Und er nahm eine Axt und kappte seine Wurzeln

Edouard Louis‘ Debütroman erzählt von der Befreiung aus einer Kindheit voll Demütigung und Intoleranz

Von Laura KonertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Konert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sexuelle Diversität und gleichgeschlechtliche Ehe spalten das Land der Égalité – und inmitten heftiger Ausschreitungen und Demonstrationen erscheint im Februar 2014 Edouards Louis‘ Debütroman Das Ende von Eddy (frz. En finir avec Eddy Bellegueule). Es ist ein autobiografischer Roman – so beschreibt es der erst 22-jährige Autor selbst –, ein Roman über Eddys (Edouards) Kindheit in einfachsten Verhältnissen in der nordfranzösischen Picardie. In einem Dorf, in dem Homophobie, Rassismus und der Hass auf die Reichen vorherrschen, in einer Welt voller Unmöglichkeiten wächst Eddy heran. Schnell merkend, dass er irgendwie anders ist, entdeckt er seine Homosexualität, will sie um jeden Preis unterdrücken, vertuschen und muss genau daran scheitern. Sein Scheitern führt zur Flucht aus seinem Heimatdorf und aus seiner Kindheit, die geprägt ist von Gewalt, Demütigungen und Anfeindung. Nun hat Hinrich Schmidt-Henkel das Werk ins Deutsche übersetzt (2015 erschienen im S. Fischer Verlag).

Während ich älter wurde, spürte ich die Blicke meines Vaters immer schwerer auf mir lasten, das Entsetzen, das in ihm Aufstieg, seine Ohnmacht angesichts des Ungeheuers, das er gezeugt hatte und dessen Anomalie immer deutlicher zutage trat.

Homosexualität – das ist in Eddys Heimatdorf eine schändliche Verfehlung: „Bisweilen kippte ihre Art von Humor in Ekel um Aufhängen müsste man die Drecksschwuchteln, eine Eisenstange müsste man denen hinten reinschieben.“ Die Dorfbewohner, einschließlich Eddys Eltern, sind geprägt von klar definierten Rollenvorstellungen: „Es war so, als müssten die Frauen im Dorf Kinder kriegen, um als richtige Frauen zu gelten. Wenn nicht, hieß es, sie seien Lesben oder frigide.“ Louis ist daran gelegen, auch den Frauen dieses Milieus eine Stimme zu geben. Sie seien, ähnlich wie die Frauen in der französischen Revolution, „zerrissen zwischen restloser Unterwerfung und fortwährendem Aufstand.“ Nach einer rudimentären Schulbildung besteht ihre Hauptaufgabe darin, ihren Pflichten als Hausfrau nachzukommen. In dieser Vorherbestimmung, „durch ein Regelwerk vollkommen absehbarer Mechanismen bedingt“, scheint kein Platz für den Wunsch nach mehr. Das Männerbild – dem auch Eddy lange nachzueifern sucht – ist klar definiert: Ein Mann hat ein „echter Kerl“ zu sein. Er raucht, säuft, gräbt Frauen an und prügelt sich. Eddy entspricht weder äußerlich noch innerlich diesem Männerbild: Androgyn wie er ist, wird er von der „Männlichkeit“ ausgeschlossen. Er erinnert inmitten dieser Rollenzuweisungen ein wenig an Roald Dahls Matilda, die sich von der monochromen Kulisse ihrer Familie abhebt wie ein bunter Hund. Zunächst wird seine Andersartigkeit noch als „Gehabe“ abgetan, im Verlauf lässt sich die Fassade jedoch immer weniger aufrechterhalten. Die Abneigung gegen Homosexualität eint das Dorf und macht selbst vor der Mutter nicht halt: „Sie spricht von Verrücktheit, um nicht jenes andere Wort benutzen zu müssen, pédé, um nicht an Homosexualität zu denken, […] denn das ist immer noch besser, als eine Tunte zum Sohn zu haben.“ Eddy ist während seiner Schulzeit täglich verbaler – seine Mitschüler haben ein ganzes Arsenal an Beschimpfungen in petto – und vor allem körperlicher Gewalt ausgesetzt: „Ich erinnere mich: die Tritte in den Bauch, der Schmerz, wenn mein Kopf an die Backsteinwand prallte. […] [D]as plötzliche physische Leiden des verletzten, gequälten Körpers. Man denkt […] mit einem Blick von außen – an die Demütigung, die Fassungslosigkeit, die Angst, aber man denkt nicht an den Schmerz.“

