Ein Meister der Entfeindung

Max Brods Jesusroman erschließt dessen religiöses Denken in den Jahren nach Krieg und Schoa

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anfang 1939 verließ Max Brod, der der Nachwelt in erster Linie als Förderer und glücklicherweise unzuverlässiger Nachlassverwalter Franz Kafkas im Gedächtnis bleiben sollte, seine Heimatstadt Prag und emigrierte nach Palästina, das damals noch unter britischem Völkerbundsmandat stand. Es heißt, er habe mit dem letzten vor dem Einmarsch der Deutschen noch die Grenze nach Polen überquerenden Zug die Tschechoslowakei verlassen. Da er bereits seit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg vom Zionismus überzeugt war, mag eine Auswanderung in das Land, aus dem 1948 der Staat Israel hervorging, für ihn nahegelegen haben. Dass diese Änderung seiner Lebensumstände allerdings Auswirkungen auf sein schriftstellerisches Werk hatte, ist gewiss nicht verwunderlich. Umso mehr gilt dies angesichts der sich in den folgenden Jahren in Europa ereignenden Schrecken des Krieges und des millionenfachen Mordens am jüdischen Volk.

In Max Brods schriftstellerischer Laufbahn markieren die Jahre nach seiner Emigration einen markanten Einschnitt. Über Jahre schreibt er keine neuen Romane, die er zuvor noch nahezu in jährlichem Rhythmus publiziert hatte. Stattdessen sind es nach dem Krieg zunächst Fragen religiöser Art, die sein Schreiben bestimmen: 1946 und 1947 etwa erscheinen zwei Bände unter dem Titel „Diesseits und Jenseits“ (1946) sowie Studien über „Das Jüdische in Franz Kafka“ (1947) oder „Franz Kafkas Glauben und Lehre“ (1948). Im Jahr 1949 folgt dann als erster Roman „Unambo“ und schließlich – Gegenstand dieser Besprechung – der umfangreiche Roman „Der Meister“ (1952). In letzterem fließen Fragen nach dem religiösen Selbstverständnis seines Autors, nach dem Judentum im Schatten der Schoa und nach der Gründung des Staates Israel mit der von Brod vielfach erprobten Form des biografischen Romans zusammen. Max Brod legt einen Jesusroman vor, in dem Jesu Lehre, vor allem sein Leiden und Sterben aus der Sicht eines in mehrfacher Hinsicht am Rande Stehenden verhandelt werden: des Griechen Meleagros. Im antiken Horizont des Romans kehren die Themen der Gegenwart wieder: Konflikte um die eigene Identität in Abgrenzung und Aufnahme des Anderen, die Herausforderung durch Fremd- und Gewaltherrschaft, der teils mörderische Hass gegenüber dem Judentum, der komplizierte Zusammenhang – oder Gegensatz – von Politik und Religion, ja auch das Widerspiel säkularer und religiös geprägter Identitäten. Es ist alles in allem ein bemerkenswertes Buch, und zwar nicht allein aufgrund der aus dem zeitlichen Kontext seines Entstehens und der Biografie des Autors sich erschließenden Zusammenhänge.

Brods Protagonist ist – wie gesagt – ein junger griechischer Dichter und Gelehrter namens Meleagros. An einer athenischen Philosophenakademie im Geiste des Meisters Epikur ausgebildet, entzieht er sich mithilfe seines „Herzensfreundes“ Jason den Häschern des römischen Geheimdienstes, die ihn als einen der letzten Überlebenden eines Massakers an den Bewohnern seiner Heimatstadt beseitigen wollen, nach Alexandria. Dort tritt er, wiederum vermittelt durch Jason, dann ausgerechnet in die Dienste des römischen Statthalters. Seinen Hass gegen die kulturlosen Gewaltherrscher aus Rom, deren Handlanger er nun selbst wird, kompensiert er, indem er sich in der berühmten Bibliothek von Alexandria literarischen Studien widmet. Hierin spiegelt sich Brods historische Vorlage für seine Hauptfigur – eine der „Freiheiten“, die er sich als Autor dem eigenen Nachwort zufolge gestattet –, es handelt sich um den realweltlich gut ein Jahrhundert vor den Ereignissen der Romanhandlung lebenden Schriftsteller Meleagros von Gadara. Dieser ging durch eine von ihm zusammengestellte Sammlung von Epigrammen in die Literaturgeschichte ein. Und auch Brods Meleagros widmet sich neben seiner Beamtentätigkeit der Kompilation eines „Kranzes“ von Gedichten.

