Die Vorzüge der Literaturgeschichte

Eine Neuauflage der von David E. Wellbery herausgegebenen „Neuen Geschichte der deutschen Literatur“

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man den grauen Klotz, auf dessen Cover in großen Lettern „Eine neue Geschichte der deutschen Literatur“ prangt, zugeschlagen und ins Regal gewuchtet hat (ein herkulischer Akt!), ist die erste Lehre, die man ziehen kann, diese: Die deutsche Literatur beginnt mit einem Zauberspruch und endet mit einem Autounfall. Die zweite ist: Viele Literaturgeschichten ergeben noch keine Literaturgeschichte.

Viel ist beim ersten Erscheinen über diesen Band geschrieben worden. Sein Konzept ist in wenigen Worten beschrieben: Eine Reihe von kurzen Aufsätzen beschäftigt sich jeweils mit einem historischen Datum oder einem bestimmten Zeitraum, der mittel- oder unmittelbar mit einem literarischen Werk oder einem Autor verknüpft ist: zum Beispiel „18. Mai 1804. Napoleon Bonaparte lässt sich zum Kaiser ausrufen“ zum Werk der Karoline von Günderrode oder „12. November 1203. Walther von der Vogelweide erhält fünf Goldtaler, um sich einen Pelzmantel kaufen zu können“. Am Ende jedes Textes finden sich Jahreszahlen als Verweise auf Anknüpfungspunkte und Traditionslinien sowie eine kurze Bibliografie der genutzten Sekundärliteratur. Auf andere Unterteilungen, etwa nach Epochen, wird zugunsten der Wirkung des einzelnen Moments verzichtet.

In seiner hier erschienenen Rezension zur ersten Ausgabe hat Martin Huber nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Literaturwissenschaft sich von der Geschichtsschreibung weitgehend verabschiedet hat. Gewisse Kanonisierungen und Epochenzuschreibungen sind zum unhinterfragten Gebrauchsgut für den fachwissenschaftlichen Alltag geworden. Über Unschärfen und Mehrdeutigkeiten geht man tendenziell eher hinweg – die Erfahrung hat gelehrt, welchen Aufwand es bedeutet, die epochale Zuordnung eines einzelnen Textes vorzunehmen, und dieser Aufwand lohnt meist nicht, wenn er nicht gerade der eigentliche Sinn der jeweiligen Arbeit ist.

Literaturgeschichtsschreibung liegt, kurz gesagt, nicht im akademischen Trend. Man könnte nun mit unverhohlener Boshaftigkeit fragen, ob dies vielleicht an jenen liegt, die der Literaturwissenschaft eine gewisse, mühsam errungene Exaktheit zuschreiben und auf dem Feld der Historie mit ihren vielschichtigen Problemkomplexen das Glatteis metaphysischer Abstraktion wittern. Man könnte aber auch über das ohnehin müßige Fragen nach den Ursachen von Trends und Moden hinweggehen und konstatieren: Geschichtsschreibung bildet den Wesenskern der Literaturwissenschaft. Ihr unter allen turns und Theorien schlummerndes philologisches Fundament resultiert aus und dient nur diesem Zweck: den Irrungen und Wirrungen des – reichlich unscharf definierten – Gegenstands „deutsche Literatur“ durch alle Zeiten hindurch zu folgen.

Die „neue Geschichte der deutschen Literatur“ kann daran erinnern. Denn mit ihren kurzen, einzelnen Werken und mehr oder minder konkreten Daten/Ereignissen gewidmeten Kapiteln macht sie vor allem Eines bewusst: Jedes Werk hat seine(n) Urheber (auch wenn wir sie/ihn nicht immer identifizieren können) und seinen Entstehungszeitraum. Freilich – man kann auf manchem nicht unfruchtbaren Weg hinter diese Bestimmungen zurückgehen, aber sie sind doch zu basal, als dass man sich nicht irgendwie zu ihnen verhalten müsste. Und wenn diese Haltung affirmativ ist, die Gesetztheit von Autor und Werk in Zeit und Raum also anerkannt wird, dann lässt sich daraus für die wissenschaftliche Arbeit ableiten: Das Interpretieren und Verstehen, das Kontextualisieren und das Edieren, sogar das Theoretisieren geht von Zeugnissen der Geschichte aus und rekurriert auf diese. Unter aller Literaturwissenschaft liegt die Arbeit an der Geschichte, am Verstehen historischer Bedingtheiten und Zusammenhänge. Das Vergangensein, das allen Gegenständen der Geisteswissenschaften wesensmäßig eingegeben ist, macht die Historisierung unumgänglich.

