Von der Vererbbarkeit des beschädigten Lebens

In ihrem Erzählband „Die Unamerikanischen“ berichtet Molly Antopol von Menschen zwischen Familiengeschichte und Migrationsschicksal

Von Sebastian MuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Musch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theodor W. Adorno schrieb seine Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Minima Moralia) als Antwort auf das Schicksal des Emigranten. Gezwungen, seine Heimat hinter sich zu lassen, wird aus dem Emigranten ein lebenslang Vertriebener. Er lebt ein ‚beschädigtes Leben‘, weil in der Unfreiwilligkeit der Migration immer ein Rest Heimatlosigkeit bestehen bleibt. Tragischerweise entsteht so eine Sehnsucht nach etwas, das nicht mehr existiert, denn durch die Vertreibung ist die Heimat, wie sie war und wie sie nie wieder sein wird, verloren. Es bleibt eine Sehnsucht nach der Vergangenheit und der Zukunft – und damit ein Verlangen, das nie vollkommen befriedigt werden kann. Molly Antopols Erzählungen handeln von diesem beschädigten Leben, von der Heimatlosigkeit in der Gegenwart. Migrationsschicksale, Migrationswünsche, Migrationszwang sind der Rahmen der unterschiedlichen Erzählungen, die von Osteuropa über Israel bis nach Kalifornien reichen. Die titelgebenden „Unamerikanischen“ sind die jüdischen Migranten aus Osteuropa, die im Amerika der McCarthy-Ära als Kommunisten verfolgten werden. Es sind die Kibbuzniks in Israel, für die die USA the land of the free bleiben, in denen man der bedrückenden Enge der sozialistischen Gemeinschaft entkommen kann.

Unamerikanisch ist auch der Sowjet-Dissident, der im Glanz seines kühnen Ruhms lebt, bis er nach dem Zusammenbruch der UDSSR mit seinem Bedeutungsverlust kämpfen muss. Alle Protagonisten in Antopols kunstvoll gewebten Geschichten leben zwischen ihrer Herkunft und ihrer Ankunft, in dem Zwischenreich zwischen Zuhause-Sein und Unterwegs-Sein, zwischen Vergangenheit und Zukunft, ohne sich in der Gegenwart orientieren zu können. Es gehört zur Tragik dieser Figuren, dass ihnen gerade die Menschen, die ihnen am Nächsten stehen, ihre Familien, nicht helfen können, denn zu oft sind auch diese beschädigt oder in den Sog des beschädigten Lebens geraten. Gerade in der Form, in ihrer Episodenhaftigkeit, in der unterschiedlichste Variationen dieser Tragik ausgebreitet werden, liegt die Kraft dieser Erzählungen. Als jeweils alleinstehende Geschichten bilden diese Auseinandersetzungen mit einem gemeinsamen Schicksal die Klammer, die „Die Unamerikanischen“ zusammenhält. Einige der acht Erzählungen, von Patricia Klobusiczky treffsicher übersetzt, erscheinen mehr Romanfragmente zu sein als eigenständige Geschichten und fallen dementsprechend qualitativ ab. Doch zumeist gelingt es Antopol sowohl ihre Erzählungen als abgeschlossenes Ganzes zu präsentieren als auch im Leser das Verlangen zu wecken, immer noch etwas mehr über die Protagonisten wissen zu wollen. In Nebensätzen werden teilweise ganze Lebensabschnitte skizziert, ohne zu sehr ins Detail zu gehen und die Erzählung auf Nebenpfade abdriften zu lassen. Für das Leben ihrer Figuren, die Antopol so kunstvoll entwirft, wird die Erzählung nicht zum Prokrustesbett, sondern zur passenden Form. Gerade das Nichtausbuchstabieren aller Episoden ermöglicht es dem Leser, die Lücken mit Hilfe der eigenen Phantasie zu füllen und so eine emotionale Nähe zu den einzelnen Figuren aufzubauen. Die fragmentarische Darstellung der Lebensgeschichten lassen die biographischen Bruchstellen, die Schädigungen umso deutlicher hervortreten. 

