Recht, Ethik und Literatur

Zu Romanen von Juli Zeh, Thomas Hettche und Ferdinand von Schirach

Von Detlef HaberlandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Detlef Haberland

I.

Rechtsnormen und ihr Bruch als literarische Motive und literaturstrukturierende Komplexe sind bei weitem keine Seltenheit, sondern eher häufig: Vom germanischen Hildebrandslied an über Gryphius‘ Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britannien, Schillers Ballade Der Gang nach dem Eisenhammer, Kleists Novelle Michael Kohlhaas, Fontanes Unterm Birnbaum bis hin zu Joachim Maas‘ leider kaum gewürdigten Roman Der Fall Gouffé, Dürrenmatts ungleich bekannteren Krimi Der Richter und sein Henker, Doderers Roman Ein Mord, den jeder begeht oder Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum und vielen anderen literarischen Texten – stets sind Delikte wie Mord, fahrlässige Tötung, Totschlag, Betrug, Verdächtigung, Verleumdung und andere Straftaten auf der Grundlage von normativem Zwang, psychischer Anormalität, Neid, Liebe, Hass und anderen Kräften die Antriebskräfte literarischer Handlungen. An drei Romanen der jüngeren und jüngsten Gegenwart soll exemplarisch gezeigt werden, wie sich in ihnen juristische Sachverhalte mit literarischer Gestaltung verbinden und welche Aussagen sie haben.

 II.

Spieltrieb (2004) ist Juli Zehs zweiter Roman, der nur scheinbar ein lokales und altersspezifisches Problem thematisiert. Die Schülerin Ada erbringt in der Schule und im Sport ohne Anstrengung exzellente Leistungen. Vor dem Hintergrund eines durchdachten Nihilismus verneint sie die Existenz jeglicher grundlegender Werte und Autoritäten. Der zweite Protagonist, der Schüler Alev ist wie Ada ein zynischer, hochintelligenter Außenseiter und sehr beliebt bei den Mädchen, obwohl sexuell impotent. Zwischen beiden entwickelt sich eine Beziehung, die sich durch hohe Selbstreflexion, klare Rollenverteilung und strategisch-spielerisches Handeln auszeichnet. Sie basiert auf der gemeinsamen philosophischen Überzeugung und der Scharfsinnigkeit des Urteils über ihre Umwelt.

Alevs Idee, die Anwendbarkeit der Spieltheorie zu überprüfen, gibt den Anstoß zu einer Aktion, die den polnischen Lehrer Smutek zum Objekt macht. Dieser wird von Ada nach Alevs Vorgaben zu sexuellen Handlungen verführt, von Alev fotografiert und schließlich mit dem Bildmaterial erpresst. Hauptziel ist dabei keineswegs der Gewinn von Geld oder Vorteilen, sondern vielmehr das Erlebnis der eigenen Macht, die Berechenbarkeit des Einzelnen und sozialer Gefüge.

Das Spiel endet mit Smuteks gewaltsamer und gewalttätiger Auflehnung und leitet über zu einem juristischen Finale. Die Richterin im Strafprozess gegen Smutek und Alev lässt Ada als Zeugin wesentliche Überlegungen zu Fragen von Gerechtigkeit, Schuld und Recht anstellen und äußert sich über die eigene und abstrakte Zuständigkeit, Möglichkeit und Rechtfertigung ihrer Richter-Funktion. Der Haupttäter Alev sowie das Opfer Smutek, der zum Täter wird, werden bestraft, Ada als wichtige Beteiligte bleibt jedoch unangetastet.

Dem Roman ist als Motto eine Sentenz aus Ciceros Traktat De officiis vorangestellt: „Summum Ius, Summa Iniuria“ (Das höchste Recht bedeutet zugleich die größte Ungerechtigkeit). Diese schon zu Ciceros Zeit sprichwörtliche Wendung, die bis in die Frühe Neuzeit verwendet wurde, scheint eindeutig, birgt aber in sich ein Grundproblem der römischen Rechtsauffassung, die bis heute auf das historische Verständnis des römischen Rechts und seiner Bedeutung in der Anwendung ausstrahlt.

