Was tun mit Heidegger?

Zum 83. Band der Gesamtausgabe, den Heidegger-Jahrbüchern 4 und 5 sowie dem Heidegger-Handbuch unter Berücksichtigung der Debatte um die „Schwarzen Hefte“

Von Sebastian SchreullRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schreull

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich momentan im Feuilleton mit Martin Heidegger beschäftigt, der bezieht sich auf die „Schwarzen Hefte“. In dieser Debatte ist keine Verteidigung Heideggers mehr möglich, die sich nicht dem Verdacht aussetzte, Heideggers Antisemitismus kleinzureden oder die Aufarbeitung der Vergangenheit zu sabotieren. Heidegger wird entweder direkt als „Peinlichkeit“ angesprochen, wie zum Anlass des 550. Geburtstages der Universität Freiburg, oder als aufzuarbeitender, wenn auch anrüchiger Fall in der Philosophie ausgewiesen.

Die „Schwarzen Hefte“ sind zu einem Lektüreschlüssel für Heideggers Denken avanciert. In der FAZ, FR, TAZ, Welt oder dem Spiegel ist Heidegger scharf kritisiert worden. Thomas Assheuer spricht in der Zeit davon, dass „die Judenfeindschaft in den Schwarzen Heften […] kein Beiwerk“ darstelle, sondern „das Fundament der philosophischen Diagnose“ bilde, was Dieter Thomä in der NZZ noch einmal verschärft: Diese „Philosophie ist das Verhängnis, für dessen Deutung sie sich hält.“

Dies sagt nicht irgendein Philosoph, sondern der Herausgeber eines zu empfehlenden und noch zu behandelnden Handbuches über Heideggers Denken. Ein ehemaliger Heidegger-Schüler, Rainer Marten, stellt in der Hohen Luft fest: „Die Philosophie [Heideggers] ist das Problem. Dieser existentiale Solipsismus, diese radikale Vereinzelung und dieses mystifizierte Nicht-Gott-Sein bis hin zum letzten Gott, der nur ein deutscher sein kann! Das geht eben nur, wenn die anderen keine Rolle spielen, wenn das Leben nichts gilt.“

Es sind keine kleinen oder unbedeutenden Gesten, die gegen Heidegger aktuell vollzogen werden. Wenn selbst der Präsident der Heidegger-Gesellschaft, Günter Figal, zurücktritt, weil er nun Heideggers spätes Denken als Ausdruck der „Pathologie der Moderne“ begriffen habe, dann hat sich doch eine breite Phalanx gegen eine wie auch immer genauer zu bestimmende philosophische „Antimoderne“ gebildet. Darüber könnte man sich freuen oder eben wundern.

Vielleicht schwindet die Verwunderung, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass eben nicht aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus oder eine praktische Kritik an diesem (etwa durch den Zionismus) verhandelt werden. Da gäbe es vermutlich nur wenige Übereinstimmungen unter den Kritikern Heideggers. Sein Antisemitismus wird als einer der alten Herren ausgemacht, dem man nicht mehr glauben oder über den Weg trauen kann: Wer Ähnliches wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ sagt, wer von Nachkriegsdeutschland als KZ spricht, der muss kritisiert werden. Wer kann dem widersprechen? Es sind also interessante Zeiten, wenn man sich mit Heideggers Denken philosophisch beschäftigen will. Gab es je bessere?

Orthodoxe Heideggerianer sind klar in der Defensive, marginalisiert sind diese Stimmen in der Öffentlichkeit. Trotzdem sind es die Thesen eines François Fédier oder Silvio Vietta, die stets wieder zitiert und kritisiert werden, die als eine der letzten noch die Erzählung aufrechterhalten, dass eine Vermitteltheit von Nationalsozialismus und Seynsdenken zu bestreiten sei. Man tritt, was längst gefallen ist. In diversen Beiträgen zur Debatte witzelt man über diesen veralteten Stil des Denkens, über eine Terminologie, die heute an deutschen Universitäten nicht mehr gepflegt wird. Die Kalauer über das „Heideggern“ existieren seit den 1920er-Jahren, so dass man sich auch noch eine Weile mit ihrem Erzählen gefallen wird (und welche Philosophie hat zu so gelungener Satire schon den Anlass gestiftet?).

Bei all dem Unbehagen ob der Ekelhaftigkeit manches Eintrages der „Schwarzen Hefte“: Selbst in der Gesamtausgabe, aber auch in den unzähligen Auseinandersetzungen mit Heideggers Wirken wurden nicht weniger drastische Stellen der geneigten Öffentlichkeit präsentiert. Und wenn man sich dieser bereits geleisteten Kritik erinnert hätte, dann wären die „Schwarzen Hefte“ gewiss beruhigter zu beurteilen gewesen.

Warum musste man jedoch diese bereits geschehenen Debatten, ihre Resultate oder Denkanstöße verdrängen oder vergessen? So wie gerade häufig mit Heideggers Denken umgegangen wird, das lässt einen misstrauisch werden ob der ehrenwerten Ansichten und Meinungen. Angesichts der eingespielten Hyperbolik der aktuellen Auseinandersetzungen spricht vieles dafür, dass sich da etwas als Antifaschismus missversteht, was eine Spielart des Antiintellektualismus ist. Denn so wie Heideggers Denken verabschiedet wird, so verfuhr oder verfährt man auch mit anderen Denkern. Man erinnere sich nur daran, wie in gewissen Abständen die rassistischen oder antisemitischen Passagen aus Kants, Fichtes, Hegels oder Marxens Werken zitiert werden, um endlich zu beweisen, dass man sich durch diese komplexen Werke nicht mehr hindurcharbeiten müsse. In welche Merkwürdigkeiten driftete man nicht ab, als man 2003 zum Jubiläum Adornos ‚bodenlose Vernunftskritik‘ mehrheitlich verabschiedete? Es ging um Sadomasochismus, rassistische Jazzkritiken oder den Romantizismus einer postkapitalistischen Versöhnung. Ob dies Adornos Werk trifft, muss wohl bezweifelt werden – Heidegger macht es einem da scheinbar einfacher.