Sadistische Spielchen à la Törleß

Der Vergleich mit Musils Törleß hinkt. Die Entdeckung der eigenen Sexualität ist für Eddy verbunden mit Verwirrung und Repression. Seine ersten (homo-)sexuellen Erfahrungen werden bezeichnenderweise als „Mann und Frau“-Spiel abgetan. Der erst zehnjährige Protagonist wird von seinem Cousin sexuell unterworfen, was sein verdrängtes Begehren weckt. Und genau diese Bewusstwerdung stürzt ihn zunächst in eine tiefe Krise: „Als ich nach Hause kam, weinte ich, zerrissen von dem Begehren, das die Jungs in mir ausgelöst hatten, und dem Ekel vor mir selbst, meinem begehrenden Körper.“ Eddys Flucht besteht zunächst in einem Kampf gegen sich selbst, er will ein anderer, ein „echter Kerl“, werden. Er lässt nichts unversucht, datet Mädchen, kontrolliert seine Stimmlage, immer in der Hoffnung, tatsächlich zu einem anderen zu werden. Doch mit diesem Kampf gegen sich selbst muss er scheitern: „Sich selbst zu belügen, genügt nicht, um die Lüge zur Wahrheit werden zu lassen – das war mir nicht klar.“

Schwuchtel, Schwuli, Schwuppe, Tunte, Schwanzlutscher, Arschficker, oder auch Homo und Gay. Pédale, pédé, tantouse, enculé, tarlouze, pédale douze, baltringue, tapette, fiotte, tafiole, tanche, folasse, grosse tante, tata.

Die Sprache des Romans ist voller Gewalt und Schonungslosigkeit, sowohl im Original als auch in der deutschen Übersetzung. Mit viel Sprachinstinkt und Präzision hat Hinrich Schmidt-Henkel Louis´ Sprachkonstruktion übersetzt. Das Spiel mit dem Ursprungstext, das Einbinden französischer Wörter verrät das Fingerspitzengefühl und den großen Respekt vor der Sprache des Autors. Schmidt-Henkel beweist großartiges Geschick darin, die zwei Sprachebenen miteinander in Kollision zu bringen: Die eloquente Sprache des Erzählers steht im Kontrast zur kursiv geschriebenen, derben Sprache seiner Umgebung. Diese Verflechtung der Sprachregister sowie die schonungslose Perspektive auf einzelne Figuren erinnern an die soziologischen Studien eines Émile Zola. Die Gewalt, die Eddy erfährt, setzt sich in der Sprache durch die starke Körpermotivik fort: „Der Rothaarige spuckte mich an: Da, voll in die Fresse. Die Rotze rann langsam mein Gesicht hinab, gelb und dick wie der heiser Schleim aus der Kehle von Alten oder Kranken, sie roch stark, übelkeiterregend. […] Sie rinnt von meinem Auge bis zu den Lippen hinunter, gelangt in meinen Mund.“ Louis‘ Sprache beweist große Reife – mal ist sie derb und unverblümt, mal sensibel und zärtlich. In einem Moment bekommt man Gänsehaut vor Entsetzen, im anderen ist man überwältigt von Mitgefühl und Verständnis.

Das Ende von Eddy ist der Anfang von Edouard Louis

„Ich wäre gern schon von meinem Vater entfernt, von ihnen allen und ich weiß, das beginnt mit der Umkehrung all meiner Werte.“ 2014 ist der Autor mit dem Pierre Guénin-Preis ausgezeichnet worden, einer Auszeichnung für besonderes Engagement gegen Homophobie. Und so ist Das Ende von Eddy thematisch gesehen bei weitem keine Neuigkeit mehr – weder in Frankreich noch in Deutschland, dennoch ist es ein starkes Buch gegen Diskriminierung und Ungleichheit, nicht nur Homosexueller, sondern auch von Frauen. „Edouard Louis hat alles getan, um sich aus dieser Welt der falschen Selbstverständlichkeiten zu befreien.“ (Der Spiegel) Und diese falschen Selbstverständlichkeiten gehen uns alle an. Louis zitiert hierzu Stéphane Hessels Pamphlet Empört euch! So ist einzuräumen, dass der Roman ein Happy-End hat, die Flucht aus dem „Lumpenproletariat“ (Deutschlandfunk) ist eben geglückt. Die Annahme hingegen, dass dieses soziale Milieu ausschließlich die böse, rassistische und homophobe Seite darstellt, und das Bildungsbürgertum tolerant und emanzipiert sei, ist schlicht und ergreifend falsch. Diese Interpretation würde dem Roman nicht gerecht. Der Roman ist ein Aufruf zur Toleranz und gegen Vorurteile und Unterdrückung, denn es ist – so Louis – „ein intellektueller Mangel, wenn man gegen die Gleichberechtigung ist.“ (Deutschlandfunk) Bei aller Gewalt fesselt dieser unbarmherzige und zugleich hochsensible Roman trotzdem. Wenn man die letzte Seite gelesen hat, möchte man gleich bei der ersten wieder anfangen. Ein großartiger Roman, der allerhand Mut beweist! 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Édouard Louis: Das Ende von Eddy. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
205 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100022776

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