Theater-Leben

Sadie Jones erzählt in ihrem neuen Roman „Jahre wie diese“ von politischen Systemen und privaten Utopien in den 1970er-Jahren

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über kaum einen Begriff wurde in den 1970er-Jahren so kontrovers diskutiert, kein Wort wurde so emphatisch gebraucht wie das „Leben“. Damit verbindet sich gleichzeitig auch immer die Frage nach dem richtigen, nach einem erfüllten Leben. Angesichts prekärer und ungewisser sozialer, politischer und ökonomischer Verhältnisse suchte die erste nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Generation, die in den 1970er-Jahren das Erwachsenenalter erreichte, nach Lebenskonzepten und Maßstäben für ein sinnerfülltes Dasein. Ihren Platz in der Welt und der Gesellschaft  suchen auch die Protagonisten von Sadie Jones’ neuem Roman „Jahre wie diese“. Der Text beginnt mit einer kurzen Szene, in der Luke Kanowski 1975 in New York auf die Premiere seines neuen Theaterstückes wartet. Eigentlich treibt ihn aber die Frage nach dem Wert und der Bedeutung der letzten Jahre um, in denen er aus der Provinz nach London gekommen und zu einem erfolgreichen Autor aufgestiegen war. Was bis zu jenem Tag in New York geschah, wird rückblickend erzählt, wobei die Zeit ab 1972, als Luke mit Paul und dessen Freundin Leigh ein Theater gründet und die drei unzertrennlich sind, den größten Teil ausmacht.

Sadie Jones ist auch hierzulande längst kein Geheimtipp mehr und Kritiken zu ihren Büchern geraden meist zu Lobeshymnen. Die Romane von Jones verbinden private Lebensschicksale mit dem Nachkriegsleben in der englischen Provinz („Der Außenseiter“) und rufen fast schon aus dem historischen Bewusstsein verschwundene Ereignisse wie die britische Militäroperation auf Zypern 1956  („Kleine Kriege“) in Erinnerung. Dabei ist die Autorin jedoch stets viel mehr an den Mentalitäten, Träumen, Hoffnungen und Befindlichkeiten ihrer fiktionalen Protagonisten interessiert als an einer rein sachlichen Darstellung der historischen Entwicklung. Sie setzt ihr Figuren-Arsenal nicht in eine historische Szenerie, sondern schildert Menschen in ihren zeitgeschichtlichen Kontexten und zeigt, wie kulturgeschichtliche, politische und soziale Ereignisse und Strömungen diese beeinflussen und verändern.

Die Erzählinstanz des neuen Romans gibt immer wieder bedrückende Einblicke in das Innenleben der Figuren. Oftmals wird der zeitgeschichtliche Hintergrund der 1960er- und 70er-Jahre nur angedeutet, wie etwa der Bau des Londoner Post Office Towers, an dem Pauls Vater mitarbeitet, oder die sich durch die erste Ölkrise 1973 auch in England zuspitzenden sozialen Spannungen, was mithin zur Dreitagewoche und erheblichen ökonomischen Verwerfungen geführt hat. Wie auch die früheren Werke zeichnet sich der von Brigitte Walitzek wieder kongenial ins Deutsche übersetzte Roman durch eine tiefe Traurigkeit und eine schnörkellose Sprache aus. Es sind die leisen, nicht auf den Effekt abzielenden Töne, mit der Jones erzählt und die beim Leser eine nachhaltige emotionale Betroffenheit auslösen. Die Hauptfigur Luke ist durch einen gefühllosen Vater und eine Mutter, die seit seinem achten Lebensjahr in der Psychiatrie ist, schon früh auf sich alleine gestellt. Er entwickelt eine enorme Durchsetzungskraft und den Willen, die Enge und Trostlosigkeit der eigenen Verhältnisse hinter sich zu lassen. Gleichzeitig lassen ihn die Erfahrungen emotionaler Kälte und die fehlende Förderung auch zutiefst verunsichert zurück. Diese Unsicherheit wird ihn ein Leben lang begleiten und die Beziehungen zu anderen Menschen entscheidend prägen. Doch Luke will vor allem alles richtig machen und scheut sich daher vor echter Liebe, die er gegen die körperliche, schnelle Befriedigung eintauscht. So bleibt er auch nur Voyeur der Liebe zwischen Paul und Leigh, zu der er sich von Anfang an auf merkwürdige Weise hingezogen fühlt, ohne sich ihr jedoch nähern zu können oder nähern zu wollen. Unaufdringlich erzählt Jones von der inneren Zwiespältigkeit ihrer Figuren und lässt die ganze Tragweite von deren scheiternden Glückvorstellungen deutlich werden.