Gallophobie oder der reimportierte Heidegger

Aufregend ist auch der Germanozentrismus in dieser Debatte. Seit man nach 1945 in der Résistance darum stritt, ob man Sartres Heideggerlektüren ernstnehmen dürfe, gibt es in Frankreich eine sachlichere Auseinandersetzung mit Heideggers Parteinahme für den Nationalsozialismus, seinem Denken insgesamt. Sie ist keineswegs frei von Härten oder Polemik. Es waren aber Kämpfer oder Unterstützer der Résistance, die für Heidegger Partei ergriffen – nicht für die Person Heidegger, nicht für sein konkretes Handeln im Nationalsozialismus, sondern für bestimmte Gedanken und Texte, die mit diesem Namen verbunden sind.

Vielleicht konnte sich in Frankreich die Einsicht im Streit behaupten, dass Heideggers Denken nicht taugt, um den deutschen Antisemitismus oder das Wirken des Nationalsozialismus zu begreifen. Dafür gibt es andere Quellen, andere Gegenstände, die Gewichtigeres zu sagen haben oder unmissverständlich das Grauen sind. Und man sollte andere Bände der Gesamtausgabe als die „Schwarzen Hefte“ lesen oder rezensieren, um etwas von Heideggers Werk und Wirken zu verstehen.

In der heutigen Debatte in Deutschland spielen die Auseinandersetzungen in Frankreich meist nur insofern eine Rolle, um den ‚Erbfeind‘ dafür verantwortlich zu machen, dass man sich mit Poststrukturalismus und anderen postmodernen Spielereien wieder zu sehr auf die Heidegger’sche Verführung eingelassen habe. Jürg Altwegg urteilte in der FAZ, dass die „Schwarzen Hefte“ ein „Debakel für Frankreichs Philosophie“ seien.

Solche Diskursstrategien haben in Deutschland Tradition: Es waren Intellektuelle wie Jürgen Habermas oder Albrecht Wellmer in den 1980ern, die gegen eine Gegenaufklärung, einen neuen Konservativismus polemisierten, dessen Nachleben man im Neostrukturalismus oder in der Posthistoire feststellen könne. Die Argumentation ist auch heute einschlägig, wenn auch zugespitzter vertreten: Heideggers Werk sei wesentlich nationalsozialistisch, ergo seien es auch alle anderen Werke, die sich irgendwie auf Heidegger bezögen. Wie oder warum man sich bestimmte Gedanken Heideggers aneignete, wird dann nebensächlich, wenn der ‚eigentliche‘ Gehalt dieser Gedanken nun bekannt sei.

Lassen wir daher einen der Apologie des Antisemitismus unverdächtigen Denker sprechen. 1988 schrieb Alain Finkielkraut in der Le Monde, damals jedweder Sympathie für den Front National abhold:

Versehen mit Hitlers Schnurrbart und mit dem Hakenkreuz, verliert das Werk Heideggers sofort seine Tiefe: Diese ganzen mysteriösen Parolen über die Seinsvergessenheit, das war es also, mehr nicht! […] Hitlerverschnitt oder besser – man muß mit der Zeit gehen – Le-Pen-Verschnitt für die happy few! Was für ein Glück! Was für eine Erleichterung! Welch köstliche Revanche für den gesunden Menschenverstand, den schon lange reizte, daß ihn ein Denken, das er nicht verstand, in Schach hielt. […] Denn wenn sich Heideggers Meditation […] auf ‚einige lepenistische Allgemeinplätze’ reduziert […], wird das Lesen überflüssig: Man hat verstanden, ‚man weiß Bescheid‘. Falls nötig, wird morgen demonstriert.

Damit Finkielkraut nicht missinterpretiert wird: Er war durchwegs für eine Kritik an Heidegger. Es störte ihn aber die „groteske Hysterie“, die „vor schönen antitotalitären Gefühlen triefende[n] Studenten“, die in Gefahr stünden, ihre eigenen Grundsätze zu verraten: „Man riskiert […] das Auftauchen einer neuen antifaschistischen Parole zu begünstigen: ‚Nieder mit der Philosophie!‘“

Genau dieses Problem ist in der Debatte um die „Schwarzen Hefte“ gegeben: Man tut so, als wäre das „Sein zum Tode“ das philosophische Pendant zum Vernichtungswillen der SS, als sei die Quintessenz dieses Denkens die Apologie des Nationalsozialismus in der Philosophie. Bedenklich daran ist eben nicht nur der Schlussstrich, der so unter die Beschäftigung mit einer Philosophie gezogen werden soll, die ja doch bloße Ideologie sei. Merkwürdige Vorstellungen von Reinheit oder Homogenität schwingen da mit: All jene unterschiedlichen Gedankengänge Heideggers ließen sich auf eine Aussage bringen, kein Rest bleibe übrig, von dem man sich nicht wohl geschieden wüsste. Fundamentalontologie, Seynsdenken und Poststrukturalismus werden so aufgezählt, um sie mit einem Strich zu erledigen.

