Selbstschöpfung und Selbstvernichtung

Imre Kertész setzt einen Schlussstein zu seinem Werk und Irène Heidelberger-Leonard unterzieht es einer Gesamtschau

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2013 erschien unter dem Titel „Letzte Einkehr“ ein Band mit Tagebuchaufzeichnungen des ungarischen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész aus den Jahren 2001 bis 2009. Ein zentraler, in dem Buch immer wieder verhandelter Gedanke galt der Konzeption und dem Entstehen eines Tagebuchromans, dem der gleiche Titel zugedacht war: „Letzte Einkehr“. Was sich dort noch zwischen Abbruch und (unabgeschlossener) Vollendung befand, scheint sich nun doch noch verwirklicht zu haben: mit dem nunmehrigen Erscheinen eines „Tagebuchromans“ mit dem Titel „Letzte Einkehr“. Der Klappentext des Verlags nennt es ein „letztes, radikal persönliches Buch“. Und in der Tat scheint es so etwas wie einen Schlussstein des von Kertész in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder mit autofiktionalen Werken verfolgten Projekts einer Literatur nach Auschwitz, nach dem Totalitarismus setzen zu wollen, das heißt einer Literatur unter den Bedingungen einer Kultur, die den Menschen unausweichlich in eine Situation der Lüge und der „Schicksallosigkeit“ versetzt. Mit dem Verbrechen des Holocaust, mit der sozialistischen Diktatur und schließlich auch mit der Krise der westlichen Zivilisation gelangt für Kertész das Individuum – und so letztlich auch der Autor selbst – an ein Ende.

Das nun erschienene etwa 350-seitige Taschenbuch „Letzte Einkehr“ bildet zunächst inhaltlich eine konzentrierte und weitgehend unter Aussparung von konkreten Datumsangaben bearbeitete Fassung des ebenso betitelten Tagebuchwerks. Mit „Offenen Geheimnissen“, wie Kertész den ersten größeren Abschnitt seiner Aufzeichnungen betitelt, setzt der Tagebuchroman ein. Der zweite Abschnitt ist mit dem Titel „Garten der Trivialitäten“ überschrieben. Verbunden und abgeschlossen werden die beiden größeren Abschnitte des Buches durch zwei stärker fiktionalisierte Romanfragmente, die wiederum den Titel „Letzte Einkehr“ teilen: „Erster Anlauf“ und „Zweiter Anlauf“. Den Abschluss bilden einige aphoristische Notate unter der bezeichnenden Überschrift „Exit“.

Ganz analog zur Tagebuchpublikation des Jahres 2013 verhandeln die nun kondensierten Einträge des Autors dessen Gedanken und Erfahrungen aus einem Zeitraum, in den für Kertész etwa die Verleihung des Nobelpreises fielen sowie die Entstehung von Büchern wie „Liquidation“ (2003 erschienen) und „Dossier K.“ (2005). Hier setzt sich der Autor etwa mit seiner ungarischen Heimat auseinander, an deren antisemitischen und nationalistischen Tendenzen er leidet und die er in Richtung Berlin verlässt. Doch über diesen ungarischen Kontext geht seine Kritik an einer Gegenwart, deren freiheitlicher Demokratie Kertész generell Prinzipienlosigkeit zum Vorwurf macht, durchaus hinaus. Die Ereignisse in der Folge des 11. September 2001 werden ihm zu einem Fanal, an dem sich die Feigheit des Westens in seiner mangelnden Bereitschaft zeigt, seine Freiheit entschlossen zu verteidigen. Kertész wendet sich so nicht nur gegen ein sich in Antiamerikanismus und Israelkritik hüllendes antisemitisches und antiwestliches Ressentiment, sondern nicht zuletzt auch gegen die Fiktion einer multikulturellen Gesellschaft und einer aus seiner Sicht verfehlten Einwanderungspolitik: „Europa wird bald zugrunde gehen an seinem geistigen Liberalismus, der sich als naiv und selbstmörderisch erwiesen hat.“ In Berlin gefällt es ihm im Grunde aber dennoch: „Jetzt lebe ich zum ersten Mal in einer Welt, die als wirklich, als echt zu bezeichnen ist. Auch sie ist absurd, aber wenigstens ist auch die Absurdität wirklich.“

In der Bearbeitung konzentriert Kertész seine Aufzeichnungen, die dadurch eine den Leser einfangende, ja verstörende Schärfe gewinnen. Mehr noch als für die kulturkritischen und pessimistischen Aussagen über die Gesellschaft im Ganzen gilt dies für sein persönliches, existenzielles Empfinden. Das Alter und der körperliche Verfall machen Kertész zu schaffen, jedoch auch immer wiederkehrende Zweifel am eigenen Werk. Hier ist die Auseinandersetzung mit literarischen Fixsternen oder von ihm neu entdeckten Autoren wichtig – Franz Kafka, Thomas Mann, Albert Camus, Paul Celan, Thomas Bernhard, Jean Améry, W. G. Sebald – sowie der Kontakt zu engen Freunden wie György Ligeti oder Siegfried Unseld. Beide sind zwischenzeitlich leider verstorben. Literarisch kann Kertész so zwar zu dem Schluss kommen, der „Letzten Einkehr“ den Rang einer Vollendung des eigenen Werks zuzuschreiben, zugleich aber feststellen: „Auch ich werde sterben, und meine Werke werden verschwinden; es hat sich gelohnt, sie zu schaffen, aber es ist überflüssig, sich ihretwegen Sorgen zu machen. Sie leben ihr eigenartiges Leben, wie und solange sie es können.“

