Nerven zwischen den Nationen: Das Leben des Dr. Shimamura

Christine Wunnicke ergründet die Entwicklung der Psychopathologie im interkulturellen Spannungsfeld

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob eines Menschen Psychopathologie in Bezug zu seiner kulturellen Sozialisierung steht oder nur sein ganz persönlicher Irrsinn sein mag, bleibt dem Gegenüber meist ein Rätsel. Christine Wunnickes neue Arbeit „Der Fuchs und Dr. Shimamura“ scheint diesem Motto ebenso zu entsprechen wie ihre frühere Novelle „Nagasaki, ca. 1642“, die von der Begegnung eines Samurai mit einem holländischen Sprachgenie handelt.

Die Gründerzeit der Psychopathologie

Bei „Dr. Shimamura“ geht es ebenfalls um das Zusammentreffen der europäischen Kultur mit der japanischen, genauer gesagt um die Übermittlung seelenkundlichen Wissens um 1900. Die europäischen Namen aus der Gründungsphase von Neurologie und Psychiatrie sind mehr oder weniger bekannt: Wilhelm Griesinger (1817–1868), Jean-Martin Charcot (1925–1993), Ernst von Leyden (1832–1910), Josef Breuer (1842–1925), Hermann Ebbinghaus (1850–1909), Sigmund Freud (1856–1939), Emil Kraepelin (1856–1925) und Georges Gilles de la Tourette (1857–1904). Über japanische Forscher wie Hajime Sakaki (1857–1897), der von 1882 bis 1886 in Deutschland studierte und nach seiner Rückkehr von dort als erster Professor die neue psychiatrische Sektion an der − damals noch − Kaiserlichen Universität Tokyo leitete, oder Shûzô Kure (1865–1932), seinen Nachfolger, weiß man eher wenig bis gar nichts. Der historisch interessierte Leser findet entlegenere Studien, in denen Informationen enthalten sind. Eine Quelle zu Implementierung und Bedeutung psychiatrischer Kliniken in Japan von Yasuo Okada wird eingangs angeführt.

Dass ein Shunichi Shimamura (1862–1923) Gelehrter aus diesem Umfeld war und in der Realität existiert hat, ist für die Lektüre der Wunnicke-Version zunächst unwichtig. Der Text beabsichtigt keine Rekonstruktion der medizingeschichtlichen Moderne, sondern die subtil-ironische Schilderung eines gescheiterten Lebens und auf einer weiteren Ebene den Bericht eines unvollkommenen Kulturaustauschs, welcher jedoch nicht unbedingt der Unvereinbarkeit kultureller Muster zugeschrieben wird, sondern eher der individuellen Begrenztheit der jeweiligen Landesvertreter oder dem hierarchisch geprägten Verständnis von Humor und Wissenschaft jener Dekaden. Auch darf ein Geist nicht fehlen: Im Fall Shimamura betritt der ostasiatische Zauberfuchs die Bühne. Er sorgt bei diversen nervenärztlichen Exorzierungsversuchen für spektakuläre Szenen sowie für freizügige Einblicke beinahe bis unter die Leibwäsche des attraktiven Mädchens Kiyo und reist dann sogar nach Europa, wo er als steter Begleiter des Japaners in Paris und Wien zu einiger Berühmtheit gelangt.

Die erdichtete Lebensgeschichte des sanften Nervenarztes fügt sich in eine weltliterarische Reihe von Erzählungen exzentrischer Gelehrter. Manchen Individuen aus der Moderne um 1900 wollte die Anpassungsleistung an ein zunehmend forderndes Umfeld nicht gelingen, sie vermochten kaum ihre Rolle als Leistungsträger für Kaiser oder Nation zu erfüllen und scheiterten in den Augen der paternalistischen Leistungsgesellschaft als Wissenschaftler schließlich ebenso wie als Familienmensch – wobei ihr Versagen als latente Reifungsverweigerung in einer freudlosen, reglementierten, sinnenfeindlichen Moderne betrachtet werden kann.

