Recht sprechen

Uwe Nettelbecks Gerichtsreportagen aus den Jahren 1967 bis 1969

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Recht steht nicht nur in einem Spannungsverhältnis zur Gerechtigkeit, es hat auch eine spezifische Beziehung zur politischen Kultur. Dass die Gerichte, die Recht sprechen, unabhängig sein sollen, ist eben nicht nur ein schöner Traum, sondern auch bittere Notwendigkeit. Eine Lektion, die die westdeutsche Justiz nicht zuletzt in den 1960er-Jahren zu lernen hatte. Dem NS-Regime, aus dem heraus zahlreiche Kontinuitäten bestanden, gerade entkommen, hatte sich die Rechtsprechung zwar Unabhängigkeit gesichert, sich zugleich jedoch als systemstabilisierend positioniert. Die Proteste der Studenten in den späten 1960er-Jahren bedrohten diese Stabilität offensichtlich, was im Umgang der Richter mit den Beklagten erkennbar ist. Dass es dabei nicht geblieben ist, geht nicht nur auf die widersprüchliche mediale Auseinandersetzung mit den Prozessen zurück, die sich an die Studentenproteste anschlossen. Dies ist auch Teil der gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, in denen sich das, was ‚offene Gesellschaft‘ zu nennen ist, mehr und mehr durchsetzte.

Dies ist allerdings nur ein Aspekt im Verhältnis von Rechtsprechung, Kultur und Medien, der am Beispiel der Gerichtsreportagen Uwe Nettelbecks auffällt. Ein weiterer ist die Durchsetzung der Rechtsprechung bis hin zu den begutachtenden Beteiligten mit den sozialen Klischees, die in der Alltagskultur kurrent sind. In ihnen ist die Schuldfrage stets geklärt, die Täterinnen und Täter werden zu Monstern, Bestien, zum Bösen überhaupt entstellt.

Dass die Schuldfrage nicht einfach zu klären ist, wird an einer Reihe jüngerer Publikationen deutlich. Ferdinand von Schirachs Erzählungen oder auch etwa Helmut Kurys im letzten Jahr erschienenes Plädoyer für einen aufgeklärten Umgang mit der Schuld zeigen dies. Davon abgesehen, dass die Täter selbst oft in gewisser Hinsicht Opfer sind, sozial randständig, gedemütigt, geschunden und in ihren Möglichkeiten beschnitten, ist der Hergang zur Tat selbst in der Regel nicht minder zufällig bis zwangsläufig. Das bewusst und grundsätzlich Böse ist aus dieser Sicht mindestens die absolute Ausnahme, wenn nicht sogar unmöglich. In einer Kultur, die das Ungewünschte freilich derart entschieden abspaltet, wie es die westliche tut, hat ein solch reflektierter Umgang mit dem Verstoß gegen die sozialen Normen und Regularien, als die Verbrechen zu gelten haben, keine Chance, respektive steht diese Art des Umgangs damit unter massiver Kritik.

Im Krimi-Genre findet das Gegenteil den gehörigen Raum: Das Vergeltungsprinzip wird hier in extenso ausgeübt. Die angeblichen oder tatsächlichen Täter werden der Willkür preisgegeben. Ihre basale Abfertigung als verdorben und böse legitimiert dies – und das alles im Namen der Opfer, denen das Recht nicht Genüge tun kann. Denn Vergeltung hat im Recht keinen Platz, wenn überhaupt dann Schuld und Sühne.

In den zwischen 1967 und 1969 erschienenen Gerichtsreportagen Uwe Nettelbecks, die nun im Suhrkamp Verlag erschienen sind, findet sich der dazu diametrale Anspruch ans Rechtssystem: Der Richter hat Recht zu sprechen, er hat danach zu fragen, ob und warum jemand eine Tat begangen hat, er hat den Nachweis möglichst zweifelsfrei zu führen, um zu einem Urteil zu kommen.