Durch Kants Auslegung ist der Spruch als Votum für die ‚Billigkeit’ (aequitas) aufgefasst worden. Das bedeutet, dass im Einzelfall von einer bestimmten Rechtsnorm abgegangen werden muss, um dem Einzelnen zu seinem Recht zu verhelfen. Ein zweiter Interpretationsstrang geht von der römischen Rhetorik aus und zeigt, dass ‚Billigkeit’ nicht in allen genera der Gesetzesauslegung eine Rolle spielt. In Ciceros Rechtsauffassung ist es der Einzelne, der durch interpretatio, d.h. durch die Auslegung eines Tatbestandes zu eigenen Gunsten, durch vorgetragene Argumente zu seinem Recht kommt. Dies ist aus der Handhabung des Rechts zu verstehen, da es keine kodifizierten Normen gab (wie etwa das BGB), sondern das Recht in öffentlicher Rede verteidigt bzw. erworben werden musste.

Das Motto ist also keineswegs ein schlichter Imperativ, sondern eröffnet für die Romanhandlung einen prinzipiellen Spielraum im Sinne einer „Metaphorisierung des Textes“ (Gütersloh). Die Autorin verweist auf einen offensichtlich noch heute gesellschaftlich relevanten Kontext, der mit dem Geschehen unter der Maßgabe der normativen Justiziabilität und der Wirksamkeit von ethischen Begründungen von Rechtsnormen zusammenhängt.

Der Roman beginnt nach dem Motto nicht gleich mit der Handlung, sondern mit einem „Exordium“ unter dem Titel „Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren“. Das „Exordium“ wird eingeleitet durch eine Reihe rhetorischer Fragen:

Was, wenn ihnen [den Urenkeln der Nihilisten, D.H.] Bibel, Grundgesetz und Strafrecht nie mehr gegolten hätten als Anleitung und Regelbuch zu einem Gesellschaftsspiel? Wenn sie Politik, Liebe und Ökonomie als Wettkampf begriffen? Wenn „das Gute“ für sie maximierte Effizienz bei minimiertem Verlustrisiko wäre, „das Schlechte“ hingegen nichts als ein suboptimales Resultat?

Den Handlungen der Protagonisten liegen also andere Wertmaßstäbe zugrunde als die herkömmlichen.

Nicht eine individuelle Geschichte soll erzählt werden, sondern offensichtlich ein menschlich-soziales Geschehen, das in einen juristischen Fall mündet. An dieser Stelle öffnet sich die Geschichte zur kategorialen Dimension. Deren Formulierung als Paradoxon zeigt die nicht auflösbare Verquickung von Recht und Leben: Wenn die dargestellten Ereignisse nur fiktiv sind, ist die Gesellschaft verloren, weil ihr qua Literatur keine Norm gegeben wird. Wenn dies aber kein literarisches Spiel ist, wenn also die literarische Handlung nicht nur Realitätsbezug, sondern essentiellen Realitätsgehalt beanspruchen kann, dann ist die Gesellschaft erst recht in einem Dilemma, weil dann die Grundlagen der sozialen Ordnung mit Recht bezweifelt werden können. Wenn diese Voraussetzung tatsächlich so besteht (und das soll die Handlung erweisen), stellt der Roman eine gegenwärtige juristisch-politisch-philosophische Aporie in poetischer Umsetzung grundsätzlich zur Diskussion.