Dies gilt auch für die beiden den Rahmen des Tagebuchs überschreitenden „Anläufe“ zu einer „Letzten Einkehr“, die Kertész als Romanfragmente mit seinen Tagebuchaufzeichnungen zusammenführt. Diese beiden Texte wurden von Adan Kovacsics und Ilma Rakusa ins Deutsche übersetzt; letzterer Beitrag war bereits zu Kertészʼ 80. Geburtstag im Jahr 2009 in der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckt worden und spielte als Bezugspunkt für die Tagebuchaufzeichnungen der Jahre bis 2009 eine entscheidende Rolle. Hier dient Kertész eine Figur namens Dr. Sonderberg – analog zu „Dossier K.“ – als ein literarisches Alter ego der Reflexion über die alttestamentliche Geschichte von Lot, dem einzigen Gerechten der Stadt Sodom. Was aber ist die Schuld der Sodomiter? Und wie konnte Lot unter ihnen unschuldig bleiben? Die Begriffe und Konzepte von Schuld und Unschuld, so Dr. Sonderberg, verlören im Blick unserer Gegenwart ihren Sinn. Auch das autofiktional erzeugte Selbst des Autors wird in dieser Verstrickung fragwürdig.

„In dieser Spannung zwischen Selbstschöpfung und Selbstvernichtung liegt das Geheimnis von Kertészʼ Leben als Werk“, stellt auch Irène Heidelberger-Leonard fest. Und dass der Tagebuchroman „Letzte Einkehr“ dieses Spannungsverhältnis auf eine neue Spitze treibt, wird man gewiss hinzusetzen dürfen. Die jüngst erschienene Monografie der in England lebenden Literaturwissenschaftlerin, die den Namen des Autors zum Titel trägt: „Imre Kertész. Leben und Werk“, vermochte dessen zuletzt erschienenes Werk nämlich nicht mehr zu berücksichtigen. Da es nun jedoch nahezu gleichzeitig erschienen ist, drängt es sich als begleitende Lektüre geradezu auf; das schmale Bändchen lohnt allerdings auch als eigenständige Publikation der Beachtung.

Heidelberger-Leonard präsentiert Leben und Werk des ungarischen Autors in sieben konzisen Kapiteln von bemerkenswerter Dichte. Obzwar es beileibe nicht das erste in deutscher Sprache erschienene Buch über Kertész ist, von zahlreichen Zeitungsartikeln und Zeitschriftenbeiträgen ganz abgesehen, füllt es, indem es Kertészʼ gesamtes Werk – mit der angesprochenen Ausnahme – abdeckt, eine Lücke. Dabei widmet sich das erste Kapitel ganz der Biografie des 1929 geborenen Autors bis hin ins Jahr 2014, da er, der zwischen 2003 und 2012 in Berlin gelebt und von dort die ungarische Regierung unter Victor Orbán immer wieder scharf angegriffen hatte, sehr zum Entsetzen der Kritiker der Fidesz-Regierung, aus den Händen von Staatspräsident Áder den Stephansorden, die erst 2011 wiedererrichtete höchste Auszeichnung des ungarischen Staates, entgegennahm. Kertész selbst sprach vom „Geist der Versöhnung“, in dem er den Orden entgegennehme.

Der weitaus größere Teil des Buches konzentriert sich dann aber auf das Werk des Autors, welches Heidelberger-Leonard in sechs chronologisch geordneten Abschnitten in den Blick nimmt. Angefangen mit dem in den 1950er-Jahren geschriebenen bemerkenswerten Text „Ich, der Henker“ – über das Wesen von Opferschaft, und das nicht etwa aus der Perspektive des Opfers, sondern der des Täters erzählt. Dabei wird der Gegensatz von Opfer und Täter in einem Maße unterlaufen, das einerseits die Schärfe von Kertészʼ Blick auf den Menschen unter den Bedingungen der Diktatur erhellt, andererseits dann auf spätere Werke wie den berühmten „Roman eines Schicksallosen“ vorausweist. Für Heidelberger-Leonard wird dieser Blick auf die Situation des Täters zum Leitfaden ihres Parforceritts durch Kertészʼ Œuvre, der schließlich mit einem Kapitel zu den Tagebüchern unter dem Titel „Letzte Einkehr“ endet.

Gewiss würde man sich als Leser an mancher Stelle ergiebigere Ausführungen wünschen, doch ihr kundiger Blick auf die inneren Zusammenhänge des Werks und seine Verbindungen und Anregungen durch andere Autoren ist für jede Kertész-Lektüre sehr bereichernd. Sie resümiert so „die Geschichte eines Schriftstellers, der sein Leben in Schrift verwandelt, sich in jedem Werk neu erschafft und damit die erfahrene Katastrophe zugleich bannt und steigert“. Der Weg zwischen Biografik einerseits und literaturwissenschaftlicher Analyse eines stark autofiktional geprägten schriftstellerischen Werks führt nicht immer über sicheres Terrain. Abgesehen von der konzisen Darstellung ihres Themas geht Heidelberger-Leonard allerdings weit über biografische oder realhistorische Bezüge hinaus, worin ein großes Verdienst liegt, zumal angesichts des Blicks in Abgründe, die sich bei Kertész stets auftun, lese man ihn unmittelbar oder in wissenschaftlicher Vermittlung.

Titelbild

Irene Heidelberger-Leonard: Imre Kertész. Leben und Werk.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
191 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783835316423

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Imre Kertész: Letzte Einkehr. Ein Tagebuchroman.
Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
347 Seiten, 10,99 EUR.
ISBN-13: 9783499269103

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