Späte Wahrheit

Maria Matios erzählt in „Mitternachtsblüte“ vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in der Bukowina

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden sich manchmal nur in einem: Während Phantasien im Kopf des Menschen entstehen, kann die Wirklichkeit den menschlichen Verstand überfordern. In ihrem Roman „Mitternachtsblüte“ zeigt die ukrainische Schriftstellerin Maria Matios solch eine unfassbare Realität. Kraftvoll und farbig stellt sie ihren Lesern das Unvorstellbare vor Augen: den Ausbruch von Zynismus, Gewalt und Mord in Mittelosteuropa.

Die Bauerntochter Iwanka Borsuk erlebt die Jahre vor und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in einem Dorf in der Bukowina – in einer Gegend, wo „Menschen und Länder aussortiert werden wie Nüsse“. So stellt sich für Iwankas Großvater Iwan die Weltpolitik dar. Eifrig arbeitet er daher mit dem Schwarzhändler Petro zusammen, um sich für alle Widrigkeiten zu wappnen. Zu nächtlicher Stunde und über Iwankas schlafenden Kopf hinweg tauschen sich Iwan und Petro über das nahende Unheil aus. Doch Iwanka ahnt trotz mancher Leichtgläubigkeit selbst, was dem Dorf bevorsteht. Mit ihrer Empfindsamkeit und ihren wachen Sinnen ragt Iwanka aus der Dorfgemeinschaft heraus. Das Mädchen stellt die naheliegenden Fragen: Was etwa bedeute es, dass man die Juden prügeln müsse? Der Mutter ist so manche Antwort unangenehm, sie seufzt und bedauert ihr Schicksal: „Ein Mädel soll lange Haare haben und einen kurzen Verstand.“ Andere Lebensweisheiten hingegen nimmt Iwanka allzu wörtlich. Ohne Zögern folgt sie der Empfehlung der Moskowiterin Seweryna und begibt sich zu Beginn des Romans auf die Suche nach der Mitternachtsblüte: Allem Bösen in der Welt helfe dieses Zaubermittel ab. Iwanka Borsuk fühlt sich heimisch in einer Welt, in der nicht allein der Mensch über Macht verfügt und wo so gut sichtbare und leuchtende Orte wie der Mond mit einer Leiter zu erreichen sind. Doch die äußere Welt folgt nicht den Gesetzen der kindlichen Vorstellungskraft. Die vergebliche Suche nach der Mitternachtsblüte bringt Iwanka eine Blutvergiftung ein. Sie lernt mit Schmerzen, im wahrsten Sinne des Wortes. Von der Krankheit bleiben ihr epileptische Anfälle und Stottern. Es scheint, als ahne ihr Körper vorab das Grauen, das ihr Verstand später nicht wahrhaben möchte.

Maria Matios wurde 1959 selbst in der Bukowina geboren. In ihren Romanen erweckt sie die Vergangenheit ihrer Heimat zum Leben. Aberglaube gehört darin so selbstverständlich zum Alltag wie die väterlichen Schläge, die Iwanka und ihre Brüder regelmäßig über sich ergehen lassen. Der Glaube an das Übersinnliche und autoritäre Erziehungsmethoden fristen ihr Dasein wiederum neben den Erscheinungen einer aufgeklärten Welt. Erst als alle selbsternannten Heiler und irdischen Gottesvertreter nichts mehr gegen Iwankas Vergiftung auszurichten wissen, wird der jüdische Arzt herbeigerufen. Derart tiefe ideelle Gegensätze lassen sich auf Dauer jedoch nicht miteinander in Einklang bringen, genauso wenig, wie es den Menschen gelingt, untereinander in Frieden zu leben. Ukrainer, Rumänen, Juden und Deutsche lebten über Jahrhunderte hinweg gemeinsam in der Bukowina. Die staatlichen Grenzen waren selten stabil. In der Zwischenkriegszeit zählte das Gebiet zu Rumänien; Ukrainer und Juden erfuhren häufig Diskriminierung. Ab 1939 drangen abwechselnd Rotarmisten und Wehrmachtssoldaten ein. Beide Besatzer instrumentalisierten die Ressentiments und den ethnischen und ideologischen Hass mancher Einheimischer, auch den Antisemitismus. Dem Mythos einer friedvollen multikulturellen Vorkriegsgesellschaft, die gewaltsam von außen zerstört wurde, folgt Maria Matios damit ebenso wenig wie andere Gegenwartsautoren Polens und der Ukraine.