Die Dreier-Konstellation von Lukes frühen Londoner Jahren ist auch eine Geschichte über sehnsüchtig herbeigewünschte Zweisamkeit, Vertrautheit und Nähe, die aber am Inneren der einzelnen Personen scheitert und zerbricht. Die Unfähigkeit, glücklich sein zu wollen, ist die vielleicht hervorstechendste von Lukes Charaktereigenschaften, was ihm vor allem in der Nähe von Paul und Leigh bewusst wird:

Luke sah sie zusammen und empfand gegen seinen Willen, trotz all seiner Gewissheit, nur Verlust. Spürte, wie etwas Kostbares in seinem Herzen zerbrach, weil er nicht gewusst hatte, wie er es sicher aufbewahren sollte. Da waren sie wieder, die gewohnte, schmerzliche Freude des Suchens und der Mangel; die Distanz zu dem, was Liebe hieß, die ihn geformt hatte. Die Prägung, die dafür gesorgt hatte, dass sein Herz verkümmerte.

Sowohl der schnelle Sex, den Luke sucht, und in Anspielung auf die kulturgeschichtlich signifikante libertäre Aufbruchsstimmung der 1970er-Jahre auch recht einfach findet, als auch die Beobachtung von Paul und Leigh, die er bisweilen auch beim Beischlaf belauscht, sind Ersatzhandlungen, deren verborgene Gründe sich ihm und dem Leser erst im Laufe des Romans erschließen:

Er liebte es, wenn sie alle drei zusammen waren, und glaubte, dass es ihnen genau so ging. Manchmal, wenn er sich vor dem Einschlafen einen runterholte, wusste er, dass Paul und Leigh sich im selben Augenblick auf der anderen Seite der Wand liebten. Sie waren nicht laut, aber er wusste es trotzdem. Er empfand es weder als aufregend noch als abstoßend, und er malte sich nicht aus, was sie vielleicht taten, aber im Halbschlaf hatte es etwas Kameradschaftliches, gleichzeitig dasselbe zu tun wie sie. Da er keine Erfahrung mit Intimität hatte, nicht wusste, was es damit auf sich hatte, war es für ihn eine sichere Form der Liebe.

Das ändert sich, als Luke die ebenso attraktive wie geheimnisvolle Schauspielerin Nina Jacobs kennenlernt. So wie sich Lukes Herkunft von der seiner Freunde Leigh und Paul unterscheidet, ist auch die parallel erzählte Biographie von Nina als Kontrastgeschichte aufgebaut. Durch ihre egozentrische, dominante und gefühlskalte Schauspieler-Mutter gerät auch in Ninas Gefühlswelt einiges durcheinander. Nicht zuletzt durch die Beziehung und spätere Heirat mit dem eigentlich homosexuellen, erfolgreichen Theater- und Kulturmanager Toby schafft Nina in London schneller den sozialen Aufstieg als Luke und wird zur gefeierten Bühnendarstellerin. In der Engführung der Suche nach dem eigenen gesellschaftlichen Platz mit der Theaterwelt hat die Zusammenführung von Luke und Nina fast schon experimentellen Charakter. Beide sind unfähig, sich völlig aufeinander einzulassen, obwohl sie ahnen, dass sie damit ihre besten Jahre verschenken.

Der deutsche Titel „Jahre wie diese“ und die auch das englische Original zierende Schwarzweiß-Fotografie mit der Rückenansicht eines sich umschlingenden Paares vor der mit Piccadilly-Circus, Doppeldeckerbussen und Black Cabs alle gängigen London-Klischees aufwartenden Kulisse, suggeriert zunächst einen Roman, dessen Protagonisten in sehnsuchtsvollem Blick auf bewegte und aufregende Londoner Jahre zurückschauen. Der englische Originaltitel „Fallout“ ist indessen weitaus vieldeutiger und markiert gleichsam die pessimistische Perspektive der Geschichte. Denn als Substantiv bedeutet der Titel so viel wie „Abfallprodukt“ oder auch „Abfallquote“, wobei die auseinander geschriebene Verbform ebenso „sich entzweien“ oder in der Kombination mit „love“ auch „sich entlieben“ bedeutet. Und genau dieses schmerzhafte Gefühl einer Liebe, die sich nicht erfüllen kann, durchleben Luke und Nina.

