Sprache: Instinkt oder Kulturleistung?

Zu Vyvyan Evans’ Kampfschrift „The Language Myth“

Von Wolfgang ImoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Imo

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie der Titel bereits andeutet, legt Evans mit The Language Myth eine Kampfschrift vor, die das Ziel verfolgt, die These zu entkräften, dass Sprache ein angeborener Instinkt sei, und stattdessen für die Ansicht zu werben, dass Sprache ein Ergebnis von ‚kultureller Intelligenz‘ bzw., genauer, von ‚interaktionaler Intelligenz‘ sei. Der Hauptteil des Buches befasst sich jedoch mit der ersten Aufgabe, dem Widerlegen des Sprache-als-Instinkt-Mythos. Es liegt durchaus in der Natur der Sache einer Streitschrift, dass dabei Vereinfachungen und Verzerrungen entstehen, die die eigene Argumentation stützen sollen, wobei dies bei Evans leider sehr oft vorkommt. Der Sprache-als-Instinkt-Mythos wird dabei künstlich als ein grotesker Gegner aufgebaut, nur damit die eigenen Positionen im Kontrast dazu umso strahlender präsentiert werden können. Evans selbst spürt, dass seine Darstellung sehr extrem ausfällt, und fühlt sich daher bemüßigt, der Kritik vorzugreifen, indem er in einem Abschnitt explizit darauf hinweist, dass er seiner Ansicht nach nicht nur einen „straw man“, eine Strohpuppe, verprügelt. Er tut dies, indem er behauptet, dass die Annahme des Sprachinstinkts weit verbreitet und sogar die Standardannahme in der Linguistik sei. Wie so oft wird die Behauptung aber nur anhand sehr weniger konkreter Beispiele illustriert, die dann ausreichen sollen, um die Universalität von Evans Aussagen zu belegen. Doch mehr zur Kritik später.

Der Sprache-als-Instinkt-Mythos wird zunächst in eine Reihe von Teilmythen zerlegt, die kapitelweise dargestellt und entkräftet werden sollen. Aus der grundlegenden Annahme, dass Sprache ein angeborener Instinkt sei, folgen, so Evans, eine Reihe weiterer Annahmen. Insgesamt sechs solcher ‚component myths‘ werden ausgemacht: Erstens der Mythos, dass das Phänomen Sprache eine Singularität auf dieser Welt sei, die nur dem Menschen eigen sei und keine Beziehung zu kommunikativen Strukturen in der Tierwelt aufweise. Zweitens der Mythos, dass es eine allen Sprachen der Welt zugrunde liegende Universalgrammatik gebe. Drittens der Mythos, dass die Universalgrammatik angeboren und sogar in die menschliche DNS eingeschrieben sei. Viertens der Mythos, dass die Universalgrammatik modular aufgebaut sei, dass es also im Gehirn jeweils spezialisierte Areale beispielsweise für die semantische, die syntaktische, die phonologische etc. Verarbeitung gebe. Fünftens der Mythos, dass die Erlernbarkeit von Sprachen dadurch gewährleistet sei, dass es ein universales ‚Mentalesisch‘ gebe, eine Art nur im Denken existente ‚Sprache hinter der Sprache‘. Und schließlich sechstens der Mythos, dass das Denken nicht von der Sprache beeinflusst werden könne, sondern von der jeweiligen Einzelsprache unabhängig sei. Viele Mythen – und in der Tat wirkt die Präsentation dieser Teilmythen etwas penetrant. Das Ziel dahinter besteht darin, diese Annahmen über menschliche Sprache als Ergebnis einer fehlerhaften, aus schierer Verwunderung über die und Kapitulation vor der Komplexität von Sprache entstandenen Argumentation überforderter Professoren zu entlarven. In einer zunächst durchaus unterhaltsam wirkenden, im Laufe des Buches aber immer häufiger unangenehmen polemischen Art fasst Evans die von ihm bei seinen Gegnern ausgemachte Haltung wie folgt zusammen (meine Übersetzung): „Wir, die ausgesprochen cleveren und verbeamteten Professoren, verstehen nicht, wie Kinder so etwas Kompliziertes wie eine Grammatik erlernen können. Deshalb können sie es nicht lernen. Also muss Grammatik angeboren sein.“