Emmanuel Levinas’ „Totalität und Unendlichkeit“, Philippe Lacoue-Labarthes „Die Fikition des Politischen“, Francois Lyotards „Heidegger und ‚die Juden‘“ oder Jacques Derridas „Vom Geist. Heidegger und die Frage“ – alles Ausdruck einer „deutschen Ideologie“, auch wenn sie Heidegger kritisierten, die Widersprüche in seinem Werk darstellten. Nein, das müsse man nicht gelesen haben, um nun endlich, mit großer Geste, das geschichtlich Notwendige zu vollstrecken. Unbeschwert greifen solche Kritiker zum Verfahren der Genealogie, beurteilen anhand der Abstammung vom Ahnherrn Heidegger, was bloßes Nachwirken des Nationalsozialismus sei. Heideggers Werk bekommt so eine infektiöse Qualität zugesprochen, auch wider Willen pflanze sich da etwas fort, von dem man sich tunlich reinhalten solle.

Wenn man aber so erledigt, den Gegner eben nicht ernstnimmt, sondern nur subsumiert, dann bereitet man seine Wiederkehr vor. Wenn man bloß ein feststehendes ‚Urteil’ einem Gesamtwerk überstülpt, nicht die Argumentationen des Werkes erst einmal immanent rekonstruiert, dann kehrt der Gegner wieder mit der Aussage, dass man ihn doch bloß falsch verstanden hätte. Für diejenigen, die sich bekennen, anstatt „sich diesem Horror zu stellen“, wird so aus dem mehr als nur berechtigten Anspruch, Antisemitismus oder Nationalsozialismus zu kritisieren, der Auftrag zur „ungeschichtliche[n] akademische[n] Weißwäscherei“, wie es Cord Riechelmann in der TAZ feststellte.

In Heideggers Werk finden sich antisemitische Züge, Apologien des Nationalsozialismus und trotz alledem ist er kein Alfred Rosenberg, Ernst Krieck oder Alfred Baeumler. Oder gibt es gegenwärtig irgendwelche etablierten Wissenschaftler oder Philosophen, die sich auf deren Werke in ihrem Tun beziehen? Emmanuel Fayes Forderung, dass man Heideggers Gesamtausgabe aus der philosophischen Bibliothek entferne und es in die der Geschichtswissenschaft einsortiere, Stichwort Nationalsozialismus, ist die logische Konsequenz jener Weißwäscherei. Fayes Reduktion der Philosophie auf einen Cartesianismus böte so die Möglichkeit, noch viele andere Werke auszusondern. Mit dem Aussortieren von Heidegger verlöre man zudem eine gute Kritik des Cartesianismus.

Der philosophische Gehalt eines Werks ist nur in Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Gedanken darin bestimmbar. Die Überlegungen eines Gesamtwerkes können durchwegs im Widerspruch zu anderen Gedanken desselben Werks stehen, je nachdem, was man aus diesen annährend einhundert Bänden herausliest oder wie man es interpretiert. Ein bloßes Sortieren nach politischen Bekenntnissen ist ein Akt der Verdrängung, weil das Gesamtwerk dann eben nur unter einem Aspekt betrachtet wird. Die Art und Weise, wie ich ein Werk lese oder interpretiere, lässt sich nicht von diesem Werk lösen, so als ob man sagen könnte: Das ist der objektive Gehalt des gesamten Werkes von Martin Heidegger und kein anderer. Solche Strategien der Homogenisierung sind historisch wie begrifflich äußerst problematisch, gerade weil man dann nicht mehr darüber reflektiert, wie man selbst dieses Werk verstanden hat, und man das Werk identisch mit dem Resultat des eigenen Tuns behaupten muss. Mindestens Dialektikern sollte so etwas Kopfschmerzen bereiten.

Wer so verurteilt, der grenzt sich bloß gegen das Andere ab, anstatt es wirklich zu kritisieren. Das ist ein aktueller Ausdruck des Antiintellektualismus, dem es lediglich in bester akademischer Tradition darum geht, konkurrierende Theorietraditionen zu diskreditieren. Wie ähnlich man dem Gegner doch werden kann, wenn man ihn als Feind wahrnimmt. Das endgültige Erledigen, die finale Schlacht, in der man nun endlich gesiegt habe – das sind mythische Redeweisen, vielleicht glücken sie Heideggerianern. Jedoch vollzieht sich Aufklärung nicht ohne Grund als List, keineswegs als Triumphgeschrei.

Heidegger lesen zur Unzeit

Nun ist eine Rezension über einen Band der Gesamtausgabe Heideggers abzuliefern. Kein leichtes Unterfangen, wo man selbst so hochtrabend davon sprach, wie nun Heidegger nicht zu lesen sei. Der pure Zufall hat uns ausgerechnet den 83. Band in die Hände gespielt. In diesem sind allerdings keine abgeschlossenen Werke enthalten. Es ist eine Sammlung von Notizen, Aufzeichnungen, Seminarprotokollen und knappen Ausführungen zu philosophischen Klassikern, von Leibniz bis Kant oder Hegel, aber auch ein Heisenberg kommt vor. Altgriechischkenntnisse sind förderlich; man darf also hoffen, dass sich nach einer gewissen Lektüre das Wissen um diese fremden Buchstaben einstellt. Ein Hoch auf das digitale Zeitalter, in dem das Stocken der Lektüre mittels Suchmaschine flüssiger zu gestalten ist.