In Spieltrieb ist die Erpressung verbunden mit dem sexuellen Akt mit einer Minderjährigen. In der Gerichtsverhandlung am Ende des Romans wird Smutek wegen „schwerer Körperverletzung“, „gefährlicher Körperverletzung“ und „Misshandlung von Schutzbefohlenen“ angeklagt. Alev wird zu „sechs Monate[n] Jugendstrafe auf Bewährung wegen Erpressung, Nötigung und sexuellen Missbrauchs in mittelbarer Täterschaft“ verurteilt. Smutek wird vom Vorwurf der Körperverletzung freigesprochen. Von seiner Verurteilung wird aufgrund von § 174, Abs. IV StGB abgesehen. Ada geht straffrei aus.

Alev glaubt, dass er mit Hilfe seines Spiels Smutek durch § 174, Abs. I StGB in der Hand habe. Dort heißt es: „Wer sexuelle Handlungen 1. an einer Person unter sechzehn Jahren, die ihm zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist, […] vornimmt oder an sich von dem Schutzbefohlenen vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ Das ist eindeutig. Danach müsste Smutek wegen seiner an Ada begangenen Handlungen verurteilt werden. Alev hat jedoch den Absatz IV dieses Paragraphen übersehen, der im Sinne einer Lösung nicht eindeutiger Einzelfälle hinzugefügt wurde und eine ganz besondere Ausnahmesituation voraussetzt. Hier heißt es, dass das Gericht „von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen [kann], wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens des Schutzbefohlenen das Unrecht der Tat gering ist.“

An dieser Stelle kommt Ada ins Spiel, denn sie bekennt, dass sie das Geschehen bewusst mitgestaltet hat. Sie ist nicht wirklich verführt worden, sondern hat vorsätzlich den Lehrer zu den Handlungen verleitet. Zum Zeitpunkt der Tat war sie jedoch noch nicht voll strafmündig. Der Tatbestand der sexuellen Nötigung ist nach § 177, Abs. I StGB eindeutig geregelt; allerdings gilt dies auch für die Körperverletzung Alevs durch Smutek. Hier wären § 223 StGB und § 224 StGB für gefährliche Körperverletzung anzuwenden, oder sogar § 226 StGB für Körperverletzung mit Folgen, denn Alev sitzt erheblich lädiert im Gerichtssaal, kann kaum sprechen und ist für Monate hinaus ein medizinischer Behandlungsfall. Smutek andererseits ist durch die in der Homepage der Schule versteckten Photos eindeutig erpresst worden.

Das Urteil auf der Grundlage von § 174, Abs. IV StGB in Verbindung mit § 32 StGB (berechtigte Notwehr) ist jedoch waghalsig. Die Richterin bewertet die Erpressung Smuteks so stark, dass demgegenüber seine eigenen Delikte praktisch folgenlos bleiben, obwohl er zunächst zugibt: „Zuschlagen ist immer am einfachsten.“ Noch entlarvender ist aber seine tiefergehende Begründung auf Nachfrage der Richterin: „Ich kann es nicht näher erklären, aber ich habe es aus Liebe getan.“ Das wäre an sich schon fragwürdig, da es ihn ja nicht als Erpressten zeigt, sondern mindestens partiell im Einverständnis mit der aktiv beteiligten Ada. Erstaunlicherweise setzt hier Alev nach. Er „beugte sich vor, um Smutek anzulächeln: ‚Er sagt die Wahrheit.’“

Das Urteil ist selbst unter weiter Auslegung der Begründungshilfe von § 174, Abs. IV StGB als außerordentlich nachsichtig und liberal zu werten. Dies stimmt mit der Auffassung der Richterin überein, die sich gleichsam vor einer juristischen Aporie sieht: „In dem Moment, als sie Adas Namen sagte, befiel sie die merkwürdige Idee, dass sie nicht in der Lage sein würde, diesen Fall zu entscheiden.“ Daher nimmt sie zu Ciceros Rechtsgrundsatz als einer zusätzlichen historischen Hilfestellung Zuflucht. Das Motto deutet also eine Extremsituation an, keinen Normalfall, der sich durch Anwendung des kodifizierten Rechts ohne Rest würde auflösen lassen.

