Ein verwirrendes Beziehungsgeflecht

Über Michèle Bernsteins Roman „Alle Pferde des Königs“

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alle Pferde des Königs – dieser Titel klingt anachronistisch und so ist es gewollt. Er lässt an einen historischen Roman denken, der Themen der französischen Vorklassik aufgreift, so wie es das Motto (zum ersten Teil) aus den Memoiren des Cardinal de Retz nahelegt. Mit den „blauen Schärpen, Damen, Harnischen, Geigen im Saal“ und den „Trompeten auf dem Platz“, die eher in „Romanen als sonstwo“ zu finden seien, fokussiert bereits das Motto auf einer Metaebene den Widerspruch, der sich durch Michèle Bernsteins Kurzroman zieht. Ruft man sich zudem in Erinnerung, dass der Cardinal de Retz Teil der barocken höfischen Kultur gewesen ist, gleichzeitig aber in den 1640er-Jahren einer der Anführer der Fronde, das heißt einer der Hauptkämpfer gegen das beginnende absolutistische Königtum war, dann bewegt sich Michèle Bernstein zweifelsfrei in einem Raum zwischen Affirmation einerseits und Opposition andererseits. Zwischen ökonomischen Sachzwängen auch, die eine Anpassung an den Buchmarkt, an das, was gerade „angesagt“ ist, erfordern, und einem kritischen Bewusstsein, das über literarische Moden hinausgeht. Die Autorin selbst schildert dies sehr offen in ihrem Vorwort aus dem Jahr 2013: „Um über den Monat zu kommen, um Butter auf unseren Spinat und Margarine auf unseren Brokkoli zu kriegen“, entschloss sie sich Ende der 1950er-Jahre, einen modernen Roman zu schreiben, der mit so „viel Hinweisen und Ironie“ versehen sei, „dass der durchschnittlich scharfsinnige Leser bemerken würde, dass er hier, wie einen Witz, den kalten Blick eines wahren literarischen Freigeists vor sich hatte, die Kritik des Romans selbst“.

Schon allein diese Absicht der Autorin im Hintergrund macht den Roman spannend. Ob es dadurch einen Zugewinn während der Lektüre selbst gibt, sei dahingestellt: Geneviève, die Ich-Erzählerin, und Gilles sind ein junges Paar Mitte 20 – er Künstler, sie in einer Werbeagentur arbeitend. Gilles arbeitet kaum, zumindest nicht nach allgemeinem Verständnis. Er zieht es vor, im nächtlichen Paris umherzustreifen, Partys zu besuchen und dem Alkohol kräftig zuzusprechen. Auf einer dieser Feiern lernen Geneviève und Gilles Carole kennen: Ein junges Mädchen mit künstlerischen Ambitionen, doch offensichtlich recht talentfrei. Sie lässt sich von Gilles verführen, Geneviève toleriert dies und tröstet sich schnell mit dem erst 19 Jahre alten Bertrand. Als Gilles, Geneviève und Carole den Sommer oberhalb von Nizza in Saint-Paul verbringen, stößt Bertrand zu ihnen, der seinerseits in Cagnes bei Hélène, einer älteren Freundin, wohnt. Als alle wieder in Paris sind, bricht Geneviève mit Bertrand, hat kurz darauf eine Affäre mit Hélène, bevor sich schließlich auch Gilles von Carole trennt. Carole verbringt den Winter in Saint-Paul, Bertrand wird Soldat und Hélène lebt mit ihrer Freundin Léda zusammen. Am Ende amüsieren sich Geneviève und Gilles über Briefe von Carole und Hélène. Sie würden lachen, so Geneviève, weil ihnen die Phantasie fehle.

Der Mangel an Phantasie lässt sich perfekt auf eine Metaebene übertragen. Aus diesem Mangel entspringt ein Roman, der nicht viel Erzählzeit braucht und in dem die erzählte Zeit nur eine kurze Spanne umfasst. Er weist einen moderaten Spannungsbogen auf und zeigt dabei zusätzlich vage Anklänge an ein Drama in drei Akten mit dem Höhepunkt in Saint-Paul de Vence, wo alle Beteiligten das Leben feiern, um danach im Herbst getrennte Wege zu gehen. Entdeckt der „durchschnittlich scharfsinnige Leser“ in dieser Handlung, in diesem Text, die Ironie? Merkt er, dass eine architextuelle Parodie entstehen sollte, eine Persiflage auf die Gattung des Romans selbst? Eher nicht, wenn man von der Konstellation des Liebespaares, das andere ins Verderben stürzt, absieht. Hier besteht eine lebendige Intermedialität zur Verfilmung der Liaisons dangereuses von Choderlos de Laclos. Im Jahre 1959 kam der Film mit keinen Geringeren als Jeanne Moreau (Marquise de Merteuil) und Gérard Philipe (Vicomte de Valmont) in die Kinos. Die Handlung des Briefromans aus dem Jahr 1782 wurde kurzerhand in das Paris der 1950er-Jahre verlegt. Die Marquise und Valmont betreiben Libertinage, Verführung als eine Form von Kunst, funktionalisieren ihre jeweiligen Partner und gehen aus diesen Wirrungen, aus diesen „Spielen“, als Paar gefestigt hervor. So auch in Alle Pferde des Königs: Gilles, den Carole fragt, womit er sich denn eigentlich beschäftige, entgegnet, dass sein Sujet die „Verdinglichung“ sei. Gerade in diesem Aspekt ist der Einfluss der Liaisons dangereuses spürbar. Sehr deutlich wird er noch einmal, wenn Bertrand als „Ei in diesem Omelette“ eine „Reifikation“ erfährt.