Um diese These zu entkräften, diskutiert Evans nun die sechs Teilmythen jeweils in einem eigenen Kapitel. Zunächst wird in Kapitel 2 der Mythos besprochen, dass Sprache keine Bezüge zu tierischen Kommunikationssystemen habe. Schon zu Beginn fällt ein Argumentationsmuster auf, das sich leider durch das ganze Buch zieht: Anstatt konkret Vertreter von Positionen zu nennen und Belege anzuführen, finden sich Äußerungen wie „Until recently, it has been widely assumed that human language was unique.“ Man würde sich doch sehr freuen, zu hören, worauf eine solche Einschätzung basiert. Ein solcher Stil entspricht leider schlechter Wissenschaft: In einer Ausgabe der Zeitschrift Forschung und Lehre (2006) wurde einmal eine satirische Liste von typischen Wissenschaftsphrasen abgedruckt, die, so der Begleittext, „Unwissenheit, Unwillen oder – Unvermögen“ verschleiern sollen. Eine dieser Phrasen war ausgerechnet „it is generally believed“, die in Alltagssprache ‚übersetzt‘ wurde mit „ein paar andere glauben das auch“. An diese satirische Übersetzung musste ich leider häufig denken, als ich das Buch von Evans gelesen habe. Als dann endlich doch noch ein Vertreter genannt wird, der der Ansicht sei, Sprache sei ohne Bezug zu tierischen Kommunikationssystemen, handelt es sich ausgerechnet um Noam Chomsky (Some simple evo-devo theses: how true might they be for language? [2010]) – eine wenig originelle Nennung, ist doch Chomsky der Protagonist der Sprache-als-Instinkt-Theorie! Auch im Rest des Kapitels finden sich wenige wissenschaftliche Fakten, dafür aber einige unterhaltsame Anekdoten. Evans verhält sich leider genauso wie die von ihm so hart kritisierten Vertreter der Sprache-als-Instinkt-These: verkürzte Darstellungen, anekdotische Präsentation von vermeintlichen Fakten, keine seröse Auseinandersetzung mit Gegenpositionen und platte argumentative Strategien, z.B. „The findings I’ve been discussing add up to a body of evidence that any objective person would find compelling.“ Wer also harte Fakten und solide Belege bevorzugt und nicht durch ein paar Anekdoten überzeugt werden kann, ist wohl nicht objektiv – keine besonders angenehme Argumentationsstrategie!

Zum Glück sind nicht alle Kapitel so misslungen wie das zweite. In Kapitel 3 wird der ‚Mythos‘ der sprachlichen Universalien diskutiert. Vermutlich deshalb, weil dieses Thema näher an Evans’ eigenem Forschungsbereich liegt als die Primatenforschung, die in Kapitel 2 die Grundlage bildete, finden sich hier mehr Fakten und eine plausiblere Argumentation. Zwar werden immer noch insgesamt nur wenige Studien erwähnt, diese aber immerhin klar präsentiert. In Kapitel 4, in dem die Frage erörtert wird, ob Sprache angeboren ist, findet sich nun auch mal eine ausgewogene Diskussion der beiden diskutierten Perspektiven, und die Spracherwerbstheorie nach Tomasello wird ebenfalls gut dargestellt. Auch in Kapitel 5, in dem es um die mögliche modulare Struktur von Sprache geht, findet sich eine durchaus gute Darstellung der von Evans vertretenen Gegenposition gegen die Modularitätsannahme. Die präsentierten Argumente sind aber – naturgemäß – bestenfalls Indizien, die gegen die Modularitätsannahme sprechen, da die Forschung zum Aufbau des Gehirns schlichtweg (noch) nicht so weit ist, dass man sagen kann, wie das Gehirn funktioniert. Evans tut jedoch so, als seien diese Indizien feste, unwiderlegbare Beweise. Dieses Vorgehen ist bedauerlich: Wer sich ernsthaft kritisch damit auseinandersetzen möchte, ob es plausibler sei, anzunehmen, dass unser sprachliches Wissen quasi ‚vorverdrahtet‘ auf spezialisierte Gehirnareale verteilt sei, oder ob das Gehirn plastisch und die Zuordnung weniger fest ist, kann mit einer solchen unausgewogenen und tendenziösen Darstellung nicht viel anfangen (und wer wie Evans fast schon missionarisch für die letztere Position kämpft, braucht ohnehin nicht mehr bekehrt zu werden). In Kapitel 6 wird dann die Frage diskutiert, ob es eine universale ‚Gehirnsprache‘, ein ‚Mentalesisch‘ gebe. Während die dünne Faktenlage weiter zu beklagen ist, ist immerhin die Diskussion des Embodiment-Ansatzes, also der Annahme, dass menschliche Erfahrungen über die Sinnesorgane und über universale Wahrnehmungen z.B. in Bezug auf die Raumstruktur o.ä. sich in der Struktur der Sprache niederschlagen, anschaulich und nachvollziehbar geschrieben. Der letzte Mythos, die Annahme, dass Sprache und Denken voneinander dissoziiert seien, wird in Kapitel 7 diskutiert. Hier erfolgt nun endlich einmal eine ausgewogene Diskussion, was daran liegt, dass Evans die Positionen hauptsächlich anhand der Debatte über die Universalität – oder eben nicht-Universalität – von Farbwahrnehmungen erläutert und so zwar nicht viele Studien präsentiert, diese aber dafür detailliert gegenüberstellt: Psycholinguistische Experimente zeigen beispielsweise, dass griechische Probanden bei einem Farberkennungsexperiment andere Gehirnmuster aufweisen als englische, die das gleiche Experiment durchführen. Das liegt daran, dass das Griechische zwei Basisbegriffe für die Farbe blau hat (ble, ein dunkles Blau, und ghalzio, ein helles Blau), während das Englische wie auch das Deutsche nur einen Basisbegriff hat (blue) und die Unterscheidung zwischen hellblau und dunkelblau erst auf einer Detailebene, nicht aber auf der Basisebene vornimmt (light blue / dark blue). Hier scheint also in der Tat die Sprache, also die Tatsache, dass im Griechischen zwei Basisbegriffe für blau vorliegen, auf das Denken, also die Wahrnehmung der Farben, Einfluss zu nehmen. Doch auch in diesem Kapitel stoßen immer wieder unsaubere Argumentationsmuster auf, wie z.B. bei der Präsentation einer weiteren Studie: Während für die Gruppe von Probanden, deren Abschneiden in einem Experiment das Argument von Evans stützt, eine genaue Prozentangabe geliefert wird („less than 4 %“), wird das Abschneiden der Gruppe, die das Argument beeinträchtigen könnte, lediglich mit „much less accurate“ angegeben. Es ist nicht nachvollziehbar, warum nicht auch hier die Prozentzahl angegeben wird, immerhin handelt es sich um ein und dieselbe Studie.