Ist nicht dieses Urteil ein Eingeständnis staatlicher Ohnmacht? Welche Motive aber könnten es sein, die eine eindeutige Bewertung von Erpressung, Unzucht mit Minderjährigen und Körperverletzung unmöglich machen? Juli Zeh webt ein dichtes Netz von Argumentationen zwischen Alev und Ada auf der einen und ihren Gegenparts – Lehrern, Elternteilen, Richterin – auf der anderen Seite, um das „Spiel“ der beiden in seiner „terroristischen“ Tendenz zu begründen.

Wenn also Alev und Ada an nichts mehr glauben, was ist dann die Grundlage ihres dennoch teleologischen Handelns? Es ist die Spieltheorie als Basis für das Experiment mit Smutek, die soziale Interaktionen ohne den Rekurs auf moralische, ethische oder religiöse Voraussetzungen untersucht. Ihr Gegenstand „sind Entscheidungssituationen, in denen das Ergebnis für einen Entscheider nicht nur von seinen eigenen Entscheidungen abhängt, sondern auch von dem Verhalten anderer Entscheider.“ Sie betrachtet das soziale und ökonomische Miteinander nicht als ein „Spiel“, sondern vielmehr als „strategische Interaktion“.

Der Roman endet in mehrschichtiger Offenheit. Auch wenn sich Ada von Alev endgültig trennt und mit Smutek eine wahrscheinlich lebensentscheidende Reise unternimmt, so ist diese keine vorweggenommene Flitterwochenpartie. Smutek erläutert ihrer beider Reiseziel so: „‚Wenn wir mit Wien fertig sind’, sagte er, ‚fahren wir weiter in Richtung Südosten. Ins verletzte Herz Europas, in den vivisezierten Kern unserer Geschichte. Unser Zeitalter wird nicht genesen, bevor die Wunden auf jenem Flecken Erde nicht vernarbt sind. Dort werden wir uns zu Hause fühlen.’“

Es ist nicht das klassische Sehnsuchtsparadigma „Das Land der Griechen mit der Seele suchen“, das hier seine moderne Entsprechung gefunden hätte. Vielmehr spricht die Autorin die historisch begründete, aber potentiell unsichere Zukunft des Individuums in Europa an. Die Brüchigkeit der Grundkategorien bürgerlicher Verfasstheit ist jedoch nicht nur im Konflikt Bosniens und Serbiens sichtbar, sondern auch im Kleinen, im Umkreis der Schule. Juli Zeh weist mit damit auf ein Grundproblem der Gegenwart hin: Auch wenn das bürgerliche Miteinander durch kodifizierte Gesetze geregelt ist, so lässt es doch derartige „Schlupflöcher“ für das Handeln des Einzelnen, dass die Konstruktion des Ganzen durchaus in Frage gestellt werden kann.

 III.

Auch Thomas Hettche stellt die grundsätzliche Frage nach dem Zusammenhang von Humanität und Gesellschaftsordnung. In seinem Fall Arbogast (2001) geht es um den Tod einer jungen Frau, die der Angeklagte Arbogast in den 50er Jahren angeblich beim Geschlechtsverkehr erwürgt hat. Das klingt nach Retro-Literatur, nach verstaubter Motivik und zusammengeklaubter Authentizität. Der Großteil des Romans handelt von den juristischen Bedingungen der Wiederaufnahme des Verfahrens und von den Details: ob und wie lange man bei Leichen Würgemale von Kälberstricken nachweisen könne. Das eigentliche Thema spricht jedoch der fanatische Gefängnisgeistliche an: „Zuchthaus bedeutet den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. […] Und wissen Sie, warum? Weil Sie draußen sind, Arbogast. Ihr Körper ist, wie ich es einmal formulieren möchte, im Verhältnis zum Staat, der ihn einsperrt, sozusagen exterritoriales Gelände.“ Damit wird das Thema der ‚politischen Anatomie‘ angesprochen, das das europäische Rechtsdenken seit der Frühen Neuzeit bestimmt und durch Guantanamo eine neue Dimension erhalten hat.