Die Kollaboration ist aber nicht ihr eigentliches Thema: Schlichte Wahrheitsfindung ist das Anliegen der Autorin. Ihrem Roman stellt sie ein selbst formuliertes Motto voran, das behauptet: Vergebung gründe einzig auf Aufrichtigkeit und für keine der beiden gelte ein „Zu viel des Guten“ – oder  ein „Zu spät“. Wahrheit in diesem Sinne meint das Ungesagte und bedeutet dasselbe wie die „unerzählte Geschichte“ nach Juryj Andruchowytsch. Andruchowytsch, der bekannteste ukrainisch schreibende Autor, sieht im Noch-nicht-Erzählten das Potential aller mittelosteuropäischen Literaturen. Der Kommunismus ließ Wahrheit nicht zu: Die traumatisierten Kriegszeugen konnten ihren Erlebnissen nur im Privaten Ausdruck geben, manche schuldbeladenen Kriegsprofiteure schwiegen über das Vergangene allzu gern. In den letzten Jahren nun bringen die Kinder und Enkel das aus Krieg, Vertreibung, Demütigung entstandene Leid verstärkt literarisch zur Sprache – durchaus mit unterschiedlichen Tönen. Melancholisch und mit viel Ironie zeigt beispielsweise die Polin Joanna Bator (geb. 1968) in „Sandberg“ und „Wolkenfern“, wie Menschen gleich Bäumen entwurzelt wurden, egal ob Juden, Polen oder Weißrussen. Der Ukrainer Jurij Wynnytschuk (geb. 1952) lässt in „Im Schatten der Mohnblüte“ Lemberg nochmals untergehen und mischt aus Phantastik, Trivialem und historisch Verbürgtem eine bisweilen unterhaltsame und mitunter irritierende Mixtur.

Maria Matios geht einen anderen Weg: Sie wählt eine Unmittelbarkeit, in der Humor fehl am Platz ist. Sie wagt sich tief hinein in die „Bloodlands“ – so ein anderer Name für den weiten Raum zwischen Nazideutschland und Sowjetrussland, den der amerikanische Historiker Timothy Snyder 2010 ins Gespräch brachte. Das blutige Geschehen beschreibt die Autorin von ganz unten, aus Sicht eines unerfahrenen Mädchens in der abgeschiedensten Provinz. Von Iwanka aus betrachtet ist der Krieg tatsächlich so etwas wie ein Strudel, der alles in einen Abgrund zieht: das menschliche Leben sowie seine Regungen. Diesen Sog zeichnet Matios überzeugend und eindringlich nach und macht ihre Leser – wenn auch nur für einen Moment und im geschützten Raum des ‚Danach‘ – zu späten Zeitzeugen. Ihre Iwanka aber stemmt sich furchtsam und mutig zugleich gegen den Strom, denn schließlich droht ihr der Verlust ihrer inneren Heimat. Furcht – so zeigen die Ereignisse – ist die einzig vernünftige und logische Reaktion auf Unvorstellbares. Zu Mutbeweisen werden die kleinen Gesten: Iwanka küsst die Hand ihres früheren Spielkameraden Sisjo, als der gegen Ende mit den anderen Juden wie Vieh durchʼs Dorf getrieben wird.

Manche Verallgemeinerung über Opfer und Täter erscheint am Ende des Romans fragwürdig. „Die Oma hat einmal gesagt, dass bei den Menschen alles vergeht, nur Gut und Böse bleibt“, weiß Iwanka an einer Stelle zu berichten. Die Großmutter beschreibt damit die einzige Grenze, die sich als verlässlich erweist. Sie verläuft kaum sichtbar, eher spürbar zwischen den Menschen, ungeachtet ihrer kulturellen Zugehörigkeit.

Titelbild

Maria Matios: Mitternachtsblüte. Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2015.
222 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783709971635

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