Während, wie oben erwähnt, der Hauptteil des Buches darin besteht, den Sprache-als-Instinkt-Mythos zurückzuweisen, wird im letzten Kapitel nun noch die von Evans unterstützte Gegenposition präsentiert: Sprache – mit allem, was dazu gehört, inklusive der Grammatik – kann erklärt werden durch die kognitive und vor allem die interaktionale Evolution des Menschen. Dabei stützt sich Evans insbesondere auf die Arbeiten von Tomasello (zu empfehlen: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation [2009]): Menschen haben im Lauf ihrer Evolution gelernt, sich in andere hineinzuversetzen und ihre Absichten zu ‚lesen‘. Sprache ist das Mittel, mit dem diese ‚Interaktionsmaschine‘ sehr effektiv betrieben werden kann. Was nun die konkrete Form der Sprache angeht, die auf dieser Basis entstanden ist, so vertritt Evans eine konstruktionsgrammatische Perspektive: Sprache besteht aus Form-Bedeutungseinheiten, die als ganze Blöcke gelernt und auch im Gehirn gespeichert werden. Diese Konstruktionen kodieren elementare menschliche Erfahrungen, wie beispielsweise den Transfer von Objekten. Die Erfahrung, dass es jemanden gibt, der jemand anderem einen Gegenstand geben kann, führt zu grammatischen Konstruktionen wie der Transitivkonstruktion, in der syntaktisch genau diese Szene kodiert wird: Er (Subjekt = ‚Geber‘) gibt ihm (Dativobjekt = ‚Empfänger‘) ein Buch (Akkusativobjekt = ‚Übergebenes‘). An dieser Stelle sind, so Evans, auch die einzigen möglichen sprachlichen Universalien anzusetzen – und auch die Antwort auf die Frage, weshalb die Sprachen der Welt doch einiges an Gemeinsamkeiten aufweisen. Da wir alle die gleichen elementaren Erfahrungen (u.a. bedingt durch physikalische Gegebenheiten wie den Raum, nicht unmittelbar wahrnehmbare Phänomene wie die Zeit etc.) teilen, führt dies dazu, dass wir oft ähnliche Strategien entwickeln, diese Gegebenheiten zu verbalisieren. Die Diskussion dieser Entwicklung muss, dem Platz geschuldet, leider etwas holzschnittartig verlaufen. Mehr zu empfehlen ist da die Darstellung der Entwicklung menschlicher Kommunikation durch Tomasello (2009).

Das Fazit ist, dass The Language Myth leider nicht zu empfehlen ist. Obwohl ich im Kern derselben Ansicht wie Evans bin und die These unterstützen würde, dass die Besonderheit menschlicher Sprache besser durch die Evolution von Kooperation und Interaktion bei Menschen erklärbar ist als durch eine Universalgrammatik, hat mich der polemische und unsaubere Argumentationsstil ebenso wenig überzeugt wie die allzu dünne Datenbasis und die durch zu wenige Fakten gestützten Verallgemeinerungen – ganz zu schweigen von unlauteren argumentativen Strategien. Leider hat Evans mit diesem Pamphlet der Sache einen Bärendienst erwiesen: Die Argumentation überzeugt bestenfalls diejenigen, die ohnehin der gleichen Ansicht wie Evans sind. Diejenigen aber, die solide Argumente für eine interaktionsbasierte Erklärung von Sprache suchen – ganz zu schweigen von denjenigen, die zwar Sprache als Instinkt ansehen, aber für Gegenargumente offen sind – kann er m.E. nicht erreichen, da helfen auch die teilweise durchaus anschaulichen und gut geschriebenen Passagen in manchen Kapiteln nicht. Um im durchgängig flapsigen Stil von Evans zu bleiben: Gewollt, aber nicht gekonnt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Vyvyan Evans: The Language Myth. Why Language Is Not an Instinct.
Cambridge University Press, Cambridge 2014.
304 Seiten, 67,00 EUR.
ISBN-13: 9781107619753

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