Insgesamt ist für den Band eine vorhergehende Beschäftigung mit Heideggers Überlegungen erforderlich, schließlich besteht die Hälfte der Texte nicht aus zusammenhängenden Texten, sondern interpretationsbedürftigen Ansammlungen von Sätzen. Deren rote Fäden lassen sich meist besser auffinden, wenn man jene Texte liest, die Heidegger dort selbst interpretiert. Etwas Mühe macht also die Lektüre. Aber wer sich einen solchen Band anschafft, der könnte dann auch in die Verlegenheit kommen, andere Gesamtausgaben wieder abzustauben und den Blick hinein zu wagen.

In diesem Band wird über jene Seminare Aufschluss gegeben, die für Heideggers Denkweg wesentlich waren: seine Seminare über Platon, Aristoteles und Augustin. Wer sich für die Genese des Denkens Heideggers interessiert, der wird einiger Stellen ansichtig, die strenge Reflexionen darstellen. Im 83. Band geht es beinahe um die Gesamtheit dieser Philosophie: Es ist eine Zeitspanne umfasst, die vom Sommersemester 1928 bis ins Wintersemester 1951/52 reicht. Wenn man sich dafür interessiert, wie sich Heideggers Denken in diesen Perioden wandelte, er sich selbst kritisierte und Altes neu dachte, wird den hier versammelten Vorlesungen doch einiges abgewinnen können.

Zum Verhältnis von Sein und Wahrheit erfährt man so beispielsweise komprimiert, wie Heideggers Kritik des Skeptizismus aus „Sein und Zeit“ zu verstehen ist. Wir können in unserem Denken nicht annehmen, dass es die Welt nicht gibt: „Nur sofern es Welt gibt, d.h. sofern Dasein existiert, kann das Seiende, wovon Dasein getragen ist und was es selbst ist und schafft, sich als Seiendes in seinem Sein bekunden! Vorweg müssen wir mit Welt entgegenkommen sein, damit Seiendes sich aufmacht, als Seiendes sich zu bekunden.“

Es ist offenkundig, dass sich bei solchen Sätzen die Verächter augenrollend abwenden. Sie mögen zwar ihren Wittgenstein oder Adorno schätzen, bei solchen Sprachspielen schwindet die Geduld. Klugheit riete einem folglich zum Schweigen. Ja, Heidegger macht es einem nicht einfach: Er kritisiert vernünftigerweise das Definieren, das Nachplappern des Tradierten, fordert die eigenen Wege und ist trotzdem um ein so anderes Sprechen bemüht, dass es ein Einlassen auf dieses Selbst-Denken fordert.

Um das obige Zitat wieder aufzugreifen: Heidegger argumentiert, dass ein prinzipieller Skeptizismus oder Relativismus nicht nur sich selbst widerspricht. Wer die Nichtexistenz einer gemeinsamen, universalen Welt leugne, wer behaupte, dass alles bloß subjektiv sei oder das Seiende gar nicht wirklich existiere, der bedenkt nicht, wie überhaupt seine Aussage Geltung beansprucht. Er kann dieses Problem nur haben, weil er schon in der Welt ist, auch wenn er sich verrückte – der stärkste Zweifelszweifler muss nämlich merkwürdigerweise eine Gewissheit sein. Das ist nun kein abstraktes, akademisches Problem, sondern alltäglich, wo es heißen mag, dass es doch viele Wahrheiten gebe. Man dürfte sich also bei solchen Aussagen fragen, warum Antiheideggerianer ihn als Stammvater eines postmodernen Relativismus brandmarken, der eben aus dieser Prinzipienlosigkeit politisch so willkürlich sei.

Wie Heidegger in seinen Lektüren die aristotelische „Physik“ entfaltet, wie man den Begriff der Bewegung erst angemessen gebrauche, das sind durchwegs tastende Bemühungen, begleitet von einem „Aber wie?“ oder einem „Vorsicht!“ Es geht dabei um das grundsätzliche Problem, wie Bewegtheit als Transzendental oder, in Hegel’scher Diktion, als ein Übergreifendes zu denken ist. Wie lässt sich also etwas im Denken darstellen oder sistieren, was wesentlich in Bewegtheit ist? Und so kann man in diesem Band der Gesamtausgabe dem nachspüren, wie Heidegger in seiner Einschätzung des Stagirits schwankt, ob sein Werk Ausdruck jener „vormetaphysischen Offenheit“ (Franco Volpi) oder der Seinsvergessenheit der Metaphysik ist.

Die Nähe zu den aristotelischen Überlegungen Hegels wird auch von Heidegger selbst konstatiert, auch wenn die Spannung zum dialektischen Philosophieren in den 50ern deutlich benannt wird, da Entscheidendes „für uns viel zu sehr durch Logik und Dialektik verschüttet ist in seinem eigentlichen Wesen“. Dies notierte Ernst Tugendhat 1952 in einem Seminarprotokoll – jemand, der etwas später für die Geltung der Logik in der Akademie stritt,  der sehr gewissenhaft die analytische Tradition studiert hatte. Ein späterer Heideggerkritiker schrieb dies nieder, obgleich er Schüler Heideggers war, also mit diesem Denken gearbeitet hatte. Dies nur als Hinweis gegen jene gegenwärtigen Stimmen, die einem verkaufen wollen, dass jedwede Arbeit mit Heidegger einen zum Kryptofaschisten prädestiniere.