Das Zentralthema Theater ist dabei mehr als nur Lieferant kulturgeschichtlichen Kolorits. Freilich erfährt der Leser auch etwas über die boomende Theaterwelt in der britischen Metropole, über Fertigstars und Kulturbeflissene, die meinen, eine Welt und Karriere vor sich zu haben in einer Zeit, als das Theater noch provozierte und etwas bedeutete. Ein Roman über das Theater und Theaterleute ist zwangsläufig aber auch immer doppelbödig: Alles, was die Protagonisten tun, ist Schein und Sein zugleich. In unvergleichlicher Weise hat diese Identität von Bühne und Leben Hugo von Hofmannsthal in seinem Prolog zu Schnitzlers „Anatol“ (1892) beschrieben: „Also spielen wir Theater, / Spielen unsre eignen Stücke, / Frühgereift und zart und traurig, / Die Komödie unsrer Seele.“  Gerade für Luke und Nina wird zum Verhängnis, dass sie mitunter gar nicht mehr unterscheiden können zwischen dem eigenen Leben und dem, was sie für die Bühne und auf der Bühne tun. Die ausgelassenen Partys und Empfänge, die zermürbenden Proben und Verhandlungen um Gelder und Fördermittel bilden das Koordinatensystem aller Figuren und zeigen gleichzeitig den Wert von Beziehungen und Freundschaften in einer Scheinwelt. Was wir über Ninas Rolle in dem fiktiven Stück „Haft“ und über Luke aus dessen neuem Stück „Irrwege“ erfahren, scheint die gespiegelte Version ihrer eigenen Lebensverhältnisse zu sein. Erzählt wird das Ganze aber ohne aufdringliche Psychologisierung, sondern mit einem präzisen und fast schon sezierenden Blick auf die Psychopathologie der Protagonisten.

Wenn Luke Nina bei einer ihrer Aufführungen von „Haft“ verstohlen aus dem Dunkel des Zuschauerraums beobachtet, sieht er nicht nur die Darstellerin, sondern auch den Menschen dahinter. Das Theater und die Bühne werden damit auch zum Ort letzter Gewissheiten darüber, was wir von einem Menschen wissen können und wollen:

Luke ergatterte eine zurückgegebene Eintrittskarte für den zweiten Rang und saß in der Dunkelheit, während die Gefängnistüren zufielen. Dieses Mal ging es nicht um die Gefangenschaft seiner Mutter, auch nicht um seine eigene, sondern ausschließlich um die von Nina. Das kalte Licht fiel auf die Bühne. Sie trat auf, blind, kniete sich hin, senkte den Kopf, und Luke hätte alles dafür gegeben, sie zu befreien. Umgeben von Fremden saß er auf seinem Platz und wurde Zeuge ihrer Unterwerfung, ihres Kampfes, ihrer Niederlage.

Der Blick auf die Bühne ist in diesem Roman auch immer der Blick hinter die Kulissen einer mit den 1970er-Jahren leichtfertig verbundenen, aber nur vermeintlichen Unbeschwertheit der freien Liebe, der Drogen und entlarvt die eigentlichen, bedrückenden Dramen der Figuren, die sich in ihrem Inneren und wirklichen Leben abspielen und nicht selten tiefe Narben hinterlassen. Mit seinem neuen Stück „Irrwege“ wird Luke seine alte Identität des schon lange verdrängten Einwanderer-Kindes Lucasz Kanowski völlig hinter sich lassen. Das Drama „Irrwege“, das ihm den Weg nach New York und an den Broadway öffnet und seinen Erfolg sichern wird, ist gleichzeitig die Bilanz seines eigenen Irrweges, für den er – das ahnt Luke, als er alleine in seinem New Yorker Hotel sitzt – einen hohen Preis privater Verluste und Verfehlungen bezahlt hat.

Titelbild

Sadie Jones: Jahre wie diese. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Walitzek.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
413 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046291

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