal in Kärnten an. Unter denen, die sie kannten, galt Lavant die meiste Zeit ihres Lebens als ein dichterisches Originalgenie, eine von Gott gestrafte und begabte ursprüngliche Stimme des Dichterischen, die durch körperliches und seelisches Leid nobilitiert war. Dass davon im engeren Sinne keine Rede sein konnte, hat bereits Thomas Bernhard, der 1987 eine Auswahl ihrer Gedichte bei Suhrkamp edierte, schlagend festgestellt. Seitdem ist neben eine nicht selten hagiographisch nachempfindenden Mitleidsliteratur eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung getreten, die der Autorin als verantwortliche Verfasserin ihrer Texte mehr Recht einräumt.

In der Tat ist Lavant in ärmlichsten Verhältnissen geboren und aufgewachsen; ständig von der Armut verfolgt, ohne Schulabschluss nahezu jeglicher Perspektive beraubt hat sie sich den größten Teil ihres Lebens mit dem Anfertigen von Strickwaren ernährt. Dazu kommt eine äußerst fragile und prekäre gesundheitliche Konstitution, die es der Autorin unmöglich machte, anstrengendere Arbeiten zu übernehmen und damit auch ein im konventionellen Sinne bürgerliches Leben zu führen. In regionaler wie auch in intellektueller Hinsicht am Rande der Gesellschaft situiert, bricht sich dann in der noch jungen Autorin ein unstillbarer Lesewunsch Bahn, der sich in der Rilke-Lektüre geradezu zu einer Epiphanie verdichtet. Nach und mit der Lektüre von Rilkes Gedichten beginnt sie, phasenweise wie im Rausch, selbst zu dichten.

1939 heiratet sie den 36 Jahre älteren mittellosen Maler Josef Habernig; eine Ehe, die durch die Liebesbeziehung zu dem bildenden Künstler Werner Berg (1950–55), aber auch durch Habernigs schwierigen Charakter bald an die Grenzen des Erträglichen stieß.

Lavant beginnt schon früh, ihre Gedichte zu sammeln, zu überarbeiten oder zu vernichten, kommt aber erst 1949 zu ihrer ersten Veröffentlichung. Die unvollendete Liebe (1949) ist ein erstes Resümee ihrer noch weitgehend anderen Vorbildern verpflichteten lyrischen Kunst, und sie wird von der Autorin nach einem eindeutigen Verriss später geringeschätzt und virtuell in ihrem Schaffen isoliert. Der eigentliche Kern ihres lyrischen Werkes findet sich in den beiden großen Gedichtsammlungen Die Bettlerschale (1956) und Spindel im Mond (1959). Die darauffolgenden Ausgaben ihrer Gedichte Sonnenvogel (1960), Wirf ab den Lehm (1961) und Hälfte des Herzens (1967) enthalten nur noch wenig neues Material, nur Der Pfauenschrei (1962) bringt eine größere Anzahl ungedruckter Texte. In den letzten zehn Jahren ihres Lebens wendet sich die Autorin erschöpft und verstört von der Dichtung ab, es entstehen nur noch wenige Texte; ihre dichterischen Aktivitäten der letzten zwanzig Jahre erscheinen ihr Anfang der sechziger Jahre unbegreiflich und nicht mehr nachvollziehbar.

Eine frühere Leserschaft hat in ihren Gedichten, vor allem in Die Bettlerschale und Spindel im Mond, mit Vorliebe eine durch das Leid geläuterte Gottesseherin erblickt, der es gelingt, mit konventionellen Mitteln – Lavant verzichtet an keiner Stelle auf eine relativ einfache Reimstruktur – komplexe ästhetische Effekte zu erzielen. Es ist nicht gerade das alleinige Verdienst der Herausgeber dieses Bandes, Doris Moser und Fabjan Hafner, dieses Bild entschieden korrigiert zu haben, aber ihre beiden erläuternden Nachworte geben einer hoffentlich zahlreichen neueren Leserschaft einen besseren Eindruck als die zumeist feuilletonistischen Verzeichnungen der Autorin. Hafner kann deutlich machen, dass Lavant zwar sicherlich aus einer detaillierten und über weite Strecken auch gelebten Religiosität heraus ihre einzigartige Bildersprache entwickelt, die sich aus impressionistischen und expressionistischen Quellen speist und direkt an die lyrische Kunst Bachmanns und Celans heranführt; gleichzeitig aber argumentiert er für eine Relektüre ihrer Gedichte unter Beachtung der durchgehenden Liebesthematik, die sich der religiösen Metaphorik nicht selten im Sinne einer Verdeckung und Veruneindeutigung einer erotischen Bezüglichkeit bedient. Lavant, die unter ihren Verehrern und Verehrerinnen als eine der unbekanntesten, aber bedeutendsten Autorinnen der österreichischen Literatur galt, war allerdings nichts weniger als das: Spätestens mit dem Erscheinen der Bettlerschale hatte sich ihr Ruf in Österreich, aber auch in Deutschland durchaus verbreitet, und wer sich die Bibliographie aller germanistischen Veröffentlichungen zu dieser Dichterin ansieht, muss feststellen, dass diese „große Unbekannte“ der österreichischen Literatur zumindest in der Germanistik keineswegs unbekannt geblieben ist. Zahlreiche Monographien und Artikel zeugen von der Beschäftigung der germanistischen Literaturwissenschaft mit Christine Lavant und ihrem Werk.