Michel Foucault hat den Wandel von der öffentlichen peinlichen Strafe zur rechtmäßigen Inhaftierung als prinzipiellen Wandel des Rechtsgefühls beschrieben: „Die peinliche Strafe ist auch als ein politisches Ritual zu verstehen. Sie gehört auf ihre Weise zu den Zeremonien, in denen sich die Macht manifestiert.“ Hierzu gehört, dass dem Rechtssubjekt die Chance eingeräumt wird, nach einer Zeit der „Exterritorialität“ wieder ein Mitglied der Gesellschaft zu werden. Das Gefängnis ist und bleibt aber ein Ort, in dem die „entindividualisierte“ Macht mit „Dressurmethoden“ arbeitet, „die am Körper nicht Zeichen, sondern Spuren hinterlassen“. Diese Spuren sind die steigende Teilnahmslosigkeit und Wirklichkeitsfremdheit, die an dem Mörder Arbogast erkennbar sind.

Der „Fall“ Arbogasts ist jedoch nicht eindeutig. Es kann letztlich durch Sachbeweise nicht geklärt werden, ob er Marie beim Geschlechtsverkehr a tergo erwürgt hat; seine Freisprechung wird durch einen Indizienbeweis erreicht. Als er schließlich mit der aus Ostberlin stammenden Gutachterin Katja Lavans schläft, legt er seine Hand auch an ihren Hals. Ob es sich um einen Automatismus handelt oder um eine bewusste Handlung, bleibt ebenfalls offen. Offen bleibt auch das Schicksal der jungen Frau, die sich Arbogast nach seinem Freispruch anschließt. Dass diese Wendung seines persönlichen Lebens als „bestes Beispiel zur Resozialisierung eines Gefangenen“ gelten kann, muss aufgrund der distanzierten Präsentation, nämlich als vorgeblicher Text aus der FAZ, bezweifelt werden und ist eine ironische Schlusspointe des Romans.

Hettche schildert anhand eines einzelnen Falles ähnlich wie Zeh die Problematik des Verhältnisses des Rechtssubjekts zum Staat bzw. zum Rechtssystem. Erkennt man an, dass es sich bei der Formulierung dieses Verhältnisses auch immer um wechselseitige moralische Verpflichtungen handelt, wird die zunehmende Schwierigkeit deutlich, die in komplexen politischen und sozialen Systemen die gerechte Regulierung von sozialem Miteinander ausmachen. Indem die individuelle Verfehlung öffentlich wird, steht auf der anderen Seite die Verpflichtung des exekutiven Systems, diese Verfehlung zu sühnen. Was aber, wenn zwar die Richtlinien eindeutig sind, nicht aber die menschliche Handlung? In einem solchen Fall werden, wie in Juli Zehs Roman, Grauzonen des Rechts betreten, die kaum mehr eindeutig zu beurteilen sind.

 IV.

Etwas anders liegt die Sachlage in Ferdinand von Schirachs Roman Der Fall Collini (2011) – er reicht in die NS-Vergangenheit zurück und berührt doch zugleich ein stets aktuelles Problem. Die Handlung dreht sich um den Italiener Fabrizio Collini, der scheinbar motivlos aus nächster Nähe den angesehenen Fabrikanten Hans Meyer erschießt. Minutiös und sachlich werden die Obduktion und das Gerichtsverfahren beschrieben; eine Sympathie des Erzählers mit einer der beteiligten Parteien ist nicht erkennbar.