Auf der Suche nach dem Weichen in einer harten Welt

Shunichi Shimamura wurde in eine Familie geboren, die dem Sohn eine Laufbahn als ‚großer Mann‘ zugedacht hatte. Diesen Weg beschreitet der junge Shimamura schon während seines Studiums der Nervenheilkunde etwas zögerlich. Ihn kennzeichnen eine gewisse Bequemlichkeit, Egozentrik, Labilität, die Neigung zu depressiver Verstimmtheit, soziophobische Anwandlungen und ein Hang zur Verdrängung, die man abhängig vom Standpunkt nur als Charakterschwäche oder eben als pathologisches Geschehen, das heißt im Speziellen als neurotische Reaktion bewerten kann.

Über den emeritierten Shimamura, der lange als Professor an der präfekturalen medizinischen Hochschule zu Kyoto tätig war, gibt es zu berichten, dass er nach seiner Rückkehr aus Europa 1894, wo er Breuer, Freud und Charcot traf, wissenschaftlich kaum mehr aktiv war und aufgrund der Erfindung gepolsterter Wände für die Geisteskranken als einzigen Beitrag zu seinem Fach einen gewissen Ruf erlangt hatte. Fiebrig und gehüllt in einen abgetragenen Morgenmantel wie ein zweiter Oblomov, eingesponnen in eine gepflegte Unlust, nach dem Rückzug ins Private umsorgt von den vier Frauen seiner Familie, gönnt sich der Professor ab und an ein wenig pharmakologische Entspannung mit Scopolamin, denkt an die einzige Passion seines Lebens, an das Fuchsmädchen von Shimane, und betrachtet zuweilen altes Spielzeug, Symbol für das Mädchen − und für die eigene empfindsame „Mädchenseele“.

Ein dergestalt eingeschränkter Mann bewältigt dennoch den Lebenskampf, wenn auch nicht immer zur Freude anderer. Die Gesellschaftsordnung, die jeden Mann besserer Familie da noch trägt, wo er sichtlich versagt, ebenso die wissenschaftliche Welt, die ihre Zunft schützt, selbst wenn ein Mitglied schlechter als mittelmäßig ist, Frauen, die im Mann mit verletzlichen Seiten einen vermeintlichen Seelengefährten zu finden glauben, ermöglichen dem Nervenarzt eine Existenz, wenig spektakulär zwar, aber bis zum Ende durchgestanden – im Vergessen und mit einem gnädigen Tod.

Der „Fuchsgähst“  

Trübe und traurig ist die Geschichte des intensiv mit seinen Patienten fühlenden hypersensiblen Professors, der – den Gedächtnisforschungspionier Ebbinghaus zum Vorbild – Ambitionen auf dem Gebiet der Erinnerungsforschung hat, jedoch keineswegs: Selten wurde das schwierige Dasein eines Forschers so unterhaltsam dargeboten wie der Fall des Dr. Shimamura. Seine Person erinnert an Jean Pauls abnormen Dr. Katzenberger, den einsamen Gelehrten mit seiner kulinarischen Vorliebe für Spinnentiere und der wissenschaftlichen Begeisterung für Missbildungen, oder an die Protagonisten des japanischen Autors Uchida Hyakken, die ebenfalls unter Fuchsverhexungen und psychischen Nöten leiden.

Als der junge Arzt 1891 auf Geheiß des gestrengen Mentors und Schwiegervaters Sakaki in der Präfektur Shimane zusammen mit einem munteren Studenten Feldforschungen zu den psychischen Phänomenen der japanischen Fuchsbesessenheit unternimmt, wird Shimamuras schwächliche Konstitution auf eine extreme Probe gestellt. Seine Toleranz gegenüber der abergläubischen einheimischen Bevölkerung ist eher gering. Besonders graust es ihn vor den sogenannten „Gefäßen“, die sich anbieten, exorzierte Füchse in sich aufzunehmen. Da hilft ihm selbst Griesingers „Pathologie der psychischen Krankheiten“, die er in seiner Arzttasche trägt, nicht viel.