Die Dichterin war sich dabei ihrer Bekanntheit bzw. Unbekanntheit durchaus bewusst, und sie hat die öffentliche Meinung in ihrem Interesse ganz gezielt gesteuert und zu ihrem Nutzen manipuliert, indem sie den Erwartungen an die „Bauerndichterin mit genialem Einschlag“ durch Auftritt, Gestik, Kleidung und diskursiver Rolle entsprach und immer neue Nahrung gab. Angesichts ihrer äußerst prekären Lebenssituation und den Zwängen der Armut ist dies umso mehr entschuldbar als wir in einer großen Anzahl ihrer Dichterkollegen und -kolleginnen ein gesteigertes Manipulationsbedürfnis feststellen können, das sich bei diesen jedoch, im Gegensatz zu Lavant, mit einer hypertrophen Selbstschätzung verbindet. Dieses pragmatische Verhältnis zu ihrer eigenen öffentlichen Persona findet allerdings seine Fortsetzung in Lavants Lyrik, in dem Sinne, dass die Autorin auch hier sehr wohl und sehr bewusst mit dem sprachlichen Material, das ihr zur Verfügung stand, arbeitet: Es kann keine Rede davon sein, dass Lavant Texte, die „nur so aus ihr heraussprudelten“, nur noch dokumentierte und niederschrieb. Ganz im Gegenteil liegt der Kern ihrer Kunst in einer ästhetisch anspruchsvollen und nicht selten artifiziellen Kunst der Wortbildung, die sich gerne – wie ihre ganze inhaltliche und bildliche Thematik – der Naturelemente ihrer engeren Heimat bediente. Um es etwas überspitzt und polemisch auszudrücken: Naturferne Leserinnen und Leser sind immer wieder schnell von der Schönheit und Einprägsamkeit solcher lexikalischen Elemente beeindruckt, die Teile von Fauna und Flora in einer Sprache bezeichnen, die denjenigen, die nur ein halbes Dutzend Bäume, Blumen und Tiere kennen, exotisch vorkommen muss. Es ist aber nicht nur das in den städtischen Zivilisationsdiskursen unbekannt gewordene Wort, es ist vor allem Lavants künstlerische Fähigkeit, mit diesen Neologismen metaphorische Räume aufzuschließen, die einerseits vertraut und andererseits wiederum sehr fremdartig wirken können. Der Grund für diese spezifische Wirkung liegt in einem relativ offen daliegenden Verfahren der Dichterin, das ihr bei ihrem ersten Gedichtband zum fatalen Vorwurf gereichte: ihre Kraft der intertextuellen Anverwandlung. Mit der Bettlerschale sind die Rilke- und Trakl-Töne in ihrer Lyrik ja noch keineswegs an ein Ende gelangt, bis in ihre letzten Gedichte hinein lassen sich diese beiden Autoren, ebenso wie zahlreiche andere – darunter auch Benn – als Stichwortgeber ihrer Lyrik dingfest machen. Es gelingt ihr dabei aber, die expressionistischen und vorexpressionistischen lyrischen Formeln quasi nur als Rezeptionsrahmen im wahrsten Sinne des Wortes zum Klingen zu bringen, ohne dass ihre Gedichte in platte Imitationen abrutschen, und so lassen sich nicht wenige Gedichte finden, in denen von Rilke oder Trakl ausgehend eine Sprachform sich entwickelt, an deren Ende man vermeint in Bachmann’sche oder Celan’sche Räume einzutreten. Genau an dieser Nahtstelle dürfen wir auch die literaturhistorische Bedeutung von Lavant ansetzen: Sie ist ein mögliches Bindeglied zwischen der Lyrik, die mit Aichinger, Bachmann, Celan u. a. nach dem Krieg ihren revolutionären Aufschwung nahm, und den bis in die zwanziger Jahre hineinreichenden, älteren Traditionen. Die reichsdeutsche Lyrik hat es nur unzureichend geschafft, über die Dichter der Kolonne und die in ihrem Umfeld sich entwickelnde Literatur diesen Anschluss herzustellen. Interessanterweise bezieht sich Christine Lavant ebenso auf die Naturerfahrung wie Lehmann, Loerke u. a., allerdings unterscheidet sich doch die individuelle Stellung zur Natur in ganz erheblichem Maße. An dieser Stelle tritt dann wieder ein traditionelles Vorurteil mit geringerem Recht in die Überlegungen ein, denn Lavants Verhältnis zur Natur war einerseits durch ihre Lebensverhältnisse und andererseits durch ihren unakademischen Habitus gänzlich anders als das der deutschen Autoren.

Dass die Leserinnen und Leser diesen Zusammenhängen in umfassender Art und Weise nachspüren können, ist den Herausgebern und dem Verlag zu verdanken, die einen inhaltlich, formal und auch optisch und haptisch vorzüglichen Band zu einem ganz erträglichen Preis auf den Markt gebracht haben.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Christine Lavant: Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte.
Werke in vier Bänden. Bd. 1. Hg. von Doris Moser und Fabjan Hafner.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
720 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783835313910

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