Auch wenn Molly Antopol in den USA geboren wurde, ihre Familiengeschichte, die für mehrere der Erzählungen Pate stand, und ihre Annäherung an jüdische Migrationsschicksale, lassen einen Bogen zu einem in den letzten Jahren populär gewordenen Subgenre der amerikanischen Literatur spannen. Seit Gary Shteyngarts Debütroman „The Russian Debutanteʼs Handbook“ im Jahre 2002 für Aufsehen sorgte, ist eine kleine Bibliothek unterschiedlichster Werke entstanden, die sich mit den Erfahrungen jüdischer Migranten aus dem osteuropäischen Raum beschäftigen. Boris Fishman, David Bezmozgis und Yelena Akhtiorskaya sind Namen, die auch noch im deutschen Feuilleton auftauchen werden. In den USA haben Vertreter dieses Subgenre viele Literaturpreise abgeräumt und sich im Literaturbetrieb etabliert. Gemeinsam ist diesen Werken die kreative Mischung aus persönlicher Lebens- oder Familiengeschichte und der Impetus, der Spannung zwischen Erwartung und Realität, Nostalgie und Zukunftshoffnung literarisch freien Lauf zu lassen. Humoristisch werden osteuropäische Eigenheiten gegen die amerikanische Mehrheitsgesellschaft ausgespielt und versucht so eine geschützte Sphäre zu kreieren, in der über die eigene Schwäche und Spleenhaftigkeit gelacht werden kann: Exaltiertheit wird hier zum Symptom.

Antopols Geschichten allerdings fehlt diese Humorisierung des Schicksalhaften. Kein Lachen kann die Beschädigungen überdecken. Ihr Schreiben ist unterhaltsam, aber durchweg ernst. Ihre Erzählungen verstecken sich nicht hinter dem Anekdotischen und suchen auch keinen Schutz im Lachen und Lachhaften. Ihre Figuren leiden an sich, an ihren Familien, an ihrer Umgebung, an ihren Geschichten. Als Meditation über die Schwere jüdischen Schicksals erinnert „Die Unamerikanischen“ daran, dass hinter dem optimistischen Versprechen der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft oft Tragik steckt.  Mit „Meine Großmutter erzählt mir diese Geschichte“ findet sich eine Erzählung in diesem Band, die diesen thematischen Rahmen nicht nur füllt, sondern weit über ihn hinausgeht. Bereits durch den Titel wird versucht, den Mantel des Fiktiven abzulegen und gleichzeitig versprochen, einen Teil von Antopols eigener Familiengeschichte offenzulegen.

Unabhängig davon, inwiefern diese Erzählung tatsächlich den historischen Tatsachen folgt, erscheint sie dennoch als Schlüsselstück. Die schrecklichen Erlebnisse jüdischer Partisanen im von deutschen Truppen besetzen Osteuropa bilden über Generationen hinweg den Nährboden für die Bruchstellen des späteren Lebens in den USA. „Diese grausamen Dinge, die sich vor deiner Geburt ereignet haben“, wie die Großmutter die Geschichte zusammenfasst, lassen die Familie nicht los. Ohne auf psychoanalytische, Lamarckʼsche oder abstruse Theorien generationsübergreifender Traumata zurückzugreifen, liegt den Erzählungen eine Erkenntnis zugrunde, die in vielen Familien sowieso schon zum Erfahrungsschatz gehört: Beschädigtes Leben ist vererbbar. So lautet die Botschaft dieser Erzählungen, die gleichzeitig die Klammer um Molly Antopols facettenreiches Erstlingswerk bildet.

Titelbild

Molly Antopol: Die Unamerikanischen. Erzählungen.
Aus dem Englischen von Patricia Klobusiczky.
Hanser Berlin, Berlin 2015.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446247710

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