Nur durch einen Zufall, durch eine Laune des Statthalters, gelangt Meleagros zum Ende des ersten Romankapitels nach Jerusalem, wo er wiederum durch einen weiteren Zufall Schoschana begegnet, einer jüdischen Frau, deren Religion er ebenso befremdlich wie faszinierend findet und in die er sich verliebt. Den verbreiteten Judenhass unter Römern und Ägyptern, dem auch sein Freund Jason anhängt, teilt Meleagros zwar nicht. Griechisch geprägt, erscheint ihm der jüdische Monotheismus dennoch philosophisch absurd. „Wie die Menschen sind auch die Götter gesellig“, so hatte doch der Meister Epikur gelehrt. Durch Schoschana kommt Meleagros nun aber doch in Kontakt mit der jüdischen Religion und ihren Gebräuchen. Darüber hinaus aber erweist sich Schoschana als angenommene Schwester eines anderen „Meisters“ namens Jeschua aus Nazareth. Der Weg des jungen Griechen mitten hinein in die Geschichte des galiläischen Wanderpredigers, der durch seine Lehre und seine Passion zum Ausgangspunkt einer neuen Weltreligion wird, ist so vorgezeichnet.

„Max Brod war sich darüber klar, daß Jesus in vielen Aspekten sichtbar wird und sich doch immer wieder dem Blick entzieht, so daß nur die indirekte Darstellung adäquat sein kann.“ Mit diesen Worten erläutert Schalom Ben-Chorin in seinem Vorwort das Verfahren Brods, sich der Gestalt Jesu wie auch dem Judentum insgesamt über den von außen hinzutretenden Meleagros anzunähern. Dieser, der weder des Hebräischen noch des Aramäischen mächtig ist und dem anfangs sowohl die jüdische Religion unbekannt ist als auch die Lehren Jeschuas widersprüchlich erscheinen, entwickelt sich im Laufe des Romans zu einem „Verehrer des höchsten Gottes“. Die zwischen ihm und Schoschana liegende Barriere von Judentum und Heidentum wird allerdings nie überschritten, und ebenso wenig wird Meleagros zu einem Jünger Jeschuas. Dass dieser Kranke geheilt oder Tote auferweckt habe, davon erfährt er vom Hörensagen; Ereignisse wie Taufe und Verklärung Jesu oder das letzte Abendmahl werden ihm von Dritten geschildert.

In Galiläa begegnet er Jeschua und dessen Jüngern, doch bedarf er der Übersetzung, um überhaupt zu verstehen, wenn Jeschua vom kommenden Reich Gottes spricht. Die Bergpredigt verfolgt er aus der Ferne, einzelne Wortfetzen werden durch den Wind zu ihm getragen. Nichtsdestoweniger zieht ihn Jeschua in seinen Bann: „Dieser Jeschua ist ja ein göttliches Wesen“, bestätigt er begeistert Schoschana: „Allem, was lebt, ist er mit so unermeßlicher Liebe zugewandt, daß es in ihm nur Licht gibt, ohne jede Beimengung von Finsternis, wie bei uns andern.“ Die einzige direkte Begegnung, etwa in der Mitte des Buches, wird für Meleagros dennoch zu einer Überforderung: „Guter Meister, was soll ich tun, um ewiges Leben zu erlangen?“ Gott zu lieben, den Nächsten, ja selbst den Feind zu lieben, wie es den Geboten entspreche, und dies mit aller Konsequenz, antwortet Jeschua, und zwar in einer Konsequenz, in der Meleagros auch Härte und Zurückweisung empfindet: „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr schlüpfe, als daß ein Reicher in das Reich Gottes eingehe.“

Das Romanschicksal hält für den Griechen dennoch eine besondere Rolle bereit, der man aus christlicher Sicht beinahe heilsgeschichtliche Funktion zusprechen könnte. Nicht nur trifft er auf Figuren wie den Hohepriester Josef ben Kaiafa – dieser verkörpert im Verhältnis der Juden zur römischen Herrschaft die Prinzipien von Kollaboration und Assimilation – oder den Statthalter Pontius Pilatus, den er erfolglos bekniet, Jeschua zu begnadigen. Vor allem ist es aber Meleagrosʼ Korrespondenz mit dem „Herzensfreund“ Jason in Alexandria, die diesen dazu veranlasst, nach Palästina zu reisen und sich Jeschua anzuschließen. Der Judenhasser Jason stellt sich nämlich selbst als Jude heraus, und zwar als kein anderer als Judas Ischariot. Er vertritt Meleagros gegenüber eine gnostische Position, die die Vernichtung der verworfenen, ungerechten Welt erhofft und macht, da er Jeschuas Lehren letztlich als nur halbherzig verwirft, mit dessen Feinden gemeinsame Sache.

