Mann und Masse

Stephan Baumgartner untersucht Figurationen des „Weltbezwingers“ im Drama des 19. Jahrhunderts

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selbst das Schweigen über ihn ist beredt: Napoleon Bonaparte. Wie kein anderer beschäftigte er die Gemüter seiner Zeitgenossen, und selbst dort, wo jemand nicht offen über ihn sprach, war er gegenwärtig. So zumindest zeigte es vor einigen Jahren Walter Müller-Seidel am Beispiel Friedrich Schillers („Friedrich Schiller und die Politik“, 2009), der sich trotz des beharrlichen Schweigens in Gesprächen und Briefen doch intensiv mit der Person des Generals und Kaisers auseinandersetzte – nicht zuletzt in seinen Dramen.

Unter den Dramatikern des 19. Jahrhunderts steht er damit, das ist bekannt, keineswegs auf einsamem Posten. Wie sollte man auch erklären, dass das ‚Ereignis Napoleon‘ keinen künstlerisch-literarischen Niederschlag gefunden habe? Der Korse seinerseits ist ebenfalls kein Einzelfall: Die Figur des „großen Mannes“, deren vielleicht wirkmächtigste Verkörperung er ist, hat ihre Wurzeln in der Antike. Man denke nur an Alexander den Großen oder Julius Caesar.

„Der große Mann“, so bestimmt ihn Stephan Baumgartner in seiner Monografie „Weltbezwinger. Der ,große Mann‘ im Drama 1820-1850“, in der er an die wichtigen Vorarbeiten Michael Gampers anknüpft, zeichnet sich durch seine „politische und geschichtliche Macht“ aus, die er durch seine charismatischen Fähigkeiten und Eigenschaften gewinnt. Dass dieser Terminus etwas vage ist, bekundet der Autor selbst, deutlich wird in der Definition aber auch, dass es sich um eine nachträgliche oder zumindest von außen kommende Zuschreibung handelt. Denn die Wirksamkeit des großen Einzelnen kann nicht von ihm selbst postuliert werden, auch wenn er seine Talente in dieser Richtung gezielt eingesetzt haben mag. Nur aus einer gewissen Distanz lässt sich das Urteil fällen, ob jemand ,groß‘ gewesen ist oder nicht.

Dass Napoleon ein Charismatiker war, machte ihn zum gefundenen Fressen für das Theater. Denn in ihrer Außenwirkung, der auf Impression und Blendung gerichteten Theatralität, liegt ihre Verwendbarkeit für die Bühne begründet. Und gerade das Theater um 1800 ist reich an solchen Figuren: Wallenstein und Regulus, Martin Luther und Attila sind nur die frühesten Zeugen dieses Trends. Hier ließe sich viel herausarbeiten (immerhin geht der Autor auf Schiller ein, seltsamerweise allerdings ohne auf die in diesem Kontext nicht unwichtige Arbeit Müller-Seidels zu verweisen), denn auch vor 1815 erschien der französische Kaiser seinen Zeitgenossen als großer Mann. Baumgartner allerdings orientiert sich eher zur Jahrhundertmitte hin, indem er Texte untersucht, die erst nach Napoleons Tod auf St. Helena entstanden sind. Naheliegend ist es dabei, vor allem Dramen Christian Dietrich Grabbes zu betrachten, nicht zuletzt natürlich dessen Napoleon-Drama. Daneben finden aber auch Friedrich Hebbel, Georg Büchner und Johann Nestroy Berücksichtigung. Ausgeschlossen wird damit ein ,romantisches‘ Drama (Zacharias Werner, Heinrich von Collin, aber auch Ludwig Tieck und Clemens Brentano), das einerseits näher am historischen Geschehen liegt, andererseits aber auch ein größeres Forschungsdesiderat bildet als die ,biedermeierlich-jungdeutschen‘ Grabbe, Georg Büchner oder Friedrich Hebbel. Der Leistung des Verfassers tut das freilich keinen Abbruch.

