Nachgefragt bei Hermeneutikern, Dekonstruktivisten und analytischen Philosophen

Der Literaturwissenschaftler Achim Geisenhanslüke sucht nach der Wahrheit in der Literatur

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fragt man Schulabgänger und Studienanfänger nach besonderen Merkmalen des Faches Deutsch, so erhält man unter anderem zur Antwort, dass es bei Diskussionen im Literaturunterricht kein „richtig“ oder „falsch“, also keine eindeutigen Lösungen gebe, stattdessen komme vor allem der persönliche Standpunkt zur Geltung. Auch wenn in einem guten, didaktisch fundierten Literaturunterricht der Schüler seine individuellen Interpretationen intersubjektiv und textnah gewinnen wird und begründen muss, schreckt eine mögliche Beliebigkeit des deutenden Umgangs mit Literatur Deutschlehrer, Literaturdidaktiker und Literaturwissenschaftler (immer wieder) auf, so dass sie sich auf die Suche nach Argumenten gegen diese Haltung machen. Ein Buch  mit dem Titel Die Wahrheit in der Literatur verspricht Antworten.

Schon Hesiod, betont Achim Geisenhanslüke zu Beginn seiner Abhandlung, wies in der Theogonie dem Dichter die Aufgabe zu, Wahres zu verkünden. Die Wahrheit in der Literatur herauszuarbeiten, kommt dann seit Platon und Aristoteles der Philosophie zu. Die Eignung, Wahrheit repräsentieren zu können, verliert die Literatur allerdings, als Georg Wilhelm Friedrich Hegel den alleinigen Anspruch der Darstellung von absolutem Wissen der Philosophie zuweist. Der Literatur wird aber die Möglichkeit der Darbietung von Wahrheit wieder zugeschrieben, als die Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts der These Hegels vom Absolutheitsanspruch der Philosophie widersprechen. Damit stellt sich die Frage nach der Wahrheit in der Literatur neu.

An diesem Punkt setzt Geisenhanslükes kenntnisreiche und anregende Überblicksstudie ein. Er macht mit dem Aufkommen der analytischen Philosophie und der Phänomenologie zwei wegweisende Richtungen aus, die entscheidenden Einfluss auf die Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsbegriff genommen haben. Ausgehend von den Vorstellungen von Wahrheit fragt Geisenhanslüke nach der Wahrheit der Literatur in den Theorien der Phänomenologie, modernen Hermeneutik, Dekonstruktion und analytischen Philosophie und sucht Antworten bei Edmund Husserl, Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer, Jaques Derrida, Donald Herbert Davidson, Richard Rorty und Stanley Cavell.

Den Ausführungen Geisenhanslükes zu den Wahrheitsbegriffen merkt man unverkennbar an, dass die Studie auf einer Vorlesung basiert. Des Öfteren zitiert er ausführlich zentrale Aussagen der Philosophen über die Wahrheit, um anschließend das Zitierte zum Teil wörtlich zu paraphrasieren und erst dann zu untersuchen. Dieses Vorgehen kann angesichts einer Hörerschaft, die den Redner in der Universität nicht unterbrechen kann, sinnvoll sein, da man so den Anschluss nicht verliert; es stört indes wegen der Redundanzen den Lesefluss und steht im Widerspruch zu dem Vorgehen Geisenhanslükes, die Theorien zwar vorstellen, aber nicht explizit erläutern zu wollen. Er will ja keine Einführung, sondern eine kritische Darstellung der Wahrheitstheorien des 20. Jahrhunderts verfassen, die basale Kenntnisse in Hermeneutik, Dekonstruktion und analytischer Philosophie voraussetzt.

Im Unterschied dazu lesen sich die Analysen und Kritiken Geisenhanslükes an den Vorstellungen von Wahrheit in der Literatur und Philosophie eindrucksvoll. Hier arbeitet er heraus, dass – wenig überraschend – die Ansicht und Darstellung von Wahrheit der Literatur von dem Begriff und der Vorstellung von Wahrheit des Philosophen abhängig sind, aber auch – und das ist ein zentrales Resultat seiner Untersuchungen –, dass keine Theorie so triftig wäre, dass sie von der Literaturwissenschaft (und damit auch von der Literaturdidaktik und vom Deutschunterricht) zum Aufspüren von Wahrheit in der Literatur übernommen werden könne.

Diesem Ergebnis folgt die vorläufige Einsicht, dass aufgrund der theoretischen Divergenzen von Hermeneutik, Dekonstruktion und analytischer Philosophie eine „Versöhnung der Wahrheitsansprüche von Literatur und Philosophie“ in einer „philosophischen Poetik“ nicht möglich zu sein scheint. Denn die Theorien pendeln zwischen der Weigerung, die Literatur überhaupt als Träger von Wahrheit anzuerkennen, der „Unterwerfung der Literatur unter einen philosophischen Wahrheitsbegriff“ durch die Hermeneutik, die aber kaum Bezug zu den Gesetzen der Literatur aufweise, und der „Subversion philosophischer Wahrheitsbegriffe durch die disseminative Sprache der Literatur“ durch die Dekonstruktion. Weder gelingt es der Philosophie, die Wahrheit in der Literatur überzeugend aufzufinden und zu begreifen noch hält ihr eigener Wahrheitsbegriff der Literatur stand.

Im Sinne einer Synthese klaubt Geisenhanslüke die Scherben seiner Analysen auf und versucht das doppelte Verhältnis von Philosophie und Literatur zu beschreiben: „Die Literatur ist weder Lichtung noch Entzug der Wahrheit, sondern beides zugleich: Gegenstand der philosophischen Reflexion, die die Wahrheit über die Literatur aussagen möchte, und ein in der Philosophie unbewusst wirkendes Begehren nach der eigenen Wahrheit, auf die diese über den Umweg der Literatur trifft.“ Literatur wird so zu einem „Fall der philosophischen Wahrheit“ und Philosophie zu einer „Form der Literatur“. Einer philosophischen Poetik müsse dann gelingen, Philosophie und Literatur miteinander zu verbinden oder zu überkreuzen, um so „die Wahrheit der Literatur als jenes Moment kenntlich zu machen, das sich der philosophischen Reflexion zeigt, zugleich aber entzieht, entzieht, zugleich aber zeigt als Zwillingsbild der Wahrheit, der die Philosophie sich zuspricht“. Wie diese philosophische Poetik in die Praxis umgesetzt werden könnte, führt Geisenhanslüke freilich nicht mehr aus.

Der Titel des Buches verspricht die Darstellung der Wahrheit in der Literatur. In den letzten Sätzen gibt Geisenhanslüke zu, dass er unschlüssig ist, ob es außerhalb der Logik überhaupt eine Wahrheit gibt. Insofern ist es stimmig, dass seine Studie keine eindeutige Lösung anbietet, sondern sich als nicht abgeschlossene Suche nach der Wahrheit in der Literatur präsentiert, die zu divergenten Ergebnissen kommt. Mit der ersten, dunkel formulierten Skizzierung einer philosophischen Poetik gibt er sich selbst und anderen den Auftrag, dem doppelten Verhältnis von Literatur und Philosophie nachzugehen und die Suche nach der Wahrheit der Literatur fortzusetzen. Literaturwissenschaft, Literaturdidaktik und Deutschunterricht warten gespannt auf die Ergebnisse der weiteren Recherche.

Titelbild

Achim Geisenhanslüke: Die Wahrheit in der Literatur.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
229 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770558452

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