Nettelbeck, der 1969 die Wochenzeitung „Die Zeit“, für die er seine Reportagen schreibt, mit Pauken und Trompeten verlässt und dies mit einem – dann in der linken Illustrierten „Konkret“ erschienenen – „bridge burning letter“ unwiderruflich macht, nähert sich zwar 1969 Positionen der Studentenbewegung, aber das Recht des Staats zu strafen, stellt er nicht infrage. Er formuliert nur sehr genau die Bedingungen, die dafür eingehalten werden müssen: eine umfassende Vorermittlung durch die Kriminalpolizei, einen unvoreingenommenen Richter, einen fair und präzise geführten Prozess sowie ein Urteil, das gut begründet ist und keinen Zweifel an der Schuld des Verurteilten lässt. Und wenn doch welche bestehen, greift ein Rechtsgrundsatz, den die Vergeltung nicht kennt.

Das ist nicht wenig, wenn man sich die Prozesse anschaut, über die Nettelbeck in diesen zwei Jahren schreibt. Die spektakulärsten Prozesse sind sicherlich die um den jugendlichen Kindermörder Jürgen Bartsch (über dessen Prozess auch Gerhard Mauz und Ulrike Meinhof berichtet hatten) und der Kaufhausbrandstifterprozess, bei dem unter anderem Andreas Baader unter Anklage stand.

Die Prozesse zeigen die Extreme der Täterarten, die in den Alltagsklischees immer wieder bemüht werden: den Sexualstraftäter und die politisch motivierten Täter. Und sie zeigen mithin die Kontamination des Rechtssystems durch diese Alltagsmuster. Beide Täterprofile werden auch vom Gericht selbst vorverurteilt.

Nettelbeck berührt in seinen Texten genau diesen wunden Punkt: Er moniert die Voreingenommenheit der Prozessführung. Im Fall Bartsch die Vorverurteilung als Bestie (der Schlachtersohn, der seine Opfer schlachtet), im Fall Baader und Co. die Unterwerfungsforderung, die das Gericht nicht nur den vier Angeklagten, sondern allen Bürgern seines Staatswesens abverlangt.

Im Nachwort wird eine Kritik am „Spiegel“-Gerichtsreporter Gerhard Mauz zitiert, die Alice Schwarzer formuliert haben soll: Dass er eben immer nur die Perspektive der Täter einnehme, was einem in einem Staat nicht wundern könne, dessen Kontinuitäten mit dem NS-Regime unübersehbar seien. Unabhängig davon, ob Alice Schwarzer dies tatsächlich geschrieben hat, die Polarität besteht in der Tat. Und sie ist ein Hinweis auf die Bedrohung des Rechtssystems durch die Gerechtigkeit, die nur eindeutige Schuld kennt und Vergeltung fordert. Und dies damit rechtfertigt, dass den Opfern Genüge getan werden muss. Das steht in entschiedenem Gegensatz zu einer Zivilgesellschaft, die nicht rächen darf, sondern nur – unter genau definierten Umständen – strafen. Allein schon deshalb, weil ohne Verfahren Schuld eben nicht feststellbar ist, sondern nur zugewiesen wird, aus welchen Gründen auch immer.

Die Inanspruchnahme des Vergeltungsprinzips mag wie ein Rückgriff auf vormoderne Zeiten oder Restbestände des faschistischen Staatsdenkens erscheinen. Seine Attraktivität lässt jedoch anderes vermuten, nämlich dass das Rechtssystem ständig solchen kurzschlüssigen Vorgaben ausgesetzt ist, weil sie eine spezifische Funktion haben: Vergeltung scheint alles einfach zu machen. „Einfach“ funktioniert aber nur auf der symbolischen Ebene, nicht in der Realität. Worum sich niemand scheren muss, den das nichts angeht: ein Pkw mit der Aufschrift „Todesstrafe für Kinderschänder“ – vor ein paar Wochen in Berlin gesehen.

In solchen Umständen sind Texte wie die Uwe Nettelbecks hilf- und lehrreich zugleich. Sie zeigen, dass eine Zivilgesellschaft, die alle ihre Bürger schützen muss – auch die unbeliebten und die, die falsch handeln –, in ständiger Bedrohung lebt. Nicht durch das Verbrechen selbst, sondern durch den symbolischen Umgang mit ihm. Und dabei haben Krimis einen großen, wenn nicht einen prägenden Einfluss. Und Gerichtsreportagen, wenn sie von Autoren wie Uwe Nettelbeck geschrieben werden, sind ihr Korrektiv.

Titelbild

Uwe Nettelbeck: Prozesse. Gerichtsberichte 1967–1969.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
189 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424827

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