Umfangreich und kleinteilig wendet sich Heidegger ebenso der aristotelischen „Metaphysik“ zu, aber auch seine für das Werk der frühen 1930er-Jahre bedeutsamen Lektüren (Parmenides, Phaidros und Theätet) werden hier vorbereitet, er interpretiert das Erinnern bei Augustinus, macht sich Gedanken darum, wie das Verhältnis von Sprache und Welt zu verstehen sei.

Denn dafür lohnt es sich doch auf die Suche zu gehen, wie sich in diesem Band die Wege hin zu einem Denken der Sprache auftun: vom Ausgelegtsein der Welt des Daseins, was bloß das Zeichen reflektierte, hin zu einer Hypostasierung der Sprache als dem eigentlich Sprechenden. So finden sich stets wieder in den handschriftlichen Aufzeichnungen zu den Seminaren Bemerkungen zur Sprache, dass sie das „Erscheinen-lassen der Dinge“ sei. Sprache sei nicht primär als „Aussage-Wahrheit“ zu reflektieren, sondern wie sie überhaupt sei, wie sie das sei, über was wir etwas aussagen. Will man allerdings die Detailliertheit dieser Lektüren nachvollziehen, so führt leider der Weg am Phaidros oder dem Kratylos nicht vorbei. Dies hat insofern Aktualität, da diese Themen in der Sprachphilosophie noch eine Weile umstritten sein dürften – auch nach ungefähr 2000 Jahren.

Wer in diesen Gedankengängen nur danach sucht, wie sie als Ausdruck eines Antisemitismus oder als eine Parteinahme für den Nationalsozialismus zu lesen seien, der hat eben sein Ticket gelöst. Selbst Adorno warnte bereits in den 1960er-Jahren davor, es sich mit Heidegger zu einfach zu machen – dabei hatte er eine Kritik, wie Lukács sie übte, im Blick oder die Trivialisierungen durch Sartre. Wie dumm müssen sich doch immer wieder die stellen, die behaupten, dass jeder Parteigänger des Nationalsozialismus geistlos, barbarisch gewesen sei, raunend oder mystifizierend. Nennen wir dies den Antifaschismus der dummen Kerls: Der Gegner erscheint eben als radikal Anderes, was durch eine unüberwindliche Grenze von einem selbst geschieden sei. So abstrakt wird man aber des Desasters nicht Herr, was sich auch in Heideggers Denken ausdrückt. Ihm ist nicht in Lesarten zu begegnen, die man sich selbst nicht glaubt oder die man sich nur glauben kann, weil man aus sehr unterschiedlichen Gründen sehr einfach redet, wenn man verachtet.

Heidegger, der mit „Sein und Zeit“ den Bruch zu jedweder Subjekt- oder Bewusstseinsphilosphie behauptete, führte in seiner Rektoratsrede wieder diesen deutschen, so schillernden Begriff des Geistes ein. Derrida hat dies kritisiert, nicht in einem Aufwasch, nicht mit der Geste eines Jünglings, der ernsthaft das letzte Wort über eine Philosophie sprechen kann. Heidegger werde gerade da problematisch, wo er in Begriffen an die große Tradition der Aufklärung anknüpfe (sei es Geschichts- oder Staatsphilosophie). Manche sprachen hier von einer Dialektik der Aufklärung, andere wollen es eben einfacher haben.

Jahrbücher als Gabe

Und wie geistlos Heidegger im Nationalsozialismus kritisiert wurde: Holger Zaborowski ist es zu danken, dass er in Nüchternheit dies dargestellt hat, in seinem Beitrag „Die Heidegger-Rezeption in Deutschland zwischen 1933 und 1945: Heidegger in Kritik“. Es ist doch daran zu erinnern, dass eben nicht nur kritische oder analytische Theoretiker Heidegger angriffen, sondern auch nationalsozialistische Philosophen. Ja, sicherlich kann man nun feststellen, dass sich Pack und Pack schlage, aber auch vertrage. Vielleicht wäre es aber genau diese Hemdsärmeligkeit, die man an Heideggerianern so verachten gelernt hat, die man hier jedoch vermeiden muss.

Heidegger ist „einer der wohl wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts gewesen […], ein Denker, dessen Werk weit über die Philosophie hinaus Einfluss ausgeübt und viele andere wissenschaftliche Disziplinen von der Altphilologie über die Kunstwissenschaft und Psychatrie bis zur Theologie befruchtet hat – und dies sicherlich nicht, weil er ein ‚nationalsozialistischer Denker‘ gewesen wäre.“

Zaborowskis Aufsatz ist im 5. Band der Heidegger-Jahrbücher zu finden, der zu lesen ist, wenn man wissen will, was die Forschung zu Heidegger – vor den „Schwarzen Heften“ bereits – feststellte. Gewiss waren es Ereignisse in den Feuilletons, die zu diesem Band anregten, aber es ist auch eine neue Breite der Forschung zu konstatieren: Es ist kein Wir in diesen Jahrbüchern spürbar, was man kollektiv dafür anklagen könnte, dass man sich der Vergangenheit und dem Politischen des Gegenstandes nicht annehme.

