Die Sammelwut der Patrizier

Einen neuer Bild- und Leseband zum Codex Manesse

Von Nick OstrauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nick Ostrau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch nach gut 700 Jahren ist sie noch immer eine der bekanntesten Liederhandschriften des Mittelalters: der Codex Manesse, dessen Namen und Entstehung im ersten Drittel des 14. Jahrhundert wir der leidenschaftlichen Sammlertätigkeit der gleichnamigen Züricher Patrizierfamilie verdanken. Die heute in Heidelberg wie ein Staatsschatz gesicherte „große” Liederhandschrift enthält schliesslich nicht nur den vollständigen Corpus des uns heute bekannten mittelhochdeutschen klassischen und nachklassischen Minnesangs, sondern seine 138 farbenprächtigen Miniaturenporträts bezeugen vielmehr die nachhaltige Resonanz, welche die Blütezeit hochmittelalterlicher Dichtung auf die nachfolgenden Generationen ausübte. Professor Lothar Voetz (Universität Heidelberg) hat im Lambert Schneider Verlag (ein Imprint der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft) mit Der Codex Manesse: Die berühmteste Liederhandschrift des Mittelalters einen neuen Bild- und Leseband zu dieser Handschrift vorgelegt. Nicht nur wird eine eindrucksvolle Auswahl seiner Künstlerminiaturen und Auszüge aus den in ihr enthaltenen Liedern vorgestellt, sondern es wird gleichzeitig auch die nicht minder spannende Entstehungs- und Aufbewahrungsgeschichte der Sammlung selbst erschlossen.

Unbestreitbar war es an der Zeit für einen neuen wissenschaftlichen Band, der sich nicht nur mit dem Inhalt des Codex, sondern auch mit dessen Genese beschäftigt. In der Einleitung spricht Voetz vom Codex als ein Buch „mit sieben Siegeln,” dass es auf den restlichen Seiten seiner Veröffentlichung zu entschlüsseln gilt. Zu einem roten Faden verbindet Voetz dann meisterhaft die Sammlertätigkeit der Patrizier mit Inhalt und Gestaltung des Codex selbst. Schnell wird klar: Lange vor Erfindung der heute bei Sammlern so beliebten WM-Paninialben und den dazu gehörigen bunten Klebebildchen verschiedener Sporthelden, wollte man im Spätmittelalter mithilfe gotischer Buchmalerei die Konterfeis der literarischen Größen aus der vorigen Generation in einem Sammelband zusammentragen, um sie in Erinnerung zu halten und auch um sich selbst mit ihnen zu schmücken. Man ließ sie alle wieder auferstehen: von Kaiser Heinrich, über Reinmar bis Walther von der Vogelweide. Mal gerüstet und gewappnet zu Pferde, mal blumengeschmückt beim Liebeswerben, und dann wieder konzentriert den Dirigierstock schwingend beim Hauskonzert, so wünschten sich die stadtritterlichen Patrizier das Bild ihrer höfischen Vorgänger, in deren direkter Nachfolge sie sich selbst sahen und deren Erbe sie bewahren wollten. Das war ein Glück: Ohne die Sammelwut der Patrizier wüssten wir schließlich nicht einmal um die Existenz von mehr als der Hälfte des Manessischen Liedgutes und ihrer Verfasser. Um dem Leser einen Eindruck vom Aufbau der Text- und Schriftseiten zu geben wird Voetz’ Text immer wieder durch ganzseitige Autorenporträts und Textauszüge sowie den dazu gehörigen Miniaturen unterlaufen, die wie auch im Originalmanuskript weder chronologisch noch thematisch, sondern nach Stand des Dichters angeordnet sind („Vom Kaiser bis zum Bettelmann”). Bild und Text, das zeigt uns Voetz immer wieder, fungieren ähnlich einer nachträglichen Visitenkarte, wobei die damaligen Sammler – den leeren Feldern moderner Sammelalben nicht unähnlich – auf vielen Pergamentseiten sogar noch Platz zur Erweiterung und Komplettierung der Kollektion gelassen hatten.

Voetz gibt jedoch nicht nur einen hervorragenden Überblick über die gekonnte Inszenierung hochmittelalterlichen Liedguts durch spätmittelalterliche Künstler und deren Auftraggeber. Die Herstellungs- und Aufbewahrungsgeschichte des Codex in den Wirren der Jahrhunderte wird nicht minder spannend präsentiert. Der Weg führt den Leser über die Herstellung des Manuskripts von den Züricher Anfängen über ab- und umwegige Reisen zwischen St. Gallen und Heidelberg bis nach Paris. Voetz wechselt dabei geschickt zwischen historisch-politischer und literaturkritischer Perspektive, wenn er zum Beispiel den Codex mit anderen bekannten mittelalterlichen Liederhandschriften wie der Carmina Burana oder der Weingartner Liederhandschrift vergleicht. Abgerundet wird der Band mit einem sehr ausführlichen Anhang. Enthalten sind ein Leitfaden zur Betonung und Aussprache im Mittelhochdeutschen, weiterführende Literatur sowie Informationen zu zweisprachigen und Faksimile-Ausgaben der Handschrift.

Obwohl Der Codex Manesse keine fakismilierte Reproduktion des Originals darstellt, steht die qualitativ hochwertige Verarbeitung des Bandes der originalen Liederhandschrift in wenig nach. Weder fehlen ein leinener Buchdeckel mit Lesebändchen, noch – eine besonders nette Geste – der Buchumschlag aus Raufaserpapier, der die materielle Beschaffenheit der Pergamentseiten des Originals nachahmt. Der Band präsentiert sich erfreulicherweise im Großformat (25,1 x 2,2 x 32,7 cm) und erlaubt so eine detaillierte Reproduktion der 137 farbigen Miniaturen, wobei viele, jedoch nicht alle, auch eine ganze Seite füllen. Kurzum: Dieser attraktive Leseband lädt immer wieder zum Blättern und Schauen ein. Er dürfte all diejenigen, die sich für die Geschichte mittelalterlicher Handschriften, gotische Buchmalerei und die Laienliteratur des Mittelalters begeistern, gleichermaßen zufriedenstellen. Wer je die tiefe Befriedigung empfunden hat, seinem Paninialbum ein lange ersehntes Klebebildchen hinzufügen zu können, kommt um Voetz’ sehr lesens- und sehenswerte Arbeit über eine der bedeutendsten mittelalterlichen Lieder- und Miniaturensammlungen nicht herum.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Lothar Voetz: Der Codex Manesse. Die berühmteste Liederhandschrift des Mittelalters.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2015.
176 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783650400420

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