In welcher Form sich diese Geschichtsschreibung jeweils äußert, ist zunächst von sekundärer Bedeutung. Es kann allerdings nicht schaden, die Fahne des chronologischen Narrativs gelegentlich hochzuhalten, schon allein weil hier ein probates Mittel bereitsteht, um das große Thema des Fachs an das außeruniversitäre Publikum heranzutragen. Man muss keine Teleologie unterstellen, um dem Lauf der Jahre in der Erzählung der Literaturgeschichte zu folgen. Und genauso wenig muss man diesen Lauf in kleinere und größere Abschnitte unterteilen, die die Gefahr zu großer Vereinfachung in sich bergen. Die Herausforderung für den Literarhistoriker besteht ja nicht darin (oder zumindest sollte sie nicht darin bestehen), ein komplexes Narrativ für die vielfältigen Zusammenhänge zu entwickeln, sondern die komplexe Struktur des Gegenstands in einer einfachen Erzählstruktur erkennbar zu halten. Eine chronologische Erzählung tut der „Wahrheit“ letztlich nicht mehr Gewalt an als jede andere Darstellungsform, sie ist nur durch ihre (vermeintliche) Natürlichkeit anrüchig. Für die Germanistik wäre sowohl in Hinblick auf ihr Selbstverständnis als auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Situation viel gewonnen, wenn sie sich häufiger aus der Bastion diffiziler Theoriegebäude herauswagen würde, um ihre dort gewonnenen, keineswegs wertlosen Erkenntnisse auf einfache Weise dem Rest der Welt zu vermitteln.

Ein solches Wagnis geht die „Neue Geschichte der deutschen Literatur“ ein. Sie verzichtet auf ordnende Epochenbegriffe, sie setzt keinen Zielpunkt der Entwicklung – ihr Anfang und ihr Ende, die Merseburger Zaubersprüche und der Tod W. G. Sebalds sind legitime Versuche, ein unermessliches Feld auf ein handhabbares Maß zu reduzieren. Damit ist schließlich nicht gesagt, dass die deutsche Literatur tatsächlich mit einem Zauberspruch beginnt und mit einem Autounfall endet – diese Schlussfolgerung wäre auf lächerliche Weise kurzsichtig. Und dass sich die Informationsmenge um 1800 und um 1900 gewissermaßen „aufstaut“, taugt ebenfalls nicht zum Vorwurf: Hier werden eben die „großen“ Stationen der deutschen Literaturgeschichte abgeschritten. Niemandem ist es dadurch verboten, eine Erzählung der poetae minores, der vergessenen oder verdrängten Phasen der Literaturgeschichte zu schreiben.

Vor allem aber wird hier versucht, jedem potenziellen Leser die Resultate literaturwissenschaftlicher Forschung näherzubringen. Dabei bleibt manches Detail auf der Strecke – aber ist das schlimm? Sind die Details, die im Fach dazu beitragen, neue Erkenntnisse zu generieren, für die Darstellung dieser Erkenntnisse nach außen von Belang? Arbeiten die vielen Handbücher, die so hoch im Kurs stehen, nicht genauso?

So gelungen das Projekt der „neuen Geschichte der deutschen Literatur“ in dieser Hinsicht ist, so mangelhaft ist es auf’s Ganze gesehen. Denn, wie gesagt: Viele Literaturgeschichten machen noch keine Literaturgeschichte. Dem Band fehlt das Narrativ. Die sich in Jahreszahlen ausdrückenden Verweise auf Bezugspunkte im zeitlichen Verlauf genügen nicht, um aus den Novellen einen Novellenkranz zu formen. Die Herausgeber um David E. Wellbery haben einen solchen Zusammenhang nicht angestrebt, man kann ihnen also aus der Vereinzelung keinen Vorwurf machen. Erst recht nicht, da es ja eine Reihe von Literaturgeschichten gibt, die sich auf ein Narrativ konzentrieren und eine geschlossene Darstellung bezwecken und (mitunter) erzielen. Aber man hätte sich eben doch gewünscht, nicht nur eine Fülle von Einblicken zu erhalten, sondern ein ganzes Panorama – die Makro- und die Mikrostruktur gleichermaßen. Der nötige Aufwand wäre natürlich enorm gewesen, es hätte neben den Fachleuten für die einzelnen Kapitel auch noch einiger „Generalisten“ bedurft, die aus den Teilen ein Ganzes hätten machen müssen. Aber solche Leerstellen sind dazu da, gefüllt zu werden, und wenn sonst nichts dazu motivieren könnte, hilft vielleicht ein Blick auf die Bestsellerlisten: Historische Sachbücher, in denen große Geschichte erzählt wird, erfreuen sich dort nämlich einer beeindruckenden Beliebtheit. Wenn das kein Anreiz ist …

Titelbild

David E. Wellbery (Hg.): Eine neue Geschichte der deutschen Literatur.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2015.
1190 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783650400352

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