Zaborowski steht dabei stellvertretend für eine andere Generation von Heideggerforschern, die es sich eben nicht „so leicht“ machen, „wie [es sich] manche Verteidiger Heideggers […] gemacht haben und nach wie vor machen“. Er legt dabei dar, dass es „wichtig“ sei, „darauf hinzuweisen, dass Heidegger mit seiner Kritik am biologistischen Rassismus des Nationalsozialismus mit der Zustimmung vieler anderer Philosophen rechnen konnte und das allein nicht Zeichen einer radikalen Kritik am Nationalsozialismus ist“. Schließlich waren es diese Kritiken des Naturalismus, die eine Apologie gebrauchte, um nicht länger über die Vermitteltheit von Nationalsozialismus und Heidegger’schen Denken sprechen zu müssen. Und dennoch bleibt Zaborowskis Aufsatz in einer gewissen Schwebe, die durch die „Schwarzen Hefte“ verändert worden sein könnte. Er zeigt jedoch auf, dass drastische Kritik stets das Wirken Heideggers begleitete, welche politische Gesinnung auch immer dieses Tun anleitete.

Der 5. Band der Jahrbücher versammelt Reden, die man eher als Verteidigung oder Rechtfertigung Heideggers lesen kann, wie etwa Hermann Heideggers „Bemerkungen zur Rektoratsrede“. Und wie sollte man diese Weißwäschereien aussparen können, wenn es um ein Heidegger-Jahrbuch geht? Zum Auftrag eines solchen Jahrbuchs gehört zunächst, dass deutlich wird, was über Heidegger gedacht wird, und dies muss nicht auf ungeteilte Zustimmung treffen. In dem Jahrbuch finden sich schließlich auch scharfe Kritiken.

So stellt Marion Heinz zu jener Rede Gegenteiliges fest: „Die unbedingte Geltung des Führerprinzips zu legitimieren und zu propagieren, darin besteht der perverse Akt von ‚Selbstbehauptung‘ der Heideggerschen Philosophie. In beispielloser Verkehrung macht sich Heideggers Denken unter Aufbietung des Pathos äußerster Radikalität zum Erfüllungsgehilfen des Faktischen.“

Wer Heideggers Kritik des Faktischen, der Orientierung am Ontischen kennt, weiß, dass Heinzes Kritik Heidegger gegen Heidegger denkt. Ihr Artikel („Volk und Führer. Untersuchungen zu Heideggers Seminar Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat“) bietet auch einen guten Überblick über die Beiträge der letzten großen Heidegger-Debatte. Wer sich daran noch erinnert, hat ein gutes Gedächtnis: Jenes Seminar hatte Faye als gewichtiges Argument gegen das Gesamtwerk in Stellung gebracht. In diesem Seminar sei Heidegger klar als der Nationalsozialist zu erkennen, dessen Ausdruck seine gesamte Philosophie wäre. Heinz hebt sich dabei von der Borniertheit Fayes wohltuend ab, ohne das Problematische, das Entlarvende dieses Seminars zu vernachlässigen. Eher wird durch ihren Beitrag die Kritik an Heidegger trefflich.

Wer nun noch nach Dokumenten sucht, die Heideggers Wirken im Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik belegen, dem sei weiterhin zum 4. Band der Heidegger-Jahrbücher geraten. Der Band versammelt neu Entdecktes, verstreut Publiziertes oder schwer Zugängliches: Die Protokolle zu den Übungen „Über Wesen von Natur, Geschichte und Staat“, Dokumente zur öffentlichen Auseinandersetzung um Heideggers Denken im Nationalsozialismus, Briefwechsel und Tagebucheinträge, auch von anderen. Sie ermöglichen so, das Wirken Heideggers im Nationalsozialismus genauer zu rekonstruieren, Zusammenhänge herzustellen. Sie ersparen allerdings nicht die philosophische Auseinandersetzung, sie liefern eher Fragmente einer zu schreibenden Biografie, die sich durchwegs politisch positionieren müsste, ohne dies als Ausrede zu gebrauchen, nicht in Widersprüchen denken zu müssen. Dies verlangte ihr Gegenstand.

Wie liest man nun Heidegger?

Wer also darüber reden will, was Heideggers nationalsozialistisches „Engagement“ gewesen ist, der sei zuerst auf „Die Heidegger-Kontroverse“ verwiesen, herausgegeben von Jürg Altwegg, die bereits 1988 bei Athenäum erschienen ist (antiquarisch noch leicht erhältlich). Dieser Sammelband gibt einen Überblick über das hohe Niveau der Debatte in Frankreich. Wer dazu noch in jene Jahrbücher blickt, hat reiches Material versammelt. Man muss sich nicht durch die verstreuten und ermüdenden Notizen der „Schwarzen Hefte“ wühlen, sondern erhält die einschlägigen Stellen. Diese Bände enthalten zum Teil sehr streitbare Aufsätze, die es erlauben, dem gewahr zu werden, dass in Deutschland sehr vergesslich debattiert wird und anders gestritten werden könnte.

Aber was reicht schon in heutiger Zeit aus, um Derartiges zu leisten? Freilich ist so etwas zuhanden: seit 2013 bereits in der 2. Auflage das von Dieter Thomä herausgegebene Heidegger-Handbuch. Es bietet für die Kritiker die beruhigende Gelegenheit zur Kenntnisnahme des bereits Geleisteten, für den Einstieg in dieses herausfordernde Sprachspiel Heideggers Klarheit und die Einsatzstellen, wo mit der eigenen Lektüre anzufangen ist.