Diese Art eines nihilistischen jüdischen Selbsthasses und auch das Verhalten jener Eliten, die sich wie der Hohepriester mit den römischen Besatzern gemeinmachen, markieren Extrempunkte der von Brod verhandelten Verhaltensweisen, mit denen die Juden auf ihre repressive und feindliche Umgebung reagieren. Beide werden aus der Warte des Meleagros verworfen. Anders verhält es sich mit anderen, von Brod in seinem Roman repräsentativ dargestellten Reaktionen auf Lehre und Leiden Jeschuas: als potenzieller Anführer einer jüdischen Erhebung gegen die Fremdherrschaft, als Rabbi und Prediger in der Tradition der Propheten, als Messias und Sohn Gottes schließlich – alle diese Positionen treten bei Brod gleichberechtigt nebeneinander auf. Ebenso wie Schoschana sieht auch Meleagros Jeschuas Bedeutung weit über eine politische Interpretation hinausgehen. Aber er verteidigt ihr gegenüber auch die letztgenannte, die sozusagen christliche Lesart, die vom Roman durch Kepha vertreten wird, also den Apostel Petrus: „Was habe ich erlebt? Das Wunder des Menschen. Man kann diesen Menschen ebensogut einen Gott nennen. Mir widerstrebt es nicht. Die Juden haben ihre Bedenken gegen diese Vorstellung. Das zu prüfen ist nicht meine Sache. Für mich als Hellenen war immer alles dichtgedrängt voll von Göttern.“ Karl-Josef Kuschel beschreibt die Meleagros-Figur daher in seinem Nachwort nicht zu Unrecht als einen „Protochristen“.

Die Analogien zur Gegenwart, die Brod in der Meleagros-Figur vereint, sind deutlich. Kuschel fasst sie folgendermaßen zusammen: Er ist eine intellektuelle, heidnische, gewissermaßen säkular geprägte Figur, er steht zwischen Jerusalem und Rom, in dem sich gewissermaßen auch der Faschismus verbirgt, und so zwischen tendenziell terroristischem Widerstand und totalitärer Herrschaft. Nicht zuletzt thematisiert Brod aber auch den virulenten Hass gegen das Judentum, dem vonseiten der Ägypter oder Römer immer wieder vorgehalten wird, sich hochmütig durch ihren Monotheismus von den anderen Völkern und ihrem multikulturellen Vielgötterglauben abzugrenzen. Zudem widersetzten sie sich dem Gottheitsanspruch des römischen Kaisers. Im Roman steigert sich dieser Hass bis hin zu Vernichtungshoffnungen, die wie Verheißungen jener Katastrophe gelesen werden müssen, die das jüdische Volk zu Brods Lebzeiten erfahren musste.

Gerade deshalb ist es bemerkenswert, dass Max Brod für seine fiktionalisierte Annäherung an die historische Jesusfigur einen griechisch-heidnisch geprägten Protagonisten wählt, dem bei aller Sympathie der Weg des Judentums nicht ohne Weiteres möglich ist, und dass er andererseits zu einer positiven Deutung Jesu selbst gelangt. Auf Grundlage der Überlieferung der Evangelien erzählt, aber ohne sich der christlichen Deutung anzudienen, wird Jesus so bei Brod zu einer ausgezeichneten Person der jüdischen Geistesgeschichte, einem, wie Karl-Josef Kuschel es formuliert, beeindruckenden „Meister der Entfeindung“. Obwohl Brods Buch so gewiss in erster Linie als geistes- und literarhistorisches Dokument von Interesse ist – wenige Jahre nach der Schoa von einem deutschsprachigen Juden in Palästina verfasst –, und zumal für ein Verständnis der Person Max Brod relevant, ist sein Wiedererscheinen in neuer Ausgabe rundum erfreulich. Es handelt sich um einen weiteren Band in der von Hans-Gerd Koch und Hans-Dieter Zimmermann bei Wallstein herausgegebenen Max-Brod-Werkausgabe, von der bei literaturkritik.de bereits einige Bände besprochen wurden. Der Roman wird in dieser sorgfältigen Edition durch das Vorwort von Schalom Ben-Chorin sowie das religions- und literaturwissenschaftlich fundierte Nachwort von Karl-Josef Kuschel begleitet.

Titelbild

Max Brod: Der Meister. Roman.
Herausgegeben von Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann in Zusammenarbeit mit Barbora Sramkova und Norbert Müller.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
567 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313415

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