Faszinosum Forschungsreise oder imperialer Indientourismus

Die Expedition der Brüder Schlagintweit nach Indien und Zentralsasien

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie waren die ersten Münchner auf dem Dach der Welt, die Brüder Hermann, Adolph und Robert Schlagintweit. Was sie dort sahen, prägte über Jahrzehnte den Blick der Deutschen auf den sagenhaften indischen Subkontinent. Noch heute beschäftigt die mehrjährige Expedition der Brüder (1854-1857), die für Adolph unheilvoll endete, die Forschung. Einem breiteren Publikum wird das kühne Unternehmen jetzt durch eine großangelegte Ausstellung im Alpinen Museum des Deutschen Alpenvereins in München und das hier vorliegende Begleitbuch nahegebracht.

Geboren als die ersten drei von fünf Kindern eines Münchner Augenarztes, wurde das naturkundliche Interesse der Brüder durch den Vater geweckt, während die Mutter für eine künstlerische Ausbildung bei dem Münchner Maler Johann Georg von Dillis sorgte. Die Brüder besuchten das Wilhelms-Gymnasium und unternahmen anspruchsvolle Bergtouren, wie die Besteigung von Großglockner, Similaun und Wildspitze. Die beiden Ältesten wurden in München als Geowissenschaftler promoviert, und 1850 erschien das erste gemeinsame Buch mit dem etwas umständlichen Titel „Untersuchungen über die physikalische Geographie der Alpen und ihre Beziehung zu den Phänomenen der Gletscher, zur Geologie, zur Meteorologie und Pflanzengeographie“. Diese Veröffentlichung, welche bereits ein interdisziplinäres Interesse erkennen lässt, erregte die Aufmerksamkeit des bereits greisen Alexander von Humboldt in Berlin, wohin die jungen Forscher zum Zwecke der Habilitation umsiedelten.

Weil Humboldt in den Bayern Anhänger seiner universalen Forschungsmethodik erkannte, vermittelte er sie, als Preußen eine Unterstützung ablehnte, weiter an die britische Ostindien-Kompanie, die eine großangelegte Expedition nach Indien plante. Hier und vor allem im asiatischen Hochgebirge, an den Grenzen des Empire, sollten sie zunächst erdmagnetische Untersuchungen durchführen, die der exakten Kartographie des Landes zur Sicherung der britischen Herrschaft dienten, aber auch Bodenproben erheben, welche die Kompanie in ertragreichen Gebieten profitabel nutzen wollte. Weitere Forschungstätigkeit blieb den Brüdern freigestellt. Bereits die Vorbereitungen des logistischen Großunternehmens in England, wohin die Brüder übergesiedelt waren, stießen auf breites Interesse, etwa vonseiten Charles Darwins oder Michael Faradays, aber auch auf den Neid englischer Wissenschaftler. Finanziell nunmehr auch durch das preußische und bayerische Königshaus gefördert, stachen die Brüder am 20.9.1854 in Southampton in See.

Von Bombay aus bereisten die jungen Forscher oft auf getrennten Wegen, um möglichst viele Regionen abzudecken, den indischen Subkontinent und zum Teil unbekannte Gebiete Zentralasiens. Sie erkundeten unter anderem den Punjab, Kashmir, Ladakh, Sikkim, Nepal und Kumaon, Orte, wohin sie nur mit massiver Unterstützung der herrschenden Kolonialmacht gelangten und wo sie keineswegs immer willkommen waren. Sie fertigten rund 700 Aquarelle, Zeichnungen und topographische Skizzen an, vermaßen als erste den Nanga Parbat und erreichten bei einer Bergtour am Ibi Gami im Garhwal-Himalaya einen Höhenrekord (6785 Meter), auf den sie mächtig stolz waren. Einmal wurde gar ein Tiger erlegt. Unterwegs nahmen sie mit, was ihnen in die Finger fiel – die Brüder bargen in über 500 Kisten nahezu 40.000 Objekte. Sie durchquerten jedoch keineswegs als heroische Einzelreisende unbekannte Weltgegenden; vielmehr waren ihnen bis zu 100 Mitarbeiter behilflich und unentbehrlich: als geländekundige Führer, indigene Kartenzeichner, Ärzte, Dolmetscher, Diener, Köche, Jäger, Sammler oder Träger.

