Ein Leben für die Kunst

Der Dichter und ‚Performance-Poet’ Jürg Halter liest auf Einladung von Juri Steiner beim diesjährigen Ingeborg Bachmann-Preis

Von Yvette RodeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvette Rode

„Der Weg des geringsten Widerstands“, so Jürg Halter im Gespräch mit Andreas Tobler, „war nie meiner. Ich bin wohl auch zu vielseitig und zu schwer einzuordnen, damit man mich breit vermarkten könnte. Ich bleibe auf der Suche, bleibe unsicher; das hält mich wach. Ich bin finanziell nicht abgesichert. Was ich tue, ist existenziell. Ich lebe von der Kunst alleine“. Der Schweizer Gegenwartslyriker ist ein wahrer Idealist, der für die Kunst lebt und sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen kann. Halter wurde am 23. Juni 1980 in Bern geboren und hat nach dem Abitur in seiner Heimatstadt an der Hochschule der Künste studiert. 2005 erschien sein erster Gedichtband Ich habe die Welt berührt, für den er mit dem Buchpreis des Kantons Bern ausgezeichnet wurde. In seinem Heimatland gilt er seitdem als „eine der grossen lyrischen Hoffnungen“. Drei Jahre später veröffentlichte er seinen zweiten Gedichtband Nichts, das mich hält und 2014 Wir fürchten das Ende der Musik. Im selben Jahr erschien zudem Halters Text-Bilder-Buch Hoffentlich verliebe ich mich nicht in dich, eine Gemeinschaftsarbeit mit den Künstlerzwillingen Huber.Huber, bereits 2012 – nach vierjähriger Arbeit – das Kettengedicht Sprechendes Wasser, das er gemeinsam mit dem japanischen Dichter Shuntaro Tanikawa verfasste. Ihr zweites Kettengedicht, dessen Titel und Erscheinungstermin bislang noch nicht feststehen, haben sie innerhalb von nur fünf Tagen geschrieben.

Bis heute wurde Halter mit mehreren Preisen und Aufenthaltsstipendien ausgezeichnet, beispielsweise mit einem Stipendium des LCB Berlin, dem Buchpreis Stadt Bern, dem Landis & Gyr London Stipendium, dem Buchpreis Kanton Bern, dem Songbird Musikpreis, dem American National Hip Hop Slam Champion und dem Pro Helvetia Werkbeitrag.

Er arbeitet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit als Dolmetscher und übersetzte Gedichte ins Englische, Japanische, Niederländische, Französische, Italienische, Polnische, Tschechische und Russische. In seinem Heimatland ist er außerdem unter dem Pseudonym Kutti MC als Rapper bekannt – mit den Alben Jugend & Kultur, Dark Angel, Sunne, Freischwimmer und Rebellion Alltag.

Inspiriert wurde Halter von Künstlern, die „Risiken eingegangen sind, die sich immer wieder erneuert haben und nicht nur harmlose Variationen ihrer selbst anboten“, wie Marcel Duchamp, Meret Oppenheim, Bob Dylan, der Künstler und Verleger Johannes Gachnang, der Computerkünstler Yves Netzhammer, Leonard Cohen, Daniil Charms – oder von all jenen Dichtern und Musikern, die „kontrovers geblieben sind“, wie Rolf Dieter Brinkmann, so Halter im Gespräch mit Andreas Topler auf migros-kulturproduzent.ch. Laut Halter handelt es sich bei ihnen um „Freigeister, die sich nicht auf eine Idee reduzieren lassen“. Auch Halter ist ein Freigeist, der sich nicht auf ein Genre festlegt. Er widmet sich nicht nur der Lyrik, sondern auch der Prosa: Momentan schreibt er an seinem ersten Roman, der im Herbst veröffentlicht werden soll.

Halter verzichtet bei den meisten seiner Gedichte auf traditionelle Metren oder Reime. Stattdessen sind sie in Versgruppen unterschiedlicher Länge arrangiert. Häufig findet man Staccatosätze, Enjambements und Wiederholungen, wie im folgenden Auszug aus Ich habe die Welt berührt:

Ich bin ein schwarzer, in die Mitte des Denkens
fliehender Punkt
Ich bin ein schwarzer, in die Mitte des Denkens fliehender
Punkt
und bestehe in der Vernunft der Buntheit der Welt der
ich nicht entkomm
Ich bin gestoßen aus der trockenen, kalten Erde
geboren unter einen dunkeln, hinfälligen Stern
ich wurde aus der finster leuchtenden Erde gehoben
Ich sitze gebeugt auf einem Stein im Feld
das Zirpen der Grillen
Aphorismen über den Tod, doch –

In vielen von Halters Gedichten und Songtexten geht es um Selbstfindung, Identität und das Leben im 21. Jahrhundert. Einige sind zudem gesellschaftskritisch, etwa „Grund zum Optimismus“aus Wir fürchten das Ende der Musik, in dem er die Ignoranz der Menschen angesichts der globalen Erderwärmung und der Atombombenindustrie thematisiert:

Es gibt so Tage,
da möchten wir uns selbst
einfach überbrücken.
Wir liegen im Bett und finden Schlaf, egal wo,
aber immer in unmittelbarer Nähe einer Atombombe.
Wir wissen: Die Sonne bläht sich weiter auf.

Auf Einladung von Juri Steiner liest Halter bei dem diesjährigen Ingeborg Bachmann-Preis. Man darf gespannt sein, ob er rappt, Prosa oder Lyrik liest – aber eines ist sicher: den Weg des geringsten Widerstands wird er nicht gehen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen