Zwischen Empathie und Distanz

Marianne Brentzel rekonstruiert das Leben Else Urys

Von Marie-Luise WünscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie-Luise Wünsche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Else Ury zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen auf dem Feld der Kinder- und Jugendliteratur. Ihr Debüt erschien 1905 unter dem Titel „Was das Sonntagskind erlauscht“,  der später einige Verwirrung stiftete. Das tat er vielleicht gemeinsam mit der Tatsache, dass die Autorin als Privatmensch durchaus das Weihnachtsfest zu feiern wusste. Beides, die Metaphorik des Sonntagskindes und das Weihnachtsfest, werden gemeinhin als typisch christliche Tradition aufgefasst. Daran wusste Ury  offenbar nichts Falsches oder gar Ungebührliches zu finden, was der eigenen Identität entgegenlaufen könnte. Sie war eine deutschnational und damit sehr patriotisch eingestellte und zugleich jüdisch-orthodox gläubige Frau aus einer Unternehmerfamilie. Geboren am 1. November 1877 in Berlin-Mitte, fand sie im Anschluss an eine Gymnasialbildung, die sie nach der Selecta abschloss, rasch zu ihrer Profession. Generationen von Frauen aus reichem und gut bürgerlichem Hause oder aus solchem, denen erstere auch in Bezug auf die Erziehung der eigenen Töchter Vorbild waren, begleitete Annemarie Braun – gleichsam als unsichtbare Freundin – durch ihre Adoleszenz.

Dies geschah in einer Weise, wie dies heute wohl etwa nur noch Hermine, der klugen Freundin des Serienhelden Harry Potter, gelingen mag. Wie dieser, so ist auch Annemarie Braun die Protagonistin eines Bestsellerromans, der von Anfang an als Roman-Serie geplant war, die junge Leserinnen in eine Frauenrolle einüben sollte, die heutzutage erfreulicherweise als in unserem Kulturraum weitestgehend überwunden gelten darf. 1913 erschien der erste Band der Reihe unter dem Titel „Nesthäkchen und ihre Puppen“. Die Romane, durchaus noch dem Biedermeierrhythmus verpflichtet, stellten sich gleichsam quer zur Moderne. Ihren Abschluss fand die Reihe 1925 mit dem Titel „Nesthäkchen im weißen Haar“.

Nesthäkchens Abenteuer  im Kreise geordneter familiärer Bahnen, geprägt vom Prinzip Fürsorge, lassen sich zunächst durchaus mit dem gerade im heutigen Amerika gebräuchlichen Etikett von der „deutschen Gemütlichkeit“ angemessen umschreiben. Annemarie alias ‚Nesthäkchen‘, die Protagonistin dieser Backfischromane ist ein Wildfang und wird durchaus auch selbst schon mal zum ‚Mobber‘, wie man es heute nennen  würde. Vera etwa, eine der Protagonistin über mehrere Bände an die Seite gestellte Antagonistin polnischer Herkunft, hat über hunderte von Seiten unter den deutschnationalen Attacken vonseiten der Protagonistin zu leiden, die – welch sarkastische Ironie der Zeitgeschichte – denselben Nachnamen wie Hitlers Freundin trägt, bis sich Annemarie Braun schließlich dazu herablässt, Vera zu ihrer Freundin zu küren. Grund dafür ist der Heldentod, den Veras Vater an der Front für Deutschland stirbt. Die Roman-Serie ist nicht nur mit dem Lokalkolorit Berlins angereichert, sondern thematisiert daneben ebenso die Zeit des Kaiserreiches und des Ersten Weltkriegs.

Else Ury hat, neben dieser wohl bekanntesten Serie um eine Arzttochter herum, auch noch weitere Romane und Theaterstücke geschrieben, deren intendierter Rezipienten-Kreis häufig die Töchter des wohlhabenderen und bildungsbedachten Bürgertums waren. Die meiste Zeit ihres Lebens hat sie in Berlin verbracht, mit Sommerfrischeaufenthalten im Riesengebirge, in Krummhübel, wo sie ein Haus besaß, das als „Haus Nesthäkchen“ bekannt war. Es wurde 1941 beschlagnahmt, ganz und gar im Einvernehmen mit dem positiv gesetzten Recht des nationalsozialistischen Terrorregimes. Noch 1933 erscheint ihr Buch „Jugend voraus“,  in dem sie ähnlich patriotisch wie bereits 1914 in „Nesthäkchen und der Weltkrieg“ die vorwiegend jugendlichen Leserinnen zu Disziplin, Durchhaltevermögen und ihren Pflichten als Staatsbürgerinnen Deutschlands anhält.

Else Ury versäumte es, wohl auch aufgrund ihrer durch und durch deutschnationalen Grundhaltung, früh genug das Land zu verlassen, dem sie sich so tief verbunden fühlte. Alle überdeutlichen Zeichen konnten sie nicht zu einer Flucht bewegen, auch nicht der Freitod ihres Bruders Dr. Hans Ury im Jahr 1937. Ein weiterer Grund war sicher der, dass sich die unverheiratete Autorin lange Zeit um ihre schwerkranke Mutter kümmerte.

Irgendwann erhielt Else Ury  die behördliche Anordnung, Sara als zweiten Vornamen zu tragen, dann folgte das Berufsverbot, schließlich der Verlust ihrer deutschen Staatsbürgerschaft. Am 6. Januar 1943 hat sie sich an der Deportationssammelstelle in Berlin einzufinden. Sie ist folgsam, sozusagen ein ‚liebes Kind‘. Bis zuletzt. Die „Verfügung zur Einziehung ihres Vermögens zugunsten des Deutschen Reiches“ hat sie veranlasst. Ordnung muss sein. Besonders in Deutschland und seinen Vorläuferstaaten.

Nach allem, was wir zum jetzigen Zeitpunkt wissen, ist Else Ury, die sich nun Else Sara Ury zu nennen hatte, „unter der Transportnummer 638 in einem Güterwaggon nach Auschwitz“ transportiert worden. Gemeinsam mit „1100 Berliner Juden unter der Transportnummer 638“. Dort ist sie „von der Rampe aus in die Gaskammer getrieben und ermordet“ worden. Die „Zeittafel zum Leben von Else Ury“, die die hier relevante, zweite autobiographische Annäherung von Marianne Brentzel an Else Ury abschließt, weist diese Daten aus. Die Annäherung selbst weiß davon zu berichten, dass Urys Koffer, der ebenfalls streng nach amtlichen Vorgaben gepackt worden war, noch Ende der 1990er-Jahre als museales Ausstellungsstück fungierte. Ungeöffnet.

„Nesthäkchen kommt ins KZ“ betitelte Marianne Brentzel ihre erste Annäherung an Else Urys Biographie. Sie erschien 1992, ebenfalls im Verlag ebersbach & simon. Die nun unter dem Titel „Mir kann doch nichts geschehen …“ vorliegende Biographie kann, so ist der Homepage der Autorin zu entnehmen, als Überarbeitung und Erweiterung der ersten Biographie aufgefasst werden. Sie erhebt nicht den Anspruch, eine wissenschaftlich fundierte Biographie zu sein. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – ist ihr Wert für die kulturwissenschaftliche Forschung kaum zu überschätzen. Dies mag mit Blick auf einschlägige Lexika deutlicher werden, in denen die Erwähnung Urys eigentlich nicht hätte unterbleiben dürfen, weil sie  zu den bedeutendsten Vertreterinnen deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur zu zählen ist, auch wenn ihr Œuvre überkommene Klischees  selten kritisiert oder gar dekonstruiert und oft bedient, teilweise sogar überbietet. Da erstaunt es dann doch ein wenig,  dass weder das 1999 erstmals im J.B. Metzler Verlag von Bettina Kümmerling-Meibauer herausgegebene 3 bändige Werk der „Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur“ noch das im selben Verlag 2012 in zweiter Auflage von Andreas B. Kilcher herausgegebene „Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur“ den Namen Else Ury vermerken. In dem bereits 2000 von Günter Lange im Schneider Verlag herausgegebenen zweibändigen „Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur“ begegnet man der Autorin namentlich dagegen gleich in mehreren Überblicksbeiträgen, sobald es um Backfischliteratur, Schonraumliteratur oder eben auch um Mädchenliteratur geht.

Über die Biographie der Schriftstellerin erfährt man dort jedoch wenig bis gar nichts. Das macht die zweite biographische Annäherung von  Marianne Brentzel so wertvoll. Sie ist, wie die weiteren Studien der Autorin zu Frauenbiographien widerspenstiger „Eva-Töchter“ auch, einer „Synthese von Empathie und Distanz“ verpflichtet. So brachte es zumindest Dr. Hannes Kraus 2014 in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Literaturpreises Ruhr auf den Punkt. Dem ist nichts hinzuzufügen. 

Titelbild

Marianne Brentzel: Mir kann doch nichts geschehen ... Das Leben der Nesthäkchen-Autorin Else Ury.
ebersbach & simon, Berlin 2015.
160 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783869151021

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