Das Unsagbare mitteilbar machen

Über Marisa Siguans „Schreiben an den Grenzen der Sprache. Studien zu Améry, Kertész, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub“

Von Constanze FiebachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Constanze Fiebach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Inhaltsverzeichnis erscheint unübersichtlich, was bereits auf die Komplexität des behandelten Gegenstandes in Marisa Siguans „Schreiben an den Grenzen der Sprache“ verweist. Es geht um das Unsagbare, das doch gesagt werden musste und auch gesagt wurde: Diktatur- und Lagererfahrungen aus der europäischen Geschichte wurden in literarischen Texten von den hier untersuchten Autorinnen und Autoren, Jean Améry, Imre Kertész, Jorge Semprún, Warlam Schalamow, Herta Müller und Aub, verarbeitet. Das Buch fragt nach dem Wie, danach, mit welchen narrativen Mitteln die erlebten Grenzerfahrungen das Unsagbare mitteilbar machen. Siguan greift zahlreiche Aspekte auf, die bei der Frage nach dem Zusammenhang von Trauma, Schreiben, Erinnern, (Weiter-)Leben und Sprache von Bedeutung sind.

Die verschiedenen Sichtweisen, was Literatur und Schreiben für jeden Einzelnen bedeuten können und bedeutet haben, werden in acht Kapiteln detailliert und nachvollziehbar dargestellt, wobei die Thematik an sich eine gewisse Komplexität mit sich bringt, die das Verstehen nicht immer ganz einfach macht. Besonders interessant ist, dass sich das Buch nicht wie viele andere ausschließlich mit den Texten von Holocaust-Überlebenden befasst, sondern ebenfalls Texte von Überlebenden des Sowjetischen Konzentrations- und Arbeitslagersystems, aus der Zeit des spanischen Bürgerkrieges und Werke über Diktaturerfahrungen nach 1945 untersucht.

Das abschließende Kapitel erläutert anschaulich, welche Gefahren bei einer Untersuchung solcher Texte bestehen und was dieses Buch nicht will: Es geht nicht um eine historische Sinnsuche oder darum, die Texte abschließend zu interpretieren:

Sie sperren sich gegen den Versuch einer historischen Sinngebung, sie legen Wunden bloß, die offen gelassen bleiben sollen um eines gerechten Gedächtnisses willen […] Sie bezeugen unermesslichen Schmerz. Sie dokumentieren auch das utopische Potential der Literatur und der verpassten Möglichkeiten der Geschichte. In dieser Hinsicht sind sie weiterhin provokativ und wehren sich gegen einen Automatismus der Perzeption.

In diesem Sinne ist auch das, was über das Schreiben des eigentlich Unsagbaren hier gesagt wird, schwer in Worte zu fassen. Das Buch ist ergreifend und komplex, schwierig zu lesen und dennoch lesenswert für alle, die auch als Leser bereit sind, an ihre Grenzen zu gehen, wenn sie mit Hilfe der vielen Primärtextbeispiele in die Welt der Autoren eintauchen.

Titelbild

Marisa Siguan: Schreiben an den Grenzen der Sprache. Studien zu Améry, Kertész, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub.
De Gruyter, Berlin, Boston 2014.
351 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110348347

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