In Japan leidet er an der Rückständigkeit der Bevölkerung, in Europa spürt er die Arroganz der Medizinerzunft, die ihn als Orientalen nicht ernst nehmen will. Zufällig und unfreiwillig gerät der Empfindliche hier ebenso in derbe Situationen, in denen er sich dann nolens volens mitreißen lässt: „So hatte er eine ganze lange Wiener Faschingsnacht vergeudet, in einem Saal voller Unrat und buntem Papier. Vielleicht war er ärztlich tätig geworden, wenn jemandes Magen oder Nervenkostüm von all dem Gewalze zu revoltieren begann; aber vielleicht auch nicht.“ Man macht sich auf seine Kosten über ihn und seinen Fuchs – in Wienerischem Dialekt „Fuchsgähst“ − lustig, enthüllt jedoch dabei die eigene Narretei, beispielsweise wenn die Nervenheilkunde in Paris als öffentliches Spektakel dargeboten wird oder „Charcot ihm im Lichtbildatelier exklusiv die Hysterie“ vortanzt. Der deutschaffine Shimamura sucht Zuflucht bei Reclam-Bändchen und der deutschen Sprache, wenn die Franzosen ihm zu wild agieren. Und dann die völlige Düpierung des Japaners, als ihn Charcot öffentlich zum ersten Fall männlicher Hysterie erklärt!

Die Moderne als irres Gesamtgeschehen

Freilich ist Shimamura auch nicht vor dem Spott seiner Landsleute sicher, die den blamablen Artikel über seinen Auftritt in der Heimat verbreiten. Der Text deutet an, dass gewisse akademische Richtungen selten die feinsten Charaktere hervorbringen, in erster Linie die Wirtschaftswissenschaft nebst Jura und ihre schmerzbefreiten Absolventen, immer gern bereit, Konkurrenten anzuschwärzen oder aus der Zurückhaltung anderer Profit zu schlagen. Wunnickes aktuelles Werk stellt insofern ein amüsantes Lehrstück für die Absurdität des Daseins und die Sinnlosigkeit aller Bemühungen dar. Der „Doktor“ beinhaltet zudem ein raffiniertes Spiel mit geschichtlichen Zusammenhängen, mit Wahrnehmungen menschlicher Motivationen, mit seelischen Vorgängen und schicksalhaft-seltsamen Begegnungen zwischen Ost und West.

Ihrem Dr. Shimamura wird wohl kein Ehrenplatz in dieser durch den Zeitgeist (hier ist zunächst nicht der Fuchs gemeint) geprägten Entdeckerphase der Psychopathologie zuteil. Sein Leben als mediokrer Wissenschaftler, als kranker Gelehrter, Gedächtnisforscher und Meister des Vergessens – auch dank der aufwendig zelebrierten Opferbereitschaft der weiblichen Familienmitglieder (Stichwort: passive Aggression) – ist am Ende jedoch, zumindest für ihn, nicht nur tragisch: Er besitzt die nötige Distanz zu den Dingen, sei diese nun seiner nervenärztlichen Bildung oder auch nur den Limitationen der eigenen neurasthenischen Verfassung geschuldet. 

Link zur medizingeschichtlichen Erwähnung des Nervenarztes Shimamura:

[The life of Prof. Dr. Shun-ichi Shimamura (1862–1923). A distinguished psychiatrist of misfortune] [Article in Japanese]. Okada Y. Nihon Ishigaku Zasshi. 1992 Dec; 39(4):603–36.

Titelbild

Christine Wunnicke: Der Fuchs und Dr. Shimamura. Roman.
Berenberg Verlag, Berlin 2015.
144 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783937834764

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