In ihren naturwissenschaftlichen Sammlungen befinden sich ein Herbarium, eine Schmetterlingssammlung, Nutzhölzer, Sämereien, Säugetierskelette, Hunderte von Tierbälgen und mehrere Tausend Gesteins- und Bodenproben. Auf den Märkten oder in Basaren erwarben sie ethnographische Gegenstände und scheuten auch nicht vor Grabplünderungen zurück. Religiöse Kultgeräte schwatzten sie unwissenden Mönchen ab. Von ihren einheimischen Helfern ebenso wie von Gefängnisinsassen vermaßen sie, ohne Skrupel und mit durchaus rassistischem Forschungsinteresse, deren Körperproportionen oder fertigten Gesichtsmasken an, die sie später als Mitbringsel verkauften. Im Mai 1857 traten Hermann und Rudolph von Ceylon aus die Rückreise nach Europa an. Adolph indes kam, 29-jährig, im August 1857, nachdem er einen Zugang zur Seitenstraße erkundet hatte, in Turkestan gewaltsam um Leben. Er wurde von einem lokalen Warlord gefangen genommen und als vermeintlicher Spion geköpft.

Das Ergebnis der Reise und der Sammelwut fällt eher nüchtern aus: In England wird aus Kreisen der verschiedenen Fachwissenschaften die Beliebigkeit und die mangelnde Vertiefung der einzelnen Disziplinen kritisiert. Weil sie Geld für die zeitaufwändige Auswertung benötigen, bieten die beiden Überlebenden Hermann und Robert ihre Fundstücke sowie deren Replikate wie Sauerbier zum Verkauf an. Fachsammlungen und Museen lehnen ab: zu banal sei das Material. Lediglich Ludwig II. von Bayern zeigt sich an einigen Stücken – als Dekoration für seine indische Hütte im neuen Wintergarten der Münchner Residenz – interessiert. Verkaufen lassen sich auch die Zeichnungen. Da sie jedoch eher in dokumentarischer Absicht angefertigt und deshalb wenig stimmungsvoll sind, müssen sie teilweise überarbeitet und von renommierten Münchner Landschaftsmalern koloriert werden.

Die deutsche Presse immerhin lobt das Unternehmen der Geschwister ziemlich einhellig und läutet damit wohl eine erste Runde im aufkommenden Nationalismus ein. Nachdem schon während der laufenden Expedition Berichte veröffentlicht worden sind, beschreibt Hermann Schlagintweit 1869 in vier Bänden das Gesamtunternehmen („Reisen nach Indien und Hochasien“). Die Gesteinsproben werden zuletzt zum Wegebau verwendet. Erst in letzter Zeit gelang es einer Erbengemeinschaft der Familie Schlagintweit, noch vorhandene Teile der Sammlung aufzukaufen und diese interessierten Archiven und Museen zur Verfügung zu stellen.

Denn heute besteht ein vielfältiges, auch wissenschaftliches Interesse an dem Unternehmen der Brüder, was die Beiträge des Bandes beweisen: So eignen sich etwa die topographischen Zeichnungen von Gletschern, Tälern und Pässen als Vergleichsmaterial für glaziologische Entwicklungen, für Landschaftswandel und Siedlungsentwicklung. Kolonial- und Wissenschaftsgeschichte schöpfen aus der Expedition der Brüder Erkenntnisse über transnationale Zusammenarbeit und Brüche im Zeitalter des Imperialismus, an die man sich gerade in einer globalisierten Welt durchaus erinnern sollte.

Titelbild

Moritz von Brescius / Friederike Kaiser / Stephanie Kleidt (Hg.): Über den Himalaja. Die Expedition der Brüder Schlagintweit nach Indien und Zentralasien 1854 bis 1858.
Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2015.
388 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783412224936

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