Schließlich gewinnt der junge, unerfahrene Rechtsanwalt, der Collini verteidigt, aus einem waffentechnischen Detail die Spur, die ihn tief in die Vergangenheit führt: Collini muss als Kind erfahren, dass sein Vater bei einer Strafaktion der Wehrmacht in Italien mit anderen Geiseln erschossen wurde. Das Erstaunliche ist zunächst, dass er so lange braucht, um diesen Mord zu begehen, obwohl er jahrzehntelang in der Bundesrepublik lebt. Er hat, das erfährt der Leser an anderer Stelle, Hans Meyer, der diese Aktion befehligte, sogar schon 1968 angezeigt. Die Begründung für die lange Frist, die er verstreichen lässt, ist einfach: Fabrizio Collinis Tante Guilia, die letzte seiner Familie, „hatte es kaum ertragen, dass ich wegen der Arbeit in das Land der Mörder gehe. Aber wenn ich in ein Gefängnis der Deutschen komme, hätte es sie umgebracht. Ich musste ihren Tod abwarten. Erst dann konnte ich Meyer töten.“

Nun geht es darum, wie die Geiselerschießung der Deutschen zu bewerten ist; dazu wird der völkerrechtliche Sachstand vor dem Leser ausgebreitet: Er besagt, dass Geiselerschießungen unter gewissen Umständen (keine Frauen und Kinder, keine vorherige Folter, Angemessenheit der Zahl der Geiseln etc.) durchaus mit dem Haager Landkriegsrecht in Einklang standen. Unter diesen Voraussetzungen war demnach auch die Aktion von Hans Meyer rechtmäßig (man denkt unwillkürlich an die Erschießung von Geiseln in den Fosse Ardeatine). Erstaunlich ist hingegen die Wendung der Handlung, dass berichtet wird, dass sogar 1968/69 ein Verfahren gegen ihn geführt wurde. Jedoch wurde er weder angeklagt noch vernommen. „Am 7. Juli 1969 stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Verfahren gegen Hans Meyer ein.“

Die Begründung dafür liegt in einem Gesetz, das am 1. Oktober 1968 in Kraft trat: das „Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz“ (EGOWiG). Zunächst wurden nach der Rechtsprechung nur die höchsten nationalsozialistischen Führungskräfte verurteilt, alle anderen galten als „Mordgehilfen“, „Befehlsempfänger“. Das o.g. Gesetz änderte an diesem Tatbestand nichts, es veränderte nur die Verjährungsfristen. Durch einen Zusatz wurden „bestimmte Mordgehilfen nur wie Totschläger und nicht wie Mörder“ bestraft. Mit der Aufdeckung dieses rechtshistorischen Sachverhalts erreicht es der Verteidiger, dass die Tat Collinis mit einem Schlage nicht mehr „willkürlich“ erscheint, „sondern nachvollziehbar ist“. Gleichwohl bleibt ein unbefriedigtes Gefühl zurück, da Staatsanwalt und Verteidiger aus unterschiedlichen Rechtspositionen heraus argumentieren: „Richter dürfen nicht danach entscheiden, was gerade politisch korrekt erscheint. Wenn Meyer damals richtig handelte, können wir ihm auch heute keinen Vorwurf machen.“ Dem setzt der Verteidiger eine ethische Komponente entgegen: „Was Meyer getan hat, war immer objektiv grausam.“ Diesen rechtsphilosophischen Überlegungen beendet der der Vertreter der Nebenkläger mit dem nicht ganz logischen Schluss: „Ich glaube an die Gesetze, und Sie glauben an die Gesellschaft.“ Bevor jedoch ein Urteil gesprochen werden kann, nimmt sich Collini in seiner Zelle das Leben. Das Verfahren wird eingestellt.

Soweit die juristisch begründete Handlung, die spannend entwickelt wird, da der Mord Collinis an Meyer zunächst vollkommen unmotiviert erscheinen muss und erst durch die Recherchen des Rechtsanwalts die notwendige historische Begründung erhält. Entscheidend ist jedoch nicht die Erläuterung des EGOWiG und seine Auswirkungen, durch die die Tat Collinis – vor allem unter dem Gesichtspunkt der bereits stattgefundenen Auschwitz-Prozesse – möglicherweise anders beurteilt worden wäre. Entscheidend ist sein Selbstmord. Er führt schlagartig die Hoffnungslosigkeit des Individuums vor Augen, der prinzipiell im Recht ist, aber vor Gericht aufgrund einer bestimmten Rechtslage sein Recht nicht erhält.