Nichtsdestoweniger bleiben alle intertextuellen Bezugnahmen schal. Die zweite Aussageebene nicht zu bemerken wäre an sich kaum entscheidend, wenn der Roman als solcher, als Sprachkunstwerk, sprachliche Raffinesse und einen ausgefeilten Plot zu bieten hätte oder insgesamt tiefgründiger wäre – etwa in der Analyse seiner Charaktere. Diese bleiben jedoch flach und bieten dabei lediglich Einblicke in eine Lebensweise, die sich bei allen theoretischen Ansprüchen als perspektivlos und oberflächlich präsentiert.

Dino Beck und Anatole Vitouche gestalten einen Text, der den französischen Sprachduktus fließend ins Deutsche überträgt. Nur an ganz wenigen Stellen gerät man während des Lesens ins Straucheln, so etwa bei „die üblichen Verdächtigen“ oder „gut positioniert“. Das ist eindeutig Jargon des 21. Jahrhunderts und wird „habitués“ sowie „bien placée“ nicht ganz gerecht. Ein weiterer Stolperstein besteht in dem abgewandelten Diktum „man steigt öfter in denselben Fluss“, ganz klar eine Variation zu Heraklits panta rhei –  „man steigt niemals in denselben Fluss“. Das ist an sich eine passende Übersetzung zu „on peut être et avoir été“ (Abwandlung des Sprichwortes „on ne peut pas être et avoir été“), führt jedoch eine Bildlichkeit ein, die im Original fehlt.

Trotz der ansprechenden Übersetzung bleibt Alle Pferde des Königs ein Text, der nicht aus sich selbst heraus leuchtet, sondern den die Theorie in seinem Umkreis bestrahlt. Er ist keine „lamp“, um mit dem Literaturtheoretiker Abrams zu sprechen, sondern vor allem ein „mirror“ des radikalisierten Theoretischen. Im Gegensatz zu den Adepten des Nouveau Roman jedoch legen die Situationisten keinen greifbaren romantheoretischen Entwurf vor (was daran liegen mag, dass diese sich vor allem mit Malerei und bildender Kunst befassten). In der Zeit seines Entstehens bleibt Bernsteins Alle Pferde des Königs, so wie auch sein Nachfolger La Nuit, ein parodistischer Spaß, der sich in letzter Konsequenz auf den Zweck des Geldverdienens herunterbrechen lässt.

Michèle Bernstein skizziert die Hintergründe erst für die französische Neuausgabe im Jahr 2014. Schade, dass dieses Vorwort in der deutschen Ausgabe an das Ende gesetzt worden ist. Immerhin ist das historisch zu begründen. Das nachgeschobene Vorwort wird in der deutschen Ausgabe von dem kurzen Essay „Michèle Bernstein und die Lust an der Gegenkultur“ in den Schatten gestellt. „Die Situationisten wussten“, so Anatole Vitouche, „dass die Lust an der Gegenkultur die erste Voraussetzung für ihr Gelingen ist; und dass man Rollen spielen und über Masken verfügen muss, um in Kunst wie Politik wirksam agieren zu können. Mit dem gegenwärtig wieder so modischen Begriff der Authentizität hatten sie ebenso wenig am Hut, wie Michèle Bernstein damit, einen ‚realistischen‘ Roman zu schreiben“. Solche Bemerkungen tragen sehr zum Verständnis des Romans bei, obgleich Bernstein trotz aller Progressivität in der Theorie letztendlich doch eine Art „realistischen Roman“ geschrieben hat.

Neben dem Vorwort von Bernstein und dem Essay von Vitouche findet sich in der deutschen Ausgabe ein lesenswertes Nachwort von Roberto Ohrt, das unter anderem möglichen autobiographischen Bezugspunkten im Roman nachgeht.

Trotz aller Schwachpunkte: Die Neupublikation ist just wegen des gegenkulturellen Impetus, den Bernstein erst sehr viel später expliziert und der in Vitouches glänzendem Essay auf den Punkt gebracht wird, rundum begrüßenswert, selbst dann, wenn die erfolgreiche Einlösung des theoretischen Anspruchs mit einem Fragezeichen versehen werden muss.

Titelbild

Michèle Bernstein: Alle Pferde des Königs. Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2015.
127 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783894018115

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