Eine Frau und zwei Männer

Klas Östergren stellt im Band „Ins Licht gerückt“ drei Menschen in den Fokus

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wo beginnt eine Geschichte? Das fragt sich der Autor, der sich drei seltsame Begegnungen in Erinnerung ruft, die ihn sonderbar verwundert haben. Er hält sich mit Recht für einen „routinierten Erzähler“, die Frage stellt sich daher nicht aus Ratlosigkeit, sondern ist Teil einer poetischen Selbstreflexion und narrativen Strategie. Menschen beschreiben heißt sie beschneiden, deshalb will und kann es dem Ich-Erzähler nicht einfach gelingen, hinter ihre Geheimnisse zu blicken. Ja, mehr noch ist ihm nur allzu gut bewusst, dass er mit Blick auf die Frau, den Kameraden und den Kollegen vielleicht nur das eigene Spiegelbild erkennt.

Eva ist eine aufstrebende Politikerin, die sich durch ungewöhnliche Nervenstärke und Selbstdisziplin auszeichnet. Der Erzähler lernt sie zufällig kennen, als ihr spielsüchtiger Mann eines Nachts in einem Spielklub kollabiert und von ihm nach Hause gebracht wird. Wäre er gleich wieder gegangen, es gäbe nichts zu erzählen. Doch er ist geblieben. Insgesamt 36 Mal treffen sie sich, und noch häufiger telefonieren sie, um die turbulente Geschichte zu überstehen, in die sie verwickelt werden. So kontrolliert und angstfrei Eva wirkt, so mysteriös sind ihre Träume, die sich zuweilen als wahr herausstellen. Als sie eines Tages in einer Bank Geld abheben will und dabei einem Bankräuber forsch die Stirn bietet, macht sie sich unverhofft verdächtig. Die Polizei sieht in ihr eine Komplizin, die Medien greifen den Verdacht dankbar auf. Doch, fragt sich der Autor am Ende, hat sie nicht stets „die Kontrolle über den Verlauf gehabt und uns alle in die Irre geführt?“ Er zweifelt an der eigenen Wahrnehmung, nüchtern und sachlich hält er zumindest jedoch fest, wie er selbst durch die Geschichte gekommen ist. Doch eben, wo hat diese eigentlich begonnen: bei jener ersten Begegnung zu Hause oder viel früher, als er ihren Bruder kannte, den „Steppenwolf“, der um 1970 im Kungsträdgården vom Verkauf gestohlener Bücher lebte? Ist alles Zufall oder nur logisch?

Die Frage nach dem Anfang stellt auch die zweite Geschichte. Nach vielen Jahren begegnet der Erzähler in einer hippen Bar, die er hin und wieder frequentiert, dem alten Bekannten Bernie, der sonderbar beschwingt auf ihn zukommt. Trügt der Eindruck, oder hat sich der einst so wortkarge, verschlossene Bernie verändert? Die Frage weitet sich in ein Wiederaufleben der 1980er-Jahre, als eine junge Generation auf der Schwelle zum Erwachsenwerden zwischen Freiheit und Familie hin- und herpendelte. Bernie wollte nichts von alledem. Er lebte nach dem Motto: „An dem Tag, an dem du dich im Einklang mit dem Zeitgeist befindet, bist du tot.“ Doch Lust bereitete ihm solcher Widerstand nicht. Er hielt sich bloß einfach „für entbehrlich“, deshalb tat er fast alles, „um unattraktiv und ohne jeden Charme dazustehen“. Die neuerliche Begegnung berührt den Erzähler auf sonderbare Weise, so dass er mit seiner Geschichte den Versuch unternehmen will, „aus einer Katastrophe eine sinnvolle Lektüre zu machen“. Bernie hat sie nicht überlebt.

Ein Zufall spielt auch in Östergrens „Der Kollege mit gelber Schale“ eine bedeutsame Rolle. Roger ist ein erfolgreicher Drehbuchautor von TV-Soaps. Vielleicht mag ihn der Erzähler deshalb nicht. Sei es, um ihn zu ärgern oder weil er ihn selbst nicht annehmen will, hält er Roger einen etwas merkwürdigen Auftrag zu. Er soll haarklein das Leben einer Familie festhalten, die all ihr Hab und Gut einem Museum überlässt, damit es dereinst den Alltag einer schwedischen Normalfamilie dokumentieren würde. Roger akzeptiert, im Gegenzug hält er den Erzähler auf dem Laufenden. Die von außen besehen simple Aufgabe wird zunehmend zur Tortur. Die Familie erweist sich als völlig unangreifbar, unbescholten, offenherzig: also als gespenstisch normal. Es ist zum Verzweifeln – aber vielleicht ist ja alles ganz anders. Auch den Erzähler stimmt Rogers Bericht skeptisch, sein eigener Sohn aber quittiert ihn nüchtern mit dem Prädikat „genau wie bei uns“.

Klas Östergren legt drei schillernde, vertrackte „Porträts“ vor – oder wie die deutsche Übersetzung im Untertitel schreibt: „Novellen“. Das mit einigem Recht, was das „unerhörte Ereignis“ und die mittlere Länge betrifft. Die berichteten Begegnungen wirken rätselhaft und zugleich völlig unspektakulär, aus dieser Spannung beziehen sie ihren Reiz.

Hinter dem Erzähler wird ahnungsweise sein Autor Klas Östergren sichtbar, der in den 1980er-Jahren womöglich selbst im Kungsträdgården abhing, als er in fulminanten, drastisch düsteren Romanen wie Gentleman oder Pflaster die existentielle Leere von Außenseitern in der schwedischen Gesellschaft beschrieb. Ins Licht gerückt, 2002 im Original erschienen, wirkt demgegenüber fast klassisch gelassen und ist ausgesprochen souverän erzählt. Die Figuren indessen, der Ich-Erzähler mit eingeschlossen, scheinen noch immer nicht davor gefeit, in die alten Abgründe zurückzufallen. Die Wände sind besser gepolstert, der Boden aber ist hart geblieben.

Titelbild

Klas Östergren: Ins Licht gerückt. Drei Novellen.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Regine Elsässer.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2015.
286 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783036957210

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