Baumgartner, der vom großen Mann oft als „Phantasma“ spricht und damit die Projektionsfläche dieser Figur charakterisiert, verfolgt die Entwicklung, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts von der Erklärung des großen Mannes als alleinigem Motor der Geschichte weg, hin zu einem Verständnis der ihn begleitenden Masse führte. Als besonders anschaulich erweisen sich hier die Dramen Grabbes: Verhandelt der „Marius und Sulla“-Entwurf noch die unterschiedlichen Entwürfe ,charismatischer‘ Führung aus dem Wesen des charismatischen Führers, wird dies in „Napoleon oder die hundert Tage“ dahingehend problematisiert, dass der große Herrscher für seine Zwecke bereits die ‚Volksmasse‘ lenken muss. Die Rückkehr von Elba und die Wiedererrichtung des Kaisertums gelingt nur, weil der große Mann sich nicht allein auf sich verlässt, sondern alle ihm zur Verfügung stehenden Medien einsetzt. Ohne Zeitung und Telegraf könnte Bonaparte Gegner und Unterstützer nicht in der nötigen Weise lenken – anders als in Grabbes „Herzog Theodor von Gothland“ ist die persönliche Anwesenheit und unmittelbare Wirkung des Charismatikers nicht mehr möglich beziehungsweise ausreichend, um die Masse der Anhänger zu kontrollieren. In der „Hermannsschlacht“ schließlich gerät die Volksmasse ins Zentrum des Interesses. Hier ist es nicht mehr Arminius, der als Vorantreiber der Geschichte fungiert, sondern die germanischen Volksstämme, die sich gemeinsam gegen die Invasoren zur Wehr setzen. Die geschichtsphilosophische (hegelsche) Vorstellung des Individuums, welches das Wesen seiner Zeit intuitiv erfasst und so dem Weltgeist auf seiner Bahn voranhilft, wird damit, wenn nicht verabschiedet, so doch in die Vielzahl der namenlosen Zeitgenossen aufgelöst.

Eine sinnvolle Ergänzung dieses Befundes liefert Baumgartner mit der Betrachtung von Hebbels Holofernes-Figur in der „Judith“. Denn wenn in der Entwicklung der Grabbeschen Stücke das „Phantasma des großen Mannes“ in seiner geschichtsphilosophischen Dimension als ,Phantasma‘ überhaupt erst entlarvt wird, so liefert im Falle Hebbels die Parodie durch Johann Nestroy diese Enthüllung. Denn die selbstbehauptete Größe Holofernesʼ, die sich parodistisch hervorragend unterlaufen lässt, offenbart die prekäre Überschätzung jeder Selbstzuschreibung: Groß ist nicht, wer sich selbst so nennt, sondern wer imstande ist, große Wirkung zu erzeugen.

Im letzten Kapitel vervollständigt Baumgartner seine Studie mit einem Blick auf ,große Frauen‘ sowie „Gegen- und Nebenfiguren“ des großen Mannes. Die zuvor herausgestellten Befunde werden dadurch noch einmal untermauert, zugleich bieten sich hier Anknüpfungspunkte für die weitere Forschung. Die Mythenbildung um die preußische Königin Luise etwa verweist in ihrer Vorbildfunktion für den regional organisierten (para-)militärischen Widerstand bereits auf die Bedeutung der Masse gegenüber dem großen Individuum. Und der Tiroler Andreas Hofer als vom Herrscher eingesetzter (und dann fallengelassener) großer Mann des Volksaufstands erweitert das Thema um eine weitere Facette, die nicht zuletzt eine kritische Perspektive auf das ja auch propagandistisch taugliche Konzept des ,großen Mannes‘ erlaubt.

Über alledem geht der Blick auf Napoleon mitunter verloren, obwohl ja kaum ein Zweifel daran besteht, dass im Wesentlichen er es ist, auf den sich die behandelten Dramatiker mit ihren Werken beziehen. Baumgartner macht darauf aufmerksam, dass sich das Ausweichen auf andere, weiter zurückliegende Stoffe häufig aus dem Umstand erklärt, dass das Revolutionsgeschehen und der Aufstieg des Korsen über zwanzig Jahre dauerten. Ein Zeitraum, der sich für die Zeitgenossen auf keine legitime Weise in eine verkürzende Bühnenhandlung übertragen ließ. Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der die Zeit auf den französischen Kaiser rekurriert, erscheint das aber eine lässliche Sünde der Argumentation, die dem Ganzen nicht schadet – für die literaturwissenschaftliche Arbeit gilt eben dasselbe wie für Schillers Dramen: Auch das Schweigen ist beredt.

Hebt man am Ende den Blick von der Literaturgeschichte empor in die Gegenwart, zeigt sich sofort die Relevanz dieser Arbeit. Wo allerorten vermeintliche große Männer ihren fundamentalistischen oder hegemonial-politischen Fantasien nur zu realen Ausdruck verleihen wollen, kann es nicht schaden, die medialen Funktionsweisen dieser Figuren besser zu verstehen – und sich daran zu erinnern, dass nicht mächtige Einzelne Geschichte machen, sondern die Menge der Übrigen.

Titelbild

Stephan Baumgartner: Weltbezwinger. Der 'große Mann' im Drama 1820-1850.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2014.
390 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783849810504

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