An dieser Stelle führt der „Fall Collini“ in die Aporie. Der Einzelne steht unter Gesetzen, die für alle gelten, auch für Mörder. Er ist jedoch solchen Verfahren hilflos ausgeliefert, die von denen ins Werk gesetzt werden, die – anders als der „gemeine Mann“ – über die Kenntnisse verfügen, den Apparat der Legislative zu verändern. Wie soll, so könnte eine sich aufdrängende Frage lauten, ein Mensch unter solchen Voraussetzungen weiterleben, wenn er sieht, dass sein lebenslanges Bemühen um Gerechtigkeit vergeblich war? Die Bedeutung dieser Situation geht noch ein Stück weit über das hinaus, das Kafka in seiner bekannten Parabel Vor dem Gesetz beschreibt.

Jenseits des erlernbaren Wissens um „Gesetze und ihre Auslegung“ wird dem Verteidiger auf einmal bewusst: „erst heute, erst bei seinem eigenen Antrag, begriff er, dass es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes ging: den geschundenen Menschen.“ Hierdurch wird eine neue, nämlich eine philosophische Perspektive eröffnet: Das unauflösbare Verhältnis von bürgerlichem Leben und Rechtssicherheit zeigt sich als äußerst fragil und zwar in zweifacher Hinsicht. Das Leben des Einzelnen ist im Krieg, selbst wenn er nicht an Kampfhandlungen teilnimmt, während derer sein Tod „normal“ ist und nicht eingeklagt werden kann, dennoch als unschuldiger Zivilist bedroht, sollte er entweder eine den Umständen falsche Qualität besitzen oder in eine Repressalie hineingeraten. Aber auch sein weiteres Leben unter normalisierten Umständen kann, wenn auch nicht körperlich, so doch in seinem Sinngehalt grundsätzlich bedroht sein, wenn er sich machtlos angesichts veränderter Rechtsmodalitäten sieht, die verhindern, dass ihm Recht widerfährt.

 V.

Die Beispiele haben gezeigt, dass die Schriftsteller, so unterschiedlich ihre Romane auch sind, den Leser nicht mit endgültigen Lösungen aus ihren Werken entlassen, sondern kaum eindeutig klärbare Probleme beschreiben. Allgemeines Recht und individuelle wie gesellschaftliche Moral sind nicht notwendigerweise deckungsgleich. Zudem befinden sich beide in ständigem Wandel.

In der „Offenheit“ der Romanschlüsse im Zusammenhang mit den aufgeworfenen Fragen und der teilweise drastischen Darstellung liegt das Potential aktueller Literatur: Ihre Aufgabe (und dementsprechend ihre Wirkung) liegt nicht in einer „Verrechnung ästhetischer Formen auf ein politisches Analogon hin“ (Karl Heinz Bohrer). Das Ergebnis wäre die Ideologisierung der Literatur und mithin ihre Instrumentalisierung. Auch die „Zentralkategorien der Hermeneutik, also etwa ‚Horizontverschmelzung’, bleiben ästhetisch-theoretisch blind“ (Bohrer). Das Ergebnis wäre eine schwiemelige All-Wetter-Literatur.

Vielmehr gibt es noch eine andere Lösung, die dem Utopiecharakter von Literatur wohl besser entspricht: „Je reiner der ästhetische Kern enthalten ist, um so größer die Strahlkraft nach außen: Diese geschieht allerdings nicht als sozialkritische Korrektur des generellen Diskurses, sondern vielmehr als dessen Irritation. […] Die Irritation des Diskurses vollzieht sich nämlich als Subversion der Gültigkeit seiner normativen Begriffe“ (Bohrer).