Es spendet nicht nur einen Überblick über die einzelnen Phasen oder Werke Heideggers, sondern behandelt die bestimmenden „Stichworte“ dieses Denkens, umreißt „Kontext und Wirkung“, von der jüdischen Religionsphilosophie hin zur bildenden Kunst, durchsteht das „Kino mit Heidegger“ und verschmäht nicht das „Herrchen des Seins“, die Glanzstücke der „Heidegger-Satire“. Eine „Chronik“ bildet den würdigen Abschluss und so ist für das Todesjahr 1976 Elfride H. zitiert, aus einem Brief an Imma von Bodmershof: „Kaum ist Martin Heidegger tot, beginnen Streitigkeiten und Intrigen auf allen Seiten; jeder will an der ‚Gesamtausgabe‘ mitmischen“. Dass es aber so weit dann doch nie kam, dass die historisch-kritische Ausgabe ein Kommendes bleibt, wird in vielen Beiträgen konstatiert. Zu klein blieb der Kreis, der dann doch darüber entschied, was und wie es nun in der Gesamtausgabe erscheint. Oder waren die Streitigkeiten nie wirklich zu beruhigen?

Dieter Thomäs Einleitung zitiert am Ende längere Passagen Hannah Arendts, Leo Strauss’, Hans-Georg Gadamers und Karl Löwiths zu Werk und Person Heideggers, aber auch jemanden, der mehr über sich selbst sagt, wenn er über andere spricht: „Heidegger selbst hat sich zu einer zweideutigen Gestalt gemacht […]. An uns liegt es, hinter dieser Zweideutigkeit das Vorausweisende und Einzige, das Entscheidende und Endgültige zu fassen. Die Vorbedingung dafür ist das Wegsehen vom ‚Menschen‘, insgleichen das Absehen vom ‚Werk‘, sofern dieses als Ausdruck des Menschentums, d.h. im Lichte des Menschen gesehen wird. […] Was uns allein angehen muß, ist die Spur, die jener Gedanken-Gang […] in die noch unbegangenen Bezirke künftiger Entscheidungen gezogen hat.“

Thomä griff hier in den Text ein, wohlgemerkt einen des Schwarzwälder Denkers: „Nietzsche“ wurde durch „Heidegger“ ersetzt. Daran wird nicht nur deutlich, wie die Rede vom Einzigen die Lektüre (gerade der „Schwarzen Hefte“) so schwierig macht, weil sich in die Ausstellung eines Einzelnen, und sei es eines Werks, stets der Narzissmus des Ausstellenden einmischt. Diese Montage ist aber darum so geglückt, weil sie die vernünftige Trennung von Person und Werk mit der abgründigen Schläue oder der Klugheit vermittelt, die Heidegger entfaltete, als er sich einer Aufarbeitung der Vergangenheit verweigerte.

„Wer das Denken nicht angreifen kann, greift den Denkenden an“, konstatierte Heidegger in einem Brief an Erhart Kästner. Wer diesen Satz nur als Bestätigung seiner Haltung liest, hat den Abgrund längst vergessen, den Heidegger in mannigfaltigen Weisen in seinem Denken thematisierte, und wo gefragt werden muss, ob er sich über ihm schwebend halten konnte. Thomä ist es dabei zu verdanken, dass er in seinem umfangreichen Artikel „Heidegger und der Nationalsozialismus. In der Dunkelkammer der Seinsgeschichte“ diesen Abgrund kartierte.

Was nämlich als Aufforderung zum trefflichen Angriff auf das Denken lesbar ist, ist auch als Rechtfertigung des Schweigens Heideggers nach 1945 zu interpretieren. Wo Heideggerianer die Unverträglichkeit von Nationalsozialismus und Seynsdenken beschwören, ist es doch ernstzunehmen, nicht als bloße Verirrung abzutun, dass Heidegger 1933 davon sprach: „Wir wollen die Philosophie zur Wirklichkeit machen“. Wer hierbei sich an die 11. Feuerbach’sche These erinnert fühlt, der sei gewarnt; Thomä macht auf eine Kontroverse aufmerksam, die verdeutlicht, wie verzwickt das Handgemenge um das Erbe der ‚deutschen‘ Philosophie nun einmal ist: Während Carl Schmitt postulierte, dass am 30. Januar 1933 Hegel gestorben sei, notierte Heidegger: „nein! er hat noch gar nicht ‚gelebt‘! – da ist er erst lebendig geworden“. Freilich ist dagegen Hegel zu verteidigen, allerdings spielt Heidegger zu Beginn seines nationalsozialistischen Engagements jene Probleme durch, die sich dem philosophisch stellen, der den großen Bruch, die Revolution alles Bestehenden anstrebt. Die Plattheiten der Totalitarismustheorie werden damit nicht aufzupolieren sein.

Thomä gebührt dabei der Verdienst, in Gelassenheit die Strategien systematisiert zu haben, die sich aus dem Umgang mit Heideggers nationalsozialistischem Engagement ergeben. Mit dieser Orientierungshilfe lässt sich gewiss auch die aktuelle Debatte um die „Schwarzen Hefte“ analysieren. Wer also im Jahre 2015 noch behauptet, Heidegger sei nur noch dem Heideggerianismus eine Aufgabe, der konsultiere doch einmal diese so unterschiedlichen Beiträge dieses Handbuches. Die einem Meister dienliche Affirmation spricht gewiss nicht daraus, eher überwiegt eine kritische Distanz, und merkwürdigerweise forderte sie auch Heidegger von seinen Schülern ein.

Andrea Kerns luzide Rekonstruktion des Aufsatzes „Der Ursprung des Kunstwerks“ könnte den an der Ästhetik Interessierten reizen. Heideggers Überlegungen zum „Wesen der Wahrheit“ als Streit werden begreiflich, so dass im Vollzug am Kunstwerk die „Streit-Struktur“ des Verstehens selbst „‚offenbar‘ wird“. So lässt sich das Missverstehen als ein Moment des Verstehens denken, was das Heidegger’sche Denken auch nach der Kehre in Ähnlichkeit zu unterschiedlichen, gar gegnerischen Ästhetiken oder Sprachphilosophien setzt.

Udo Tietz fragt hingegen in seinem Aufsatz zum Verhältnis zu Wittgenstein danach, wie tragbar eine pragmatische Lesart Heideggers sei, die sich gerade im Angelsächsischen einer gewissen Beliebtheit erfreut. Differenzen und Gemeinsamkeiten werden beispielsweise in Bezug auf die Logik, Wahrheit oder den Skeptizismus erörtert. Tietz vertritt dabei die plausible und dennoch streitbare These, dass Heidegger auch in seinem Spätwerk an den „Prämissen der intentionalistischen Semantik“ festhalte.

Christoph Demmerling hingegen untersucht in zwei Beiträgen den sogenannten „Heidegger-Marxismus“, aber auch die „faszinierte Distanz“, die die  Frankfurter Schule mit Heidegger verbinde. Dieser Beitrag lotet behutsam aus, dass sich etwa das Verhältnis von Adorno zu Heidegger doch gewandelt hätte, und schließt mit der Aufforderung, dass es „nun an der Zeit [wäre], jenseits aller Polemik erneut den Blick für die Differenzen zu schärfen, damit sich beide Denktraditionen wechselseitig korrigieren können.“

Wem Heideggers Werk nur aus der aktuellen Debatte oder dem Feuilleton geläufig sein sollte, dem dürfte dies als eine akademische Feinsinnigkeit erscheinen, ebenso fremd wie die Affinität Paul Celans zu Heideggers Denken. Jean Greischs Beitrag „Das ‚befremdete Ich‘ und die Sprache des Seins“ wagt sich in diese Abgründigkeit, orientiert daran, dass der eine „das Monologische der Sprache betont“, während der andere „den besonderen Neigungswinkel der Existenz des Einzel-Ichs [nicht] aus dem Blick verliert“.

Denkwürdig oder sonderbar mutet es an, wenn man liest, dass Heidegger schreibt: „Es wäre heilsam, P.C. auch den Schwarzwald zu zeigen“. Heidegger spricht in diesem Brief an Gerhart Baumann seine Unsicherheit gegenüber dem Zusammentreffen an, da er „von der schweren Krise [weiß], aus der er [Celan] sich selbst herausgeholt hat, soweit dies ein Mensch vermag.“ Heidegger spricht über eine individuelle Krise, aber schweigt über die Shoa. Er erkennt Celans Dichten als „am weitesten vorne“ stehend an, aber praktiziert eine Form von Vergessen oder Verdrängen, wenn das Denken der Vernichtung ihm zu keiner Aufgabe wurde, während er doch zugleich „für das Denken eine ungeheure ‚geschichtliche‘ Verantwortung in Anspruch genommen hat“ (Philippe Lacoue-Labarthe). Ist es darum nicht als eine Kritik zu lesen, wenn Celans letzter Vers im Gedicht „Todtnauberg“ fragt: „– wessen Namens nahms auf / vor dem meinen?“ Greich jedenfalls verbindet ihn mit Celans Eintragung in Heideggers Hüttenbuch: „Ins Hüttenbuch, mit dem Blick auf den Brunnenstern, / mit einer Hoffnung auf ein kommendes Wort / am 25. Juli 1967 Paul Celan“ .

Der schreckliche Verdacht müsste doch die mit Entschlossenheit und Ernst praktizierenden Antiheideggerianer erschaudern lassen: Jede noch so endgültige Kritik als Grablegung trägt den Namen Heidegger mit sich, wartet mit Zitaten auf, deren Kontexte noch so sehr in den Giftschrank verwiesen sein mögen. Doch selbst, wenn es in den Bibliotheken der Geschichtswissenschaft verstaut wäre, wer müsste die Lektüre fürchten, die anderes in Heideggers Werken findet als ein Nachleben des Nationalsozialismus? Emmanuel Levinas sei zitiert:

Das Diabolische begnügt sich nicht mit dem Stand des Bösen, den ihm die Volksweisheit zuordnet und dessen List und Schläue in einer erwachsenen Kultur verbraucht und berechenbar sind. Das Diabolische ist intelligent. Es dringt ein, wo es will. Um es abzulehnen, muß es zunächst widerlegt werden. Um es zu erkennen, ist eine intellektuelle Anstrengung nötig. Wer kann sich ihrer brüsten? Was wollen Sie, das Diabolische gibt zu denken.

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Jürg Altwegg (Hg.): Die Heidegger-Kontroverse.
Antiquarisch gut erhältlich.
Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1988.
249 Seiten, 0,00 EUR.
ISBN-10: 3610047143
ISBN-13: 9783610047146

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Alfred Denker / Holger Zaborowski (Hg.): Heidegger-Jahrbuch 4. Heidegger und der Nationalsozialismus I, Dokumente.
Verlag Karl Alber, Freiburg, München 2010.
368 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783495457047

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Alfred Denker / Holger Zaborowski / Vincent Blok (Hg.): Heidegger-Jahrbuch 5. Heidegger und der Nationalsozialismus II, Interpretationen.
Verlag Karl Alber, Freiburg. München 2010.
480 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783495457054

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Martin Heidegger: Gesamtausgabe. 4 Abteilungen. Seminare. Platon - Aristoteles - Augustinus Bd. 83.
Hrsg. von Mark Michalski.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2012.
680 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783465037637

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Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart, Weimar